Die Emanzipation der Irene Rakowitz

Von wegen Schicksal Der damals viel diskutierte Film von Helga Reidemeister kann wieder gesehen werden. Er ist ein Dokument einer gesellschaftlichen und persönlichen Emanzipation

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Irene Rakowitz ist eine geschiedene Sozialhilfeempfängerin mit vier Kindern. Sie gehört also zu den Menschen, die heute höchstens bei irgendwelchen Fernsehsendungen am Mittag eingeladen werden, um sich vor der gnadenlosen Fernsehmeute zum Gespött zu machen. Doch Ende der 70er Jahre konnte eine Frau in der Position von Irene Rakowitz zur Hauptfigur eines Filmes werden, der sie Ernst nimmt. Es war die Geschichte der Subjektwerdung einer Frau aus der Arbeiter_innenklasse, für die das Schicksal nur Hausarbeit, Gehorchen und wenn die Kinder aus dem Haus sind, ans Sterben denken, bereithielt. So sah es der Mann von Irene Rakowitz, ein Bergmann, der nach einem Unfall in Frührente war. So sahen es ihre drei Töchter und so sahen die staatlichen Gewalten und die sogenannte öffentliche Meinung. Doch Irene Rakowitz entlarvte die Parolen ihres Mannes vom Schicksal und sprach von den gesellschaftlichen Bedingungen, die dafür sorgten, dass die Ehe zu einer privaten Hölle vor allem für die Frauen wurde. Die davon profitierten - in der Regel die Männer - sprechen vom Schicksal, wenn sie ihre Privilegien verteidigen. Wie heute die Anhänger des Kapitalismus von der Natur des Menschen sprechen, wenn sie die Ausbeuterordnung verteidigen. Irene Rakowitz aber will nichts mehr hören von solchen Verteidigern der alten Ordnung. „Von wegen Schicksal“ schleudert sie ihnen entgegen. So lautet der Titel des Filmes, der die Frau für kurze Zeit bekannt machte. Der Film war die Abschlussarbeit der Regisseurin Helga Reidemeister an der Berliner Filmhochschule.

Dokument eines gesellschaftlichen Aufbruchs

Er wurde nur selten gezeigt und war schon lange vergessen. Kürzlich wurde er rekonstruiert und im Berliner Arsenalkino nach vier Jahrzehnten wieder gezeigt. Er hat seine Aktualität nicht verloren. Der Film war Dokument des allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchs, der auch Menschen wie Irene Rakowitz beeinflusste. Sie lebte im Märkischen Viertel, einem Baumonster im Westberlin der 60er Jahre. Viele Menschen aus der Arbeiter_innenklasse lebten dort, darunter auch engagierte Kommunist_innen aus dem Wedding, die ins Märkische Viertel umgesiedelt worden waren. Sie gründeten Initiativen, die sich dagegen wehrten, dass der neugegründete Stadtteil verkehrsmäßig vom Rest der Stadt abgeschnitten war und es anfangs dort kaum Läden und Schulen gab. Ende der 60er Jahre begannen sich auch linke Studierende für den Stadtteil zu interessieren. Gemeindenahe Sozialarbeit wurde dort 1968 unter Anderem von der Journalistin Ulrike Meinhof geleistet. In dem Spielfilm „Der lange Jammer“ wird gezeigt, wie sich die Mieter_innenproteste auf die Bewohner_innen des Märkischen Viertels auswirkten. Eine zentrale Rolle nimmt dort ein Bewohner ein, der sein Kind in einen linken Kinderladen gegeben hat. Der Film zeigt die Schwierigkeiten des Mannes gezeigt, seine eigene patriarchale Rolle in Frage zu stellen. Helge Reidemeister arbeitete zu jener Zeit neben ihren Filmstudium als Sozialarbeiterin im Märkischen Viertel und lernte dort Irene Rakowitz kennen, die sich in den politischen Gruppen im Stadtteil engagierte. Der Film ist so ein Dokument einer persönlichen und politischen Emanzipation in Zeiten des politischen Aufbruchs. Durch ihn wurde Rakowitz Emanzipation erst möglich. Sie hinterfragte den Staat, die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft und die patriarchale Ehe. Sie wollte den Film auch machen, weil das Private nun für sie politisch war. Damit stellte sie sich einer Vorstellung entgegen, nachder das, was in den eigenen vier Wänden geschieht, niemanden etwas angeht. Wie schwer die Kinder von sich umgewöhnten, wird in den Anfangsszenen des Films deutlich. Wie schwer es Rakowitz selbst fällt, die theoretisch propagierten, modernen Erziehungsmethoden anzuwenden, wird ebenfalls deutlich. Sie schreit die Kinder an, zeigt sich autoritär und droht mit Prügel. Es ist gerade die Stärke des Films, dass er keine Held_innen sondern Menschen zeigt, die sich im Emanzipationsprozess auch in Widersprüche verstricken.

