Über die Abwertung von armen Menschen

Sozialchauinismus Ein Bündnis antifaschistischer und zivilgesellschaftlicher Gruppen organisiert Aktionswochen gegen Sozialchauvinismus und greift damit auf einen Begriff zurück, der schon im linken Flügel der Arbeiter*innenbewegung diskutiert wurde

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Sie können jederzeit gekündigt werden und fremde Menschen können unangekündigt in die eigenen Räume eindringen, weil sie einen Generalschlüssel haben. Davon sind Hunderttausende Menschen konfrontiert, die in Einrichtungen der Wohnungs- und Obdachlosenhilfe leben. Davon berichteten mehrere Betroffene am vergangenen Samstag auf einer Veranstaltung in der Remise in Berlin-Lichtenberg. Auf der Veranstaltung kamen von wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffene Menschen zu Wort. Der Referent selber war lange obdachlos und auch im Publikum saßen mehrere der Menschen, die klar sagten, in den Einrichtungen keine Rechte haben.. An diesen Abend wurde eindrücklich gezeigt, wo die vielbeschworenen Menschen auch in Deutschland enden. Es war auch ein gelungener Auftakt der Aktionswoche gegen Sozialchauvinismus in Lichtenberg. Dazu ruft ein Bündnis antifaschistischer und zivilgesellschaftlicher Gruppen auf. Sie finden an unterschiedlichen Orten in dem Stadtteil Lichtenberg statt, der in den 1990er Jahren den nicht unberechtigten Ruf hatte, ein rechter Bezirk zu sein. Dazu hatte auch ein den frühen 1990er Jahren von Neonazis besetztes Haus in der Lichtenberger Weitlingstraße begetragen. Erfreulich zu sehen, dass es in dem Kiez mittlerweile viele nichtrechte und explizit linke Orte gibt, an denen die verschiedenen Veranstaltungen der Aktionswoche stattfinden.

Was ist Sozialchauvinismus?

Bis zum 15. Dezember wird es in acht Veranstaltungen in unterschiedlichen Orten um die Abwertung von Menschen auf Grund ihrer vermeintlich sozialökonomisch schwächeren Position gehen. Dieses Verhalten wird unter den Begriff Sozialchauvinismus gefasst. Der Begriff wurde im linken Flügel der Arbeiter*innenbewegung bereits vor über 100 Jahren verwendet. Lenin bezeichnete den rechten Flügel der Sozialdemokrat*innen, die sich mit der Bourgoisie verbündeten und auch den Kolonialismus verteidigten, als Sozialchauvinist*innen. Vor mehr als 10 Jahren kam der Begriff auch in der außerparlamentarischen Linken an. 2011 hatte sich in Berlin ein Bündnis gegen Sozialchauvinismus und Rassismus im Umfeld des Umsganze-Bündnisses gegründet. In der Taz gab es dazu einen Artikel, in dem es hieß:

"Das Bündnis will sich auch mit dem „Rechtspopulismus der Mitte“ auseinandersetzen. Als Beispiel führt ein Sprecher die vom ehemaligen Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin entfachte Debatte an. Auf wiederholte Kampagnen gegen Hartz-IV-EmpfängerInnen ging die Neuköllner Erwerbslosenaktivistin Anne Seek ein."

Wenn arme Menschen sich nicht mehr fügen.

Am kommenden Sonntag wird Anne Seeck auch im Rahmen der Aktionswochen zu hören sein. Sie wird gemeinsam dem Autor dieses Beitrags das Buch "Klassenlos - sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten" im Cafe Pfannenschwanz in der Margaretenstraße 22 vorstellen

Das Buch zeigt, dass arme Menschen nicht nur Opfer sind, dass sie auch für ihre Rechte auf die Straße gehen und sich wehren. Das ist auch ein durchgehendes Motiv bei vielen Veranstaltungen der Aktionswoche. Und es wird auch jeder rassistischen Ausgrenzung eine klare Absage erteilt. Auch damit knüpft die Aktionswoche inhaltlich an das Bündnis gegen Sozialchauvinismus aus dem Jahre 2011 an. Damals waren die Schriften eins Thilo Sarrazin der Auslöser für die Beschäftigung mit dem Thema. Denn der ehemalige Kapitalfunktionär und Berliner SPD-Senator Sarrazin verband seine rassistische Ausgrenzung mit der Abwertung von armen Menschen und Hartz IV-Empfänger*innen. Das Bündnis gegen Sozialchauvinismus machte auch 2011/12 Flyeraktionen und verteilte Zeitungen in Gegenden in Berlin, in denen viele arme Menschen wohnen. Natürlich kann nicht festgestellt werden, ob die Zeitungen gelesen werden. Aber es ist doch erfreulich, dass mehr als 10 Jahre später sich erneute linke Initiativen mit dem Kampf gegen Sozialchauvinismus auseinandersetzen.

