Was ist Links?

Idee der Emanzipation: Wenn sich nun die Idee der Emanzipation, die hier in Ausschnitten als konstitutiv für die Linke vorausgesetzt wird, mit der menschlichen Natur als unvereinbar erweist?

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Der Vorspann ist ein etwas geänderter Text, entnommen aus dem Buch von Wolfgang Endemann, dessen Name hier im Forum wohl bekannt ist. Der in der nicht geänderten Version so zu lesen ist:

"Wenn die Idee der Emanzipation, die hier als konstitutiv für die Linke vorgestellt wurde, mit der menschlichen Natur nicht vereinbar ist, hat die Linke eine Sackgasse betreten und wird verschwinden."

Wobei nun das Problem zu lösen wäre, wie sich das eindeutig bestimmen ließe. Denn abgesehen von den unterschiedlichsten Kulturen, könnte es dort gelingen und hier nicht. Wobei auch die Bestimmung des 'Gelingens' nicht so einfach sein dürfte.

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Warum halte ich das Buch Links, so heißt der Titel von ihm, für lesenswert? Sein "sozialphilosophischer Essay", wie es im Untertitel heißt, behandelt LINKS, eine vertiefte Sicht (Einführung) dieses von Ihm aufgegriffenen "politischen Schlüsselbegriffs", der als zentraler zu verstehen ist, aber einer, der sich gesellschaftlich nur verwirklichen kann, wenn es aus der freien Entscheidung/Mitwirkung einer großen Anzahl der Menschen verwirklicht wird.

Natürlich stimmt man bei kritischer Lektüre nicht mit allen Annahmen und Folgerungen überein, das liegt in der Natur der Sache. Aber in wesentlichen Teilen des Buches ist das zumindest bei mir der Fall und wie ich es auch in der Vergangenheit gehalten habe, lasse ich die Quelle selbst für sich sprechen, wobei sich dann eine subjektive Auswahl der Textstellen natürlich nicht vermeiden lässt. Ich habe beim Lesen des Buches auf dem Reader häufig Lesezeichen gesetzt und auch des Öfteren gedacht: 'gut formuliert/ auf den Punkt gebracht/ oder auch: so ähnlich hätte ich es auch geschrieben, falls es mir eingefallen wäre :-)'.

Im verlinkten Inhaltsverzeichnis und der Einführung lässt sich 'reinlesen', ob mehr davon der Fall sein soll. Jedenfalls ist das kleine, aber dicht geschriebene, zum Mit-Denken zwingende Buch keine ganz leichte Kost und es dürfte lohnenswert sein, sich das eine oder andere später noch mal reinzuziehen. Aufgelegt wurde das Buch im Jahr 2013. Seine Aktualität ist seitdem damit aber mitnichten reduziert worden, das Gegenteil ist der Fall!

In dem Sinne eine erhellende Lektüre, wer 'noch' die Zeit dafür aufbringen kann. Aber das dürfte hier im Forum eher nicht das Problem sein, wenn man so betrachtet, was über manche Themen davon so 'erschlagen' wird.

(Seitenzahlen gebe ich nicht an, denn jede Textstelle lässt sich leicht über die Suchroutinen finden, wobei je nach Formatierung die dann auch nicht übereinstimmen würden. Aber eine Nummerierung erleichtert sicher den Bezug.)

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01. — "Für die Differenz von früh- und spätkapitalistischer Systemkritik der Linken werden hier die Begriffe Notsozialismus und ästhetischer Sozialismus vorgeschlagen, da im Manchester-Kapitalismus der alles andere in den Schatten stellende Skandal die menschenverachtende und -vernichtende Ausbeutung war, heute aber der Schwerpunkt des linken Einspruchs sich von der ethischen auf die ästhetische Ebene verlagern muß. Denn die Formen des Zusammenlebens unterschreiten weniger unsere Moralmaßstäbe, als daß sie dem widersprechen, was wir schon heute mehrheitlich als würdevoll und wohlgestaltet oder einfach als angemessen empfinden."

02. — "Dieser Kapitalismus ist trotz der Zustimmung, die ihm noch entgegengebracht wird, trotz aller Fortschritte eine Beleidigung der Vernunft."

