Denn wir wissen nicht, was wir tun?

Data unknown Die Corona-Krise ist nicht zuletzt eine Krise unsicherer Daten und ihrer unpräzisen Kommunikation. Sicher ist nur eins: Uns stehen gewaltige soziale Verwerfungen bevor.

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Wir sind in den letzten Wochen Zeugen einer seltsamen Situation in Europa geworden: Mandatsträger, Wissenschaftler und Publizisten betonten im Zuge der sich ausbreitenden Corona-Krise einmütig, wie wichtig und entscheidend nun Zahlen, Rechnungen, Modelle und die darauf basierenden Einschätzungen der Wissenschaft seien. Tausende journalistische und wissenschaftliche Beiträge zu Covid-19 wurden veröffentlicht und (fast alle) Politiker stützten öffentlich ihre Entscheidungen auf die Einschätzungen von Virologen und Epidemiologen. Und all dies geschah, obwohl aus wissenschaftlicher Perspektive bezüglich der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 nur ein Faktum gewiss war: dass die tatsächlichen Fallzahlen unbekannt und alle Rechnungen und Modelle zu Stand und Entwicklung der Epidemie reine Mutmaßungen waren. Für die ersten ein bis zwei Wochen der Krise war dies ein mangels Wissens unauflösbares und darum akzeptables Dilemma oder Paradox. Was sich jedoch seitdem in der medialen Berichterstattung und Politik hinsichtlich entscheidender Fragen und Fakten abgespielt hat, ist in vielem sehr verwunderlich.

Nehmen wir ein Beispiel: In dem knapp sechs Millionen Mal aufgerufenen Video der ARD-Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim vom 2. April 2020 wird für die Modellierung von möglichen Verläufen der Epidemie jeweils von 2% bis 6% „intensivpflichtigen“ Erkrankten ausgegangen. Daraus wird geschlossen, dass eine Erreichung von Herdenimmunität und gleichzeitiges „Flachhalten der Kurve“ unvereinbar seien.

Laut den Zahlen des neu eingerichteten DIVI-Intensivregisters befinden sich in Deutschland im Zusammenhang mit Covid-19 derzeit 2.866 Personen in intensivmedizinischer Behandlung (Stand 21.04.20, 7 Uhr). Bei 143.457 vom RKI laborbestätigten Covid-19-Fällen (Stand 21.04.20, 08:15 Uhr) wäre dies ein Anteil von 2% (der Anteil bewegte sich in den vergangenen Tagen mit Schwankungen konstant um 2%).

Was jedoch seit Beginn der Krise klar ist: Es gibt eine Dunkelziffer – die Zahl der tatsächlich Infizierten ist definitiv höher als die der bestätigten Fälle. Unklar ist nur weiterhin, wie viel höher diese ist. Wissenschaftler der Universität Göttingen beispielsweise schätzen die Zahl der in Deutschland Infizierten für den 30. März auf 244.833 – das RKI wies für diesen Tag 57.298 Fälle aus. Die Zahl der tatsächlich Infizierten könnte also doppelt, vierfach, zehnfach so hoch oder noch höher sein. Eine noch nicht peer reviewte Studie der Universität Standford fand bei einer repräsentativen Untersuchung in Santa Clara in Kalifornien gar eine 50- bis 85-mal höhere Zahl heraus.

(Anmerkung ,24.4.20: Die Methodik dieser Studie wird mittlerweile stark kritisiert. Dies ändert jedoch nichts daran, dass von einer Dunkelziffer auszugehen ist, die signifikant höher liegt, als die jeweiligen Fallzahlen.)

Von dieser Zahl hängen aber wiederum alle anderen Zahlen, Rechnungen und Modelle ab – wie die Infektionssterblichkeit, Reproduktionszahl oder eben der Anteil von „intensivpflichtigen“ Erkrankten. Eine signifikant höhere Zahl von Infizierten würde die Einschätzung der Lage dramatisch (zum Besseren) verändern – dann wäre der Anteil von Verstorbenen und „intensivpflichtigen“ Erkrankten deutlich geringer und im besten Falle das Erreichen von Herdenimmunität und gleichzeitiges „Flachhalten der Kurve“ ohne radikalen Lockdown prinzipiell vielleicht doch möglich.

