Nemo beim Eurovision Song Contest: Schweizer Rhapsody

Porträt Nemo zählt zu den Favoriten der Wettbüros beim Eurovision Song Contest. Er tritt als nicht-binärer Star auf. Von traditionellen Rollenbildern hält er nichts, lebt aber dennoch mit einer Frau zusammen. Geht so Queerness?
Ausgabe 19/2024
Sein Coming-out hatte Nemo vergangenen Herbst. „Ich fühle mich weder als Mann noch als Frau“, sagt er und zelebriert seine Pansexualität
Sein Coming-out hatte Nemo vergangenen Herbst. „Ich fühle mich weder als Mann noch als Frau“, sagt er und zelebriert seine Pansexualität

Foto: Ella Mettler/SRF

In der Geschichtsschreibung des Eurovision Song Contest (ESC) ist man sich einig, dass der ESC 1998 sein Coming-out als queere Veranstaltung hatte. ESC-Fans konnten zwar immer schon queere und schwule Anspielungen in die Songs hineinlesen, sich mit den Performances schwergewichtiger Sängerinnen wie Joy Fleming (Ein Lied kann eine Brücke sein, 1975) identifizieren, oder mit den Französisch singenden Diven wie Vicky Leandros oder Celine Dion. Dass es sich beim ESC um eine besondere Liebe zwischen queerem Publikum und den Stars auf der Bühne handelt, wurde aber erst klar, als die Transgender-Sängerin Dana International den Contest 1998 für Israel gewann, mit einem Lied, das das Prinzip queerer Verehrung auch noch im Titel trug: Diva. Seitdem war die Queerness des ESC auch für ein überwiegend heterosexuelles Publikum unübersehbar, Queerness wurde zu einem Bestandteil der Marke ESC.

Die Reihe queerer Acts beim ESC ist lang: der offen schwule isländische Sänger Páll Óskar, das Drag-Trio Sestre aus Slowenien, das pseudo-lesbische Duo t.A.T.u aus Russland, der (heterosexuelle) „Damenimitator“ Verka Serduchka aus der Ukraine. Zur queeren Ikone wurde neben Dana International vor allem Conchita Wurst – „The Lady with a Beard“ –, die mit Rise Like a Phoenix vor zehn Jahren den ESC für Österreich gewann. Jede Zeit produziert ihre queeren Stars, und es sieht so aus, als wenn dieses Jahr eine neue queere Ikone dazukommen könnte.

Der Titel von Nemos erster EP war „Clownfish“

Für die Schweiz tritt der nicht-binäre Sänger Nemo mit dem Song The Code an. Der 24-Jährige ist vor acht Jahren zuerst durch Rap bekannt geworden, seitdem ist Nemo in der Schweiz ein Star, wurde vom Schweizer Rundfunk 2017 als bestes Talent ausgezeichnet und gewann kurz darauf eine Reihe von Musikpreisen. Letztes Jahr zog Nemo vom schweizerischen Biel nach Berlin.

Im Englischen wird Nicht-Binarität mit den Pronomen „they/them“ markiert. Weil im Deutschen die 3. Person Plural mit der weiblichen Form der 3. Person Singular identisch ist – sie –, lässt sich Nicht-Binarität sprachlich schwerer bezeichnen, sodass eher auf Pronomen verzichtet oder nur der Eigenname benutzt wird. Nemo sagt in einem Interview mit dem Schweizer Rundfunk: „Im Deutschen fehlen Alternativen.“ Wenn mal ein „er“ durchrutsche, sei das aber nicht so schlimm.

Das Prinzip von Nicht-Binarität wird mit der Figur Nemo gleich auf mehreren Ebenen praktiziert. Mit dem Namen „Nemo“, lateinisch „niemand“, verweigert der Künstler / die Künstlerin programmatisch eine Positionierung. Nemo ist natürlich auch der Name des Clownfisches in dem Disney-Klassiker Findet Nemo. Das Besondere an Clownfischen ist: Sie werden als Männchen geboren und verwandeln sich später in Weibchen (Clownfish ist der Titel von Nemos erster EP von 2015).

Eingebetteter Medieninhalt

Der Song, mit dem Nemo in Malmö auftritt, dramatisiert diese das Gendersystem transzendierende Perspektive in einer dreiminütigen Pop-Oper, einer Bohemian Rhapsody für die Gegenwart. Der Song The Code erinnert daran, dass die Frage der Nicht-Binarität auch im Kontext digitaler Kultur gestellt wird. Wer will schon auf eine 0 oder eine 1 reduziert werden. In dieser Hinsicht ist Nicht-Binarität vor allem ein Authentizitätsversprechen, das die von Algorithmen vorprogrammierten Angebote nicht mitmacht. Eine solche Zurückweisung fester Positionierungen, so könnte man sagen, lässt sich am deutlichsten als Geschlechterfrage in Szene setzen. Nemo trägt Lidschatten, lackiert sich die Fingernägel und tritt in Röcken und rosa Rüschenkleidern auf.

Nicht trans wie Dana International, nicht schwul wie Conchita

Geht es hier also wirklich um Queerness? Im Herbst hatte Nemo in den sozialen Medien sein Coming-out als nicht-binär. „Ich fühle mich weder als Mann noch als Frau“, sagt er. Es sei Nemo wichtig, für die gesamte LGBTQIA+-Community einzustehen. Nemo bezeichnet sich selbst als gender-queer und pansexuell. Diese Bekenntnisse lassen aber erst mal keine Rückschlüsse auf Nemos gelebte Sexualität zu. Nach Selbstauskunft ist Nemo seit fünf Jahren mit einer Frau zusammen. Geändert habe sich durch sein Coming-out an der Partnerschaft nichts, sagt der Künstler / die Künstlerin dem Schweizer Fernsehen – abgesehen von den Pronomen: „Unsere Beziehung ist nicht auf Rollenbildern aufgebaut. Wir haben keine Erwartungen aneinander, die an das Geschlecht geknüpft sind.“

Nemo wird als Gender-Star gefeiert. Auf der Bühne wird Nicht-Binarität zelebriert, auch wenn nicht ganz klar ist, inwiefern die Lebensweise, die damit zum Ausdruck kommt, nicht heterosexuell ist. Nemo ist nicht trans wie Dana International und nicht schwul wie Conchita. In diesem verwirrenden Gebrauch von queer macht sich auch die ganze Ambivalenz der Erfolgsgeschichte des Begriffs bemerkbar, zu der nicht zuletzt der ESC mit seinen nicht-heteronormativen Stars beigetragen hat. Ehemals schwule oder trans Strategien der Inszenierung von Geschlecht und Sexualität sind nun für alle zugänglich und für viele attraktiv geworden, auch wenn die Motivationen, von ihnen Gebrauch zu machen, unterschiedlich sein mögen.

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