03. — "Mindestens ebenso wichtig wie die Institutionalisierung des Sozialen für die Menschenwürde ist die individuelle Orientierung am Sozialen für die Emanzipation. Der Weg, den die Linke hier einschlägt, ist dem entgegengerichtet, den die bürgerliche Gesellschaft geht: statt auf Entfesselung des individuellen Eigeninteresses und die als natürlich empfundene Privatisierung aller Lebensaspekte setzt sie auf Altruismus und Kooperation."

04. — "Die Linke muß die bürgerlichen Propagandabegriffe, die nach wie vor ihr manipulatives Potential ausschöpfen können, entzaubern, delegitimieren oder wenigstens umdefinieren. Wenn ihr das gelingt, kann sie Mehrheitsgesellschaft werden."

05. — "Die Homogenität geteilter Wahrheit oder geteilter objektiver Interessenlage ist eine Illusion. Auch ist nicht damit zu rechnen, daß eine wachsende, selbst eine zusammenwachsende Gesellschaft keinerlei Fliehkräfte freisetzt. So ist die Grundlage des Politischen die Pluralität, wohlgemerkt nicht die Demokratie, die nur eine Form ist, Pluralität zu organisieren. Und um Mißverständnisse zu vermeiden, muß auch bemerkt werden, daß das Wahrheitskriterium für Politik keineswegs obsolet wird, nur relativiert sich, was als Wahrheit eingebracht wird."

06. — "Der Kapitalismus zeigt wenig absolute Not und versteckt sehr erfolgreich die reichlich vorhandene strukturelle Gewalt."

07. — "Die staatliche Hauptfunktion ist die infrastrukturelle Implementierung des Zusammenlebens der Menschen. Da diese ihre Gemeinschaftsaufgaben nicht in unmittelbar gemeinschaftlichem Handeln lösen, wozu sie je nach Leistungsfähigkeit sich bereitfinden müßten, vermittelt Geld die Produktion und Verteilung der individuell oder kollektiv genutzten Leistungen."

08. — "Im Idealfall ist der Staat jedoch nichts anderes als die ausschließliche Materialisierung des Allgemeininteresses."

09. —"Es bleibt die philosophische Differenz einer auf der einen Seite bürgerlichen Welt, in der es nur Individuen gibt, die miteinander koalieren und so zu einem Mehrheitswillen gelangen können, in der es das Soziale nur indirekt, als Interdependenz und Interferenz der Einzelnen, als zivilisatorische Zwangsjacke gibt; ein allgemeiner Lobbyismus, der die Linken mit Ekel erfüllt und in dem die, die keine ausreichende Lobby haben, arm dran sind. (...)"

10. —"Die Linke widerspricht keineswegs der Notwendigkeit zur Eigenverantwortung, worauf die progressiven Bürgerlichen ja so großen Wert legen, betont aber die stärker wachsende Notwendigkeit zur Fremdverantwortung, die als ein immer schwerwiegenderer Teil der Eigenverantwortung zu betrachten ist. In Solidarität als Fremdverantwortlichkeit im Gegensatz zu bürgerlicher Sozialignoranz kann man ein Alleinstellungsmerkmal einer linken Einstellung sehen."

11. —"Daß unter den Wirtschaftsführern mitleidlose Härte üblich ist, ist kein Moraldefizit, es ist die Wirtschaftsordnung selbst, die diesen ihr entsprechenden Typus nach oben spült. Daher ist es lächerlich, durch Appelle eine Verbesserung zu erhoffen. Die Bosse sind so wenig böse wie die Arbeiter faul. Diejenigen, die ganz oben oder ganz unten landen, haben sich nur erfolgreich oder erfolglos an das System von oben und unten angepaßt, erleben sich als Individuen und haben sich doch als soziale Wesen und biologische Systeme realisiert."

12. — "Jahrhundertealt ist die Erfahrung, daß der Kapitalismus das Gerechtigkeitsdefizit alles andere als verringert, was in keinem Gegensatz zu den bemerkenswerten Erfolgen in der Überwindung absoluten Elends steht. Wer das gelernt hat und akzeptieren kann, mag dann systemimmanent sozialdemokratische Reformpolitik betreiben. Er sollte sich aber darüber im klaren sein, daß der technologische Fortschritt sich verlangsamt und nicht dauerhaft die wachsende relative Verarmung ausgleichen kann."