(Anmerkung, 24.4.20: Die Bundesregierung hat ihre Strategie nach wie vor nicht dargelegt. Aber ihr gegenwärtiges Handeln lässt sich wohl als Strategie des "Hammer and Dance" interpretieren. Meine hier und im weiteren Verlauf dargelegten Argumente ließen sich zum Teil entkräften, wenn bewiesen werden könnte, dass die Strategie des "Containment" für Deutschland machbar wäre. Diese würde neben entsprechenden Testkapazitäten wohl in jedem Fall den verpflichtenden Einsatz einer Tracing- und Quarantäne-App notwendig machen, da nur so Infektionsketten schnell genug unterbrochen werden könnten. Neben den gravierenden datenschutzrechtlichen Bedenken, die ausgeräumt werden müssten, wäre glaubhaft darzulegen, dass ein solches Überwachungsregime auch tatsächlich hinreichend wäre, um das Containment dauerhaft zu erreichen. Neben einer gründlichen Datenschutz-Folgenabschätzung müssten dabei außerdem auch die sozialen, psychologischen und politischen "Folgekosten" analysiert und abgewogen werden.)

Nun mag man über die Vielzahl spekulativer Rechnungen angesichts fehlender Fakten hinweg sehen können, ja gerade wegen fehlender Fakten bedurften wir spekulativer Rechnungen und Szenarien. Menschliches Handeln in komplexen Zusammenhängen ist grundsätzlich von Ungewissheit über die Folgen des Handelns geprägt und es bleibt immer nur der Versuch, die möglichen Folgen jeweils unterschiedlichen Handelns spekulativ zu modellieren und dann abzuwägen. Doch dass angesichts ihrer zentralen Bedeutung die Berücksichtigung der Dunkelziffer so gut wie keine Rolle gespielt hat und kaum Szenarien diskutiert und modelliert wurden, die von einer hohen Dunkelziffer ausgehen, ist verwunderlich. Schlicht irreführend und falsch ist jedenfalls, dass bezüglich der Fallzahlen bis heute medial meist von „Infizierten“ statt von „positiv Getesteten“ gesprochen wird.

Vollkommen unverständlich ist, warum von RKI, Gesundheitsministerium und Bundesregierung die aufgrund dieser Ungewissheit naheliegendste Maßnahme – die Durchführung von repräsentativen Studien – nicht schon vor Wochen angekündigt und dann praktiziert wurde. Angesichts der vergleichsweise hohen und schnell verfügbar gewesenen Testkapazitäten in Deutschland könnten Risiko und Verlauf der Epidemie längst mit wesentlich valideren Zahlen modelliert und die Maßnahmen entsprechend angepasst werden.

Unklarheit besteht zudem über die tatsächlichen Todesursachen von positiv getesteten Verstorbenen und die Art und Weise ihrer Aufnahme oder Nicht-Aufnahme in die Statistik von „Corona-Toten“. Mittlerweile ist die Differenzierung von „an“ und „mit“ Corona gestorben zwar im medialen Diskurs angekommen, aber das RKI war erstaunlicherweise zumindest bis vor kurzem nicht an dieser Unterscheidung interessiert. Zwar wird seitens des RKI begrifflich nicht inkorrekt jeweils von Todesfällen „in Zusammenhang mit COVID-19-Erkrankungen“ gesprochen, doch RKI-Präsident Lothar Wieler sagte am 20.03.20 den verblüffenden Satz: „Bei uns gilt als Corona-Todesfall jemand, bei dem eine Coronavirus-Infektion nachgewiesen wurde.“ Dass das RKI zunächst auch von Obduktionen abgeraten und nun erst nach der Kritik des Hamburger Rechtsmediziners Klaus Püschel Obduktionen doch empfiehlt, ist schwer erklärlich.

Vor allem ein mediales Problem sind außerdem die dauernd präsentierten Rankings von Ländern bezüglich steigender Fall- und Todeszahlen. Diese suggerieren Vergleichbarkeit, obwohl für jede Region immer spezifische Bedingungen vorliegen, die berücksichtigt werden müssten, um sinnhafte Vergleiche anstellen zu können. Dazu gehören etwa Art, Anzahl und Validität der Tests welcher Personen, Dunkelziffer, Altersstruktur der Bevölkerung, Vorerkrankungen, soziale Ungleichheit, Kapazitäten der medizinischen Versorgung, Situation in den Krankenhäusern (Stichwort: multiresistente Keime, nosokomiale Infektionen), Umweltfaktoren (z.B. Luftverschmutzung), Bevölkerungsdichte sowie Wohn- und Hygieneverhältnisse.