Sozialchauvinismus tötet

Dieses Mal kam die Beschäftigung damit aus der antifaschistischen Praxis der Gruppen in Lichtenberg. „Die Aktionswochen sind für uns die logische Fortsetzung der Auseinandersetzung mit rechten Morden in unserem Bezirk“, sagt Moritz von der Antifaschistischen Vernetzung Lichtenberg (AVL). Er verweist dabei auf ein Opfer rechter Gewalt aus Lichtenberg. „Sozialchauvinismus, also die die Stereotypisierung und Abwertung von armen Menschen, Suchtkranken oder Transferleistungsbezieher*innen war auch das Tatmotiv für die Mörder von Kurt Schneider“ betont Moritz. Der 38jährige wurde am 6. Oktober 1999 von 4 Neonazis an einer Tankstelle an der Frankfurter Allee zunächst zusammengeschlagen und anschließend erstochen. 2018 wurde Schneider als Opfer rechter Gewalt anerkannt. Seit 2019 erinnert eine Gedenktafel an ihn.

Moritz benennt Eugeniu Botnari als weiteres Opfer des Sozialchauvinismus in Lichtenberg. Der Migrant aus Moldawien arbeitet als Hilfsarbeiter am Bau. Nach dem er seine Arbeit verloren hatte, war er obdachlos. Am 20. September 2016 wurde er wegen eines vermeintlichen Ladendiebstahls von einem Inhaber eines Supermarkts in Lichtenberg so schwer verprügelt, dass er kurz darauf verstarb. Am April 2023 beschloss der Bezirksamt Lichtenberg einen bisher namenlosen Bahnhofsvorplatz nach Botnari zu benennen. Damit wurde eine Forderung von Anwohner*innen und antifaschistischen Gruppen in Lichtenberg umgesetzt, die jährlich am Todestag an Botnari erinnerten.

„Sein Tod macht auch deutlich, dass Sozialchauvinismus bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitet ist“, erklärte Lena, die ebenfalls im AVL aktiv ist. Die lange oft auch mörderische Geschichte des Sozialchauvinismus wird mit einem Rundgang zum ehemaligen Berliner Arbeitshaus thematisiert. Treffpunkt ist am 3. Dezember 14 Uhr am Gedenkort in der Hauptstraße 8. Der Historiker Thomas Irmer wird über die vergessene Geschichte der Verfolgung von als asozial stigmatisierten Menschen in der NS-Zeit informieren. Wichtig ist dabei, auch an die Arbeit des AK Marginalisierte gestern und heute zu erinnern, der nach 2007 Jahren dafür gesorgt hat, dass die Geschichte des Berliner Arbeitshauses nicht vergessen wird. Ohne ihn gäbe es auch den heutigen Gedenkort nicht. Am 12. Dezember um 19 Uhr werden die Sozialwissenschaftler*innen Saskia Gränitz und Konstantin Klur auf einer Veranstaltung im Hubertusbad in der Hubertusstraße 47 über die Entstehung des Sozialchauvinismus aus wissenschaftlicher Sicht sprechen. Dabei wird es auch darum gehen, wie weit Sozialchauivnsimus auch in Teilen der Arbeiter*innenbewegung verankert war. Dass zeigte sich unter Anderem daran, dass in der DDR noch als asozial stigmatisierte Menschen verfolgt und eingesperrt werden konnten. Die Aktionswochen enden am 15. Dezember mit einen Vortrag von Francis Seek, die sich mit den Begräbnissen von armen Menschen befasst. Weder im Leben noch im Tod sind arme Menschen gleich, dass ist die Erkenntnis des ambitionierten Veranstaltungsprogramm, das vollständig hier vollständig nachgelesen werden kann.

Peter Nowak

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Geschrieben von

Peter Nowak

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