13. — "Das Fördern des Geistes ist Selbstzweck, es generiert die Forderungen des Geistes an sich selbst und schließt alle exogenen Forderungen aus. Der schon von Kant angemahnte aufrechte Gang beruht auf dem Befolgen der Gesetze des eigenen Denkens. Was eine denkbasierte Gesellschaft braucht, ist kein allgemeinverbindlicher moralischer Wertekanon, sondern eine durchgängige Reflexionsbereitschaft mit der Gelassenheit und Großzügigkeit einer zwar selbstbewußten, aber eingedenk der Unvermeidbarkeit von Fehlern, Perspektivverengungen und der vielfältigsten Denkschwächen aus Überzeugung vertretenen Toleranz und somit Kritikoffenheit."

14. — "Auch in der solidarischen Gesellschaft verschwindet nicht die Rivalität bei der Partnersuche und die Abgrenzung des sozialen Nahbereichs, der Kampf um Anerkennung, also das Streben nach Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Aber die eliminatorische Konkurrenz verschwindet zugunsten eines kompetitiven Wettbewerbs und schließlich individuellen Innovations-, Perfektionierungs- und Optimierungswillens, der sich auf die Sache und nicht mehr gegen die Konkurrenten richtet."

15. — "Für die Linke ist heute wichtiger, daß in Konformität mit ihren Perspektiven in der Gesellschaft das Richtige getan wird als daß Gerechtigkeit herrsche, anstelle der Moral ist Vernunft der höhere Anspruch, wohl auch die verläßlichere Zielsetzung. Das ist, was die prophetische Formel von Marx zu einer realistischen Perspektive macht: „Jeder (gibt) nach seinen Fähigkeiten, jedem (wird gegeben) nach seinen Bedürfnissen“, die Formel für eine produktive Konsensgesellschaft."

16. — "Es wäre eine gewaltige Bereicherung, würde das Produzieren nur der Maxime der Aufklärung folgen, dem „Wahren, Schönen, Guten“. Das ist die Produktion des Wissens, der Kunst und der wirklich nützlichen Dinge und Dienste."

17. — "Solange die Menschen dem Konsumismus verfallen sind, hat der Sozialismus keine Chance. Da sind sie wohl mit dem Kapitalismus besser bedient. Er drangsaliert sie zwar, aber er schafft beeindruckenden Überfluß und oft irrationale Nachfrage, ohne daß die meisten Eigeninitiative entwickeln müßten. Entgegen der neoliberalen Propaganda der Eigeninitiative, die nicht ernst gemeint ist, vielmehr dazu dient, denen, die nicht ausreichend für sich sorgen können, die Schuld an ihrer Lage zuzuschreiben, im zynisch-klaren Bewußtsein der Unerfüllbarkeit und der Unehrlichkeit dieser Aufforderung, behindert der Kapitalismus Eigeninitiative, insbesondere, wenn sie sich kollektiv organisiert und Kosten verursacht."

18. — "Es ist der große Vorteil des Kapitalismus, daß er ohne die Anstrengungen des Idealismus auskommt. Er ist auch für die Mehrheit der leichte Weg."

19. — "Schon Solidarität bezeichnet ja weniger eine gerechte Verteilung von Gütern, als ein anderes Verhältnis zu den Mitmenschen. Die Linke richtet ein Angebot und eine Aufforderung an alle mit unabsehbaren Konsequenzen für die gesamte Kultur."

20. — "Gerade die Linke kann sich nicht damit begnügen, konkrete politische Forderungen und Projekte aufzustellen und zu bewerben, sie muß die langfristige Zukunftsperspektive einer tiefgreifenden Umstrukturierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs evident machen."

21. — "Im bürgerlichen Weltbild ist das Subjekt ein Willenssubjekt und die Freiheit Wahlfreiheit. Das entspricht exakt den Erfordernissen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, der Konkurrenz der Wirtschaftseinheiten (-subjekte) und dem Spiel der Märkte."

21. — "Die feine Differenzierung von Meinen und Denken, immer anstrengend und öfters lästig, stößt in westlichen Gesellschaften auf wenig Interesse, da diese sich durch die entstehenden Wahrheitsansprüche empfindlich gestört fühlen würden. Das kann man auch positiv sehen; die Fähigkeit zu kritischem Denken ist ziemlich ungleich ausgebildet, wie demokratiefreundlich ist dagegen das Prinzip der Gleichberechtigung von Meinungen, woraus immer sie sich speisen. Deren Vielstimmigkeit wird goutiert, solange sie unauffällig gehaltene Grenzen nicht überschreiten."