Es gibt Szenen, in denen diese Widersprüche so deutlich werden, dass es fast zum Knall kommt. Dazu gehören sicher die reaktionären Sprüche, die die heranwachsenden Töchter über ihre Mutter sagen. Sie werfen ihr vor, faul zu sein und statt zu arbeiten, Anerkennung in ihren Reden vor linken Studenten suchen. Sie solle lieber ihren dicken Arsch ins Auto schieben um zur Arbeit statt zur Demo zu fahren, meint eine der Töchter. Sie nehmen ihr übel, nicht mehr die brave Hausfrau spielen zu wollen, die das Essen warm hält. Besonders sauer sind sie über den Arbeitsplan, den die Mutter erstellt hat und in den jedes der Kinder eintragen soll, wie es sich bei der Hausarbeit beteiligt. Für eine der Töchter sind das Zustände wie in der DDR. Irene Rakowitz aber stellt zum Schluss beim Bügeln Fragen, die heute in der Debatte zur Care-Revolution wieder verdammt aktuell sind. Sie fragt sich, wieso sie für die jahrelange Hausarbeit keinerlei Lohn bekommt, wieso sie keine Rentenansprüche und damit noch weniger Rechte als ein Dienstmädchen hat. Solche Fragen stellte sie vor dem Hintergrund der damaligen Debatten um Patriarchat und Kapitalismus.

Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.

Der linke politische Hintergrund wird im Film nur angedeutet, am deutlichsten in den Vorwürfen der Töchter. Mehrmals ist im Film die Melodie von Rakowitz Lieblingssong, dem „Lied von der Moldau“ von Berthold Brecht zu hören.

Dort heißt es im Refrain:

„Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.“

Was ist aus den Hoffnungen dieser Frau geworden? Hat sie sich später weiter gesellschaftlich engagiert oder wurde sie zurück in den bürgerlichen Alltag gepresst? Sie müsste heute 84 Jahre alt sein, wenn sie noch lebt? Und wie haben die Kinder, die heute um die 50 Jahre sein müssten, später aufgenommen, dass sie durch ihre Mutter zu Darsteller_innen in einen Film wurden, in dem es um Dinge ging, die gemeinhin als privat bezeichnet werden? Leider finden sich auf diese Fragen in den Artikeln über den Film und auch im Internet keine Antworten. Dabei sollte doch die erfreuliche Wiederentdeckung des Films eine Gelegenheit sein, nicht nur die Regisseurin sondern auch die Protagonist_inen des Films wiederzuentdecken.

"Ich bin dem Prinzip Hoffnung verpflichtet. Ich brauche das Prinzip Hoffnung selber. Ich suche in meinen Filmen Leute, die etwas Widerständiges denken und leben. Ich tu's für mich, damit ich überleben kann“, wird Reidemeister in einen Erinnerungsartikel zu ihren 65ten Geburtstag zitiert. Zehn Jahre später fallen die Ehrungen zum 75ten noch größer aus und sicher sind sie auch verdient. Doch vielleicht könnte dann auch jemand fragen, was aus Irene Rakowitz und ihren Kindern wurde. Nach der Filmvorführung im Arsenal war das leider nicht mehr möglich. Beim Weinempfang im Anschluss, wo sie eigentlich einige Fragen beantworten wollte, war Reidemeister nicht auffindbar. Ob es noch eine Spätfolge der großen Kontroverse ist, die in Dokumentarfilmkreisen um diesen Film geführt wurde? Der Publizist Klaus Kreimeier gab zu Beginn der Veranstaltung eine kurze Darstellung. Es ging um die Rolle der Frau hinter der Kamera in einen Dokumentarfilm. Reidemeister verwerfe den Anspruch der Neutralität und griffe selber subjektiv in das Geschehen ein, stelle provokative Fragen und spitzte zu. Ihr wurde damals auch von engagierten Kolleg_innen vorgeworfen, sich selber vor dem Hintergrund der Arbeiter_innenfamilie inszeniert zu haben. Es wäre auch interessant zu erfahren, wie Reidemeister heute diese Kritik beurteilt. Auch dazu hat sie bei der Vorführung nichts gesagt. Aber es gibt sicher noch Gelegenheit, sie zu befragen. Am 1. Februar beginnt im Bundesplatz-Kino eine Werkschau mit Filmen Helga Reidemeisters (siehe auch www.bundesplatz-kino.de/index.php?p=a)

Link zum Film:

http://www.filmportal.de/film/von-wegen-schicksal_a21411000284476d90fac37ec58eb937

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Geschrieben von

Peter Nowak

lesender arbeiter

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