Als Beispiel für die zahlreichen, diese Ungenauigkeiten und Ungewissheiten kritisierenden Stimmen aus der Wissenschaft sei auf ein am 05.04.20 veröffentlichtes Thesenpapier von sechs Gesundheitsexperten verwiesen - zu den Autoren gehören u.a. der Vorstand des Verbands der Betriebskrankenkassen und ehemalige Abteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit, Franz Knieps, und der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrates Gesundheit, Matthias Schrappe. Hinter dem pragmatischen Titel „Datenbasis verbessern - Prävention gezielt weiterentwickeln - Bürgerrechte wahren“ verbirgt sich eine Fundamentalkritik am Vorgehen der Bundesregierung, in der die hier skizzierten Kritikpunkte detailliert analysiert werden.

Damit jedoch kein Missverständnis aufkommt: Ja, es war seitens der Regierungen sicherlich verständlich und nicht falsch, übervorsichtig zu reagieren und sich zunächst an „Worst-Case-Szenarien“ zu orientieren – nachdem man sämtliche Vorsorgemaßnahmen verschlafen und Warnungen ignoriert hatte – und ja, die physischen Distanz- und Hygienemaßnahmen waren und sind sicher richtig und sollten nun beibehalten werden. Ja, es ging darum, Testkapazitäten aufzubauen, Schutzmaterial anzuschaffen etc. Inwiefern dies auch mit geringeren Einschränkungen möglich gewesen wäre – respektive ob das „Modell Schweden“ auch für Deutschland vielleicht ein gangbarer Weg gewesen wäre, wird nie mit Sicherheit gesagt werden können, sich aber zumindest teilweise in den nächsten Monaten zeigen.

Festzuhalten ist zum jetzigen Stand der Krise (der Daten) jedenfalls, dass die Infektionssterblichkeit wahrscheinlich deutlich geringer ist als die dauernd ausgewiesene Fallsterblichkeit. Hendrik Streeck bezifferte die Infektionssterblichkeit in den umstrittenen Vorergebnissen seiner „Heinsberg-Studie“ auf 0,37%. Christian Drosten sprach bereits Anfang März von einer Fallsterblichkeit von 0,3 bis 0,7%, meinte damit aber wohl die Infektionssterblichkeit und wiederholte diese Annahme mit Korrektur der sprachlichen Benennung am 16.4.20 in der Sendung von Maybrit Illner. Das Zentrum für evidenzbasierte Medizin (CEBM) der Universität Oxford schätzt die Infektionssterblichkeit momentan sogar nur auf 0.1% bis 0.36% - weist aber auf den zentralen Punkt hin, dass entscheidend ist, wer sich infiziert, da die Infektionssterblichkeit bei älteren und vorerkrankten Menschen deutlich höher liegt.

Falls diese Zahlen nicht völlig daneben liegen und sich die momentane Situation in den deutschen Krankenhäusern nicht dramatisch verändert, scheint bei Beibehaltung der nun gelernten physischen Distanz- und Hygienemaßnahmen die schrittweise Auflockerung des Lockdowns in Deutschland jedenfalls nicht nur vertretbar, sondern angesichts der sich abzeichnenden enormen sozialen, psychischen, gesundheitlichen, ökonomischen und politischen Folgekosten des Lockdowns dringend geboten zu sein.

Wer aus „linker“ oder „kantianisch-deontologischer“ Perspektive hinter den nun bereits stattfindenden Auflockerungen hingegen nur rücksichtslose „Kapitalinteressen“ und Verrat an ethischen Prinzipien bis hin zu „Eugenik“ und „Sozialdarwinismus“ vermutet, kann und darf diese Folgekosten nicht ausblenden. In der Diskussion um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zur Vermeidung von Corona-Toten scheint eine rein deontologische Perspektive, die jedes Leben maximal schützen will, leider nicht weiter zu helfen, da wir uns in einem Dilemma, in einer Art „Trolley-Problem“ befinden. Vielmehr könnte und sollte aus einer solchen Position heraus von Politik und Gesellschaft eine Erklärung gefordert werden, warum wir im Falle durch verunreinigtes Trinkwasser, Unterernährung, Luftverschmutzung oder die Folgen des Klimawandels Gestorbener vergleichbare Anstrengungen nicht unternehmen, obwohl sie in diesen Fällen unbedingt geboten wären, da diese Todesursachen vom Menschen gemacht und veränderbar sind.