22. — "Jedenfalls schränken wir selbst die Meinungsfreiheit ein, und das zurecht. Denn im Unterschied möglicherweise zur Gedankenfreiheit kann sie kein absoluter Wert sein. Sie muß neben anderem abgewogen werden mit dem Schutz vor gefährlicher emotionaler Aufladung und dem allgemeinen Schaden, den individuelle Orientierungen sowie ein entfesselter, polarisierender Meinungskampf anrichten können."

23. — "Dagegen ist für das heutige Handeln charakteristisch das Aufspalten in zwei widersprechende Motive, Wollen und Sollen. Einerseits wird Selbstbestimmung, die Freiheit, sich etwa für oder gegen Drogen zu entscheiden, beansprucht, andrerseits wird die Selbstbestimmung durch Normen und Vorschriften begrenzt. Das gesamte bürgerliche Leben steckt in der Falle dieser unauflöslichen Dualität, Selbstbestimmung und Zwang, Innen- und Außensteuerung, Ich und Überich (der konflikthaften Aufspaltung in Es, Ich und Überich), der Dichotomie von Freiheit und Verantwortung. Daß das Kanzel- und Präsidialwort von der „Freiheit in Verantwortung“ eine leere ideologische Phrase ist, erkennt man, wenn man auf das Paradigma der Formel, den kapitalistischen Produktionsprozeß zurückgeht."

24. — "Die Unternehmerfreiheit reduziert sich weitgehend auf die Freiheit zum Profitmachen, in der wirkliche Gestaltungsfreiheit kaum noch erkennbar ist, die einkommensabhängige Marktfreiheit ist die Karikatur der Autonomie der Subjekte. Eher kann man sagen, daß der Markt die Rolle der Moralinstanz im kapitalistischen Gleichgewicht von Freiheit und Verantwortung spielt."

24. — "Die Verursacher der Krise, die man nicht pleite gehen läßt, noch zu belohnen, ist aber eine unüberbietbare Absurdität. Die Gewinne auf dem Weg in die Krise waren nichts weiter als Anteilscheine auf die noch nicht vorhandene zukünftige Produktion. Die hätten überhaupt nicht ausgegeben werden dürfen."

24. — "Wie gut auch immer die ökonomische Forschung und Lehre ist, wieso glaubt man, daß Banker mit Eigeninteresse richtiger handeln können als aufwändig Ausgebildete im Auftrag des Allgemeininteresses? Daß die Winnerinstinkte der konkurrenzerprobten Marktteilnehmer zu richtigeren Lösungen führen als wissenschaftliche Analysen?"

25. — "Die Wirtschaft ist das schwarze Loch des bürgerlichen Bewußtseins."

26. — "Konservativ ist der Primat der Werte, bürgerlich der Primat der Freiheit. Die Linke kritisiert beides. Daher einerseits die Kritik an einer Betonung der Bedeutung von Freiheit gegenüber der Bedeutung von Gerechtigkeit in einer Zeit, in der die Gesellschaft in einer tiefen Gerechtigkeitskrise steckt. So berechtigt sie ist, so greift sie zu kurz. Solidarität ist weder als übergeordnet noch als nachrangig, abgeleitet anzusehen, vielmehr eine eigene Kategorie, in der gleichen Weise fundamental wie Freiheit. Das Ausspielen von Freiheit gegen Solidarität oder umgekehrt ist ein gedanklicher bürgerlicher Kurzschluß. Andrerseits ist das bürgerliche Verständnis der Freiheit genau so mangelhaft wie das der Solidarität. Es läßt von den Werten Freiheit und Solidarität nur eine abstrakte Hülle, während das konservative Denken ganz andere Werte in den Mittelpunkt rückt, die nicht nur unter den Linken, sondern auch bei einer progressiven Mitte auf Unverständnis stoßen."

