Adorno - Minima Moralia

Das Rechtbehaltenwollen: Aus dem Text von Adorno ergeben sich Fragen, die hier vielleicht beantwortet werden können.

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Für Nach-Sokratiker

"Nichts ist dem Intellektuellen, der zu leisten sich vornimmt, was früher Philosophie hieß, unangemessener, als in der Diskussion, und fast möchte man sagen in der Beweisführung, Recht behalten zu wollen. Das Rechtbehaltenwollen selber, bis in seine subtilste logische Reflexionsform hinein, ist Ausdruck jenes Geistes von Selbsterhaltung, den aufzulösen das Anliegen von Philosophie gerade ausmacht.

Ich kannte einen, der alle Zelebritäten aus Erkenntnistheorie, Natur- und Geisteswissenschaften der Reihe nach zu sich einlud, mit jedem einzeln sein System durchdiskutierte und, nachdem keiner mehr gegen dessen Formalismus ein Argument vorzubringen wagte, seine Sache schlechterdings für wertbeständig hielt. Etwas von solcher Naivität ist überall dort noch am Werk, wo Philosophie auch nur von ferne dem Gestus des Überzeugens ähnelt. Ihm liegt die Voraussetzung einer universitas literarum zugrunde, eines apriorischen Einverständnisses der Geister, die miteinander kommunizieren können, und damit schon der ganze Konformismus.

Wenn Philosophen, denen bekanntlich das Schweigen immer schon schwer fiel, aufs Gespräch sich einlassen, so sollten sie so reden, daß sie allemal Unrecht behalten, aber auf eine Weise, die den Gegner der Unwahrheit überführt. Es käme darauf an, Erkenntnisse zu haben, die nicht etwa absolut richtig, hieb - und stichfest sind - solche laufen unweigerlich auf die Tautologie hinaus -, sondern solche, denen gegenüber die Frage nach der Richtigkeit sich selber richtet. - Damit wird aber nicht Irrationalismus angestrebt, das Aufstellen willkürlicher, durch den Offenbarungsglauben der Intuition gerechtfertigter Thesen, sondern die Abschaffung des Unterschieds von These und Argument.

Dialektisch Denken heißt, unter diesem Aspekt, daß das Argument die Drastik der These gewinnen soll und die These die Fülle ihres Grundes in sich enthalten. Alle Brückenbegriffe, alle Verbindungen und logischen Hilfsoperationen, die nicht in der Sache selber sind, alle sekundären und nicht mit der Erfahrung des Gegenstands gesättigten Folgerungen müssten entfallen.

In einem philosophischen Text sollten alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen. Ohne daß Hegel das je ausgesprochen hätte, legt sein ganzes Verfahren Zeugnis ab von dieser Intuition. Wie sie kein Erstes kennen möchte, so dürfte sie streng genommen kein Zweites und kein Abgeleitetes kennen, und den Begriff der Vermittlung hat sie gerade von den formalen Zwischenbestimmungen in die Sachen selbst verlegt und damit deren unterschied von einem ihnen äußerlichen, vermittelnden Denken überwinden wollen.

Die Grenzen, die dem Gelingen solcher Intention in der Hegelschen Philosophie gesetzt bleiben, sind zugleich die Grenzen von der Wahrheit, nämlich die Reste der prima philosophia, der Supposition des Subjekts als eines trotz allem "Ersten". Zu den Aufgaben der dialektischen Logik gehört es, die letzten Spuren des deduktiven Systems zusammen mit der letzten advokatorischen Gebärde des Gedankens zu beseitigen."

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1. Wie kann Adorno in der vorgeschlagenen Weise argumentieren lassen, wenn er nicht schon im voraus eine Position von "Vorauswissen" einbringt, um den Diskussionspartner der Unwahrheit zu überführen? Da reicht es auch nicht aus, seinen Standpunkt selbst als "vorläufig" oder falsch zu deklarieren.

2. Was bedeutet die Formulierung: " ... sondern solche (Erkenntnisse), denen gegenüber die Frage nach der Richtigkeit sich selber richtet."? Könnte er damit dass meinen, was er an anderer Stelle mit innerer Objektivität bezeichnet, die im Allgemeinen als Subjektivität bezeichnet wird und sich dem Ausdruck entzieht?

3. Wie können "Erfahrungen von einem Gegenstand" gewonnen werden, wenn nicht seine Eigenschaften, sein Verhalten usw. vom Beobachten zur These, von der These zur "Befragung des Objekts" - Experiment und zur Überprüfung der These zurückläuft? Natürlich ist die Beschreibung nicht die Sache selbst, aber ohne sie keine Kommunikation, keine (herkömmliche) Wissenschaft.

4. Worauf will er hinaus: "Zu den Aufgaben der dialektischen Logik gehört es, die letzten Spuren des deduktiven Systems zusammen mit der letzten advokatorischen Gebärde des Gedankens zu beseitigen."? Bezieht er sich auf eine neue Art von Philosophie oder ist es eine Kritik der Wissenschaftsmethoden an sich, die eine reduzierte Wahrheit verkaufen?

Es kann durchaus sein, dass ich seine Grundgedanken nicht erfasst habe, bzw. fehlinterpretiere, deshalb der kleine Ausschnitt. Also, was ist der Grundgedanke des Textes, falls es einen gibt?

Aus dem Buch "Minima Moralia" von Theodor W. Adorno: "Für Nach-Sokratiker", geschrieben 1944, veröffentlicht 1951, Auszug aus dem TB Suhrkamp, Seite 121- 123/ erste Auflage 2001.

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