Im Falle von Infektionskrankheiten ist dies jedoch leider deutlich schwieriger und es führt in der Abwägung der Maßnahmen wohl kein Weg um die (schmerzhafte) Einsicht herum, dass wir das „Problem“ Corona (momentan) nicht „lösen“ können, sondern nur besser oder schlechter damit umgehen können. Neben einer nun endlich zu vollziehenden Abkehr von Profitkalkül und Fallpauschalenlogik bei Krankenhäusern und Pflegeheimen und einer deutlich besseren Bezahlung von Pflegekräften wäre deshalb auch die grundsätzliche Sinnhaftigkeit von Intensivbehandlungen zu diskutieren und bräuchten wir wohl allgemein eine Diskussion über unseren Umgang mit dem Tod und dem Sterben.

Worauf wir uns nun allerdings zunächst vor allem gefasst machen dürfen, sind soziale Verwerfungen und Aufstände auf globaler Ebene. Denn abgesehen von der Problematik des Mangels an validen Daten, ihrer unklaren Kommunikation und der viel zu späten Veranlassung repräsentativer Studien bleibt als Zwischenfazit der Causa Corona festzuhalten, dass neben der Aussetzung der Versammlungsfreiheit, dem Einsatz und Ausbau überwachungstechnischer Maßnahmen (Drohnen, Apps etc.) und entsprechender rechtlicher Befugnisse global vor allem die Verteilung der Kosten der Krise zu kritisieren ist: Die erzeugten Geldbeträge und Anleihenkäufe der Zentralbanken in unvorstellbaren Billionensummen werden im Zweifel als großer Raubüberfall zu einer weiteren Umverteilung von Unten nach Oben, einer Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten und schlimmstenfalls zu einer völligen Verschuldung der Mehrheit der Menschen führen (und einen Schuldenschnitt und „New Deal“ im Grunde unausweichlich machen). Da der Einsatz der finanziellen Mittel bis dato nicht oder nur kaum an sozialen (und ökologischen) Parametern ausgerichtet ist, verschärfen die getroffenen Maßnahmen die ohnehin schon horrende soziale Ungleichheit und prekäre Situation der Benachteiligten und Armen. Und erst Recht in der kommenden Rezession steht zu befürchten, dass unbedingtes Wachstum der unsinnigen Kennzahls des BIP erneut zum maßgeblichen Ziel wird und der Weg zu einer ökologischen Transformation unter zunehmenden sozialen Spannungen noch konfliktbehafteter sein wird als ohnehin schon.

Dabei läge in und nach der Krise die Aufgabe genau darin, den prä-Corona sowieso schon nicht mehr tragfähigen Status-Quo unseres Wirtschaftens grundlegend zu transformieren und dabei deutlich zu machen, dass "Soziales" und Ökologie gerade kein Gegensatz sind, sondern elementar zusammengehören. Millionen Menschen in Deutschland und anderen Industriestaaten erleben gerade, dass Kreuzfahrten verzichtbar sind, stets gefüllte Supermarktregale keine Selbstverständlichkeit sind und wir als leibliche Wesen Teil eines größeren Zusammenhangs der Natur sind, dessen Bedingungen wir nicht restlos diktieren und kontrollieren können. Wie wäre es also, wenn wir unser Handeln hinsichtlich der Klimakatastrophe und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen nun ebenso konsequent an Erkenntnissen der Wissenschaft und einer deontologischen Ethik – die das Leben zukünftiger Generationen schützen will – orientieren würden wie im Falle Corona? Im Unterschied zu Covid-19 ist die wissenschaftliche Faktenlage bezüglich Klimakatastrophe und Zerstörung der Natur bereits seit Jahrzehnten klar und liegen Handlungsalternativen schon lange auf dem Tisch. Ein Social-Green-Deal ist überfällig und ein diesbezüglich ebenso entschlossenes Handeln der Politik sollte in den nächsten Monaten umso dringlicher eingefordert werden. Corona hat bewiesen, was politisch machbar ist. Eine andere Welt ist möglich. Die Zeit der Ausreden ist vorbei.

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