27. — "Links heißt, die Dialektik von Subjekt und Objekt nicht aufzulösen, sondern auszuschöpfen. In der Arbeit am Objekt zu assimilieren und akkomodieren, also Anpassung auf der Objekt- und der Subjektseite, die starre Rollenverteilung aufzugeben, das Subjekt ein wenig zu objektivieren und umgekehrt. Im intersubjektiven Prozeß Synthesen und Synergien zutage fördern."

28. — "Sowenig die Linke auf Revolution, nämlich die fundamentale Reorganisation des Gesellschaftskörpers, verzichten kann, sosehr muß sie sich unter den spätkapitalistischen Bedingungen radikalisieren, indem sie sich jeglicher Mittel der Gewalt entsagt. Wir hatten vorher den Gewaltverzicht mit der Möglichkeit des Irrtums begründet. Hier kommt ein schärferes Argument zum Vorschein, der Widerspruch von Form und Inhalt wirkt zersetzend auf den Inhalt zurück. Schon in der Mitte der Gesellschaft keimt die Erkenntnis, daß Freiheit nicht durch Einschränkung der Freiheit zu bewahren ist. Gewalt jenseits von Notwehr ist inakzeptabel."

29. — "Freiheit entwickelt sich auf die gleiche Weise wie das Wissen und die Kunst, Wissen als der Inbegriff des argumentativ Begründeten, das Schöne als das suggestiv Überzeugende; die Übereinstimmung kann nicht überraschen, da es keine anderen verbindlichen Begründungsweisen gibt als die der diskursiven und der ästhetischen Vernunft."

30. — "Die langfristige gründliche Umorientierung, ein weiterer mühsamer Entwicklungsschritt der Menschheit zu einer ethischen Innenleitung ist nach allem, was man über die Entwicklungsdynamik aus der Psychologie und Soziologie weiß, dennoch unvermeidlich, wie lange es auch dauern mag."

31. — "In einem Rechtsstaat hätte Manning sogar die Pflicht, das mörderische Fehlverhalten seiner Landsleute publik zu machen. Verbrechen sind eine öffentliche Angelegenheit. Und Snowden hat ja allenfalls das Ausmaß des staatlichen Zugriffs auf elektronische Daten offengelegt, der Tatbestand wurde von Fachleuten, ohne es an die große Glocke zu hängen, seit langem unterstellt. Es ist schizophren, gleichzeitig die Ausspionierung für absolut legitim zu halten und die Bestätigung ihrer tatsächlichen Ausübung als schwersten Landesverrat zu ahnden. Die Wahrheit ist zum Staatsgeheimnis geworden, wer sie kennt und ausspricht, wird zum weltweit gejagten Verräter und Staatsfeind erklärt."

32. — "Allerdings ist der Anspruch auf Individualität in allen westlichen Ländern mehr Ideologie als Substanz, dementsprechend bleibt eine wirkungsvolle, massenhafte Empörung über den Kontroll- und Überwachungsstaat aus, man kann keine Freiheiten verlieren, die man nie wirklich beanspruchte und daher nie wirklich besaß."

33. — "Die Welt wird nicht mehr bestaunt, sondern taxiert. War sie Schicksal, so wird sie Beute."

34. — "Wir sind also erst einmal Organismen, die die biologische Funktionalität erfüllen und so ihr Leben erhalten, die sich darüber hinaus dann nach bestem Wissen, ästhetischem Sehnen und Gewissen eine Form geben. Das letztere tun wir, das müssen wir nicht. Wir tun es, wenn wir es tun, ebenfalls in Übereinstimmung mit den allgemeinsten biologischen Entwicklungsgesetzen von Wachstum und Stabilität."

35. — "Es ist erst der implizite Gesellschaftsvertrag (nicht schon die angeborene Sozialität), der dank der allen zugute kommenden Leistungen des gesellschaftlichen Zusammenschlusses die Normenbefolgung verlangen kann und sogar die über das kontraktuelle hinausgehende Selbstverpflichtung auf die Ideale erwarten darf."

36. — "Denn sowenig Moral gefordert werden kann, so sehr wenigstens die Einhaltung der Gesetze, die in der modernen Auffassung eben nicht Kodifizierungen der Moral, sondern vernünftig begründbarer Regeln des Zusammenlebens sind. Die Regeln können geändert, sie sollten verbessert werden, zu einem bestimmten Zeitpunkt sind sie in einer bestimmten Weise, als allgemeiner Wille gegeben. Wer sich nicht daran halten will, kann die Gemeinschaft verlassen oder aus ihr ausgeschlossen werden, wer sich nicht daran halten kann (obwohl er sie anerkennt), muß Sanktionen, Gegenmaßnahmen des Gemeinwesens erdulden. Selbstverständlich hängt die Legitimität der Gesetze davon ab, daß ihr Standard über dem gesellschaftlichen Durchschnittsniveau der ethischen Korrektheit liegt, nur so schützen sie die Menschen und werden gebraucht."

37. — "So institutionalisiert die Demokratie das vorher erwähnte Menschenrecht auf Dummheit und Gemeinheit sowie ergänzend das Recht der Mehrheit, das Menschenrecht aufs Mittelmaß. In dieser Diskussion in der Mitte der Gesellschaft findet allerdings die breite Aufklärung statt, der unverzichtbare, aber quälend langsame Fortschritt der Gesamtgesellschaft. Ein unter selbstkritischer Kontrolle begrenzter Populismus dieser „Mitte“ gegenüber ist wohl unvermeidlich, wenn man ihre Selbstaufklärung und damit ihre politische Orientierung nach links beschleunigen will."

37. — "Reflektierten Leuten bleibt nicht verborgen, daß man sich nicht unbedingt auf die eigene Vernunft verlassen kann, auch wenn man sich auf sie verlassen muß. Von Beckett, dem Virtuosen des Scheiterns und der Vergeblichkeit, stammt die Bemerkung: ich kann nicht schreiben, aber ich muß schreiben. Damit wird ein postmodernes Lebensgefühl umschrieben, die widersprüchliche Existenz eines Subjekt-Objekts. Wahr kann dann nur sein, was im individuellen Denken universell ist. Die Individuen bringen in ihrer Eigenartigkeit das Universelle hervor. Es ist das Einzige, worauf sie sich verlassen können."

38. — "Die Menschen im Westen unternehmen sehr viel, um sich der Täuschung hingeben zu können, man lebe in einer Demokratie. Tatsächlich lebt man im Kapitalismus, „Demokratie“ ist nur dessen Fassade der Gleichheit und Selbstbestimmtheit. Der Kapitalismus ist die beständige Ursache, die die Gesellschaft in pathologische Entwicklungen drängt, so muß „it's the economy, stupid“ verstanden werden. Noch funktioniert die Autosuggestion in der bürgerlichen Welt, wobei viele der wirklich Herrschenden wohl wissen werden, daß sie Demokratie sagen und Kapitalismus meinen."

39. — "Freiheit ist Subjektwerdung, das Ergebnis mühevoller Arbeit. Der subjektive Wille ist die Emanzipation des biologischen Willens. Aber er setzt Wissen, das Bewußtwerden dessen, was ist oder was für-mich-ist, voraus. Man kann das dezisionistische Moment des subjektiven Willens hinzunehmen zur Freiheit, aber Grundlage ist nicht der Willen, sondern Wissen und Können."

40. — "Wie das Verhältnis von Gebrauchs- zu Tauschwert verkehrt sich soziale Interaktion. Das Individuum zählt nicht mehr als das, was es ist, sondern mit dem, wie es sich darzustellen vermag, wie es sich verkauft. Image statt Substanz. Das alles funktioniert so gut, weil die kapitalistische Organisation ausgesprochen rational ist, gewissenhaft beschrieben von der Systemtheorie, die dafür das referentielle Analyseinstrument geworden ist und die wichtigste Formel liefert: Komplexitätserweiterung durch Komplexitätsreduktion."

41. — "Die Linke streitet um eine Zukunft, die für andere Entwicklungen offen ist als nur das größer, schneller, mehr vom Immergleichen."

42. — "Wobei im linken Verständnis eine religiöse Orientierung nie wirklich frei sein kann, denn es fehlt die Selbsterfahrung unbedingter aktiver Subjektivität, die freilich mit dem Verlust metaphysischer Geborgenheit bezahlt werden muß. Die religiöse Selbstorganisation ist eine intersubjektive Antwort auf die Lebensprobleme, (...)"

43. — "Die großen Vermögen sind ursprünglich Resultat absurder Einkommen und darüber hinaus dann der noch absurderen Selbstvermehrung des Geldes. Die linke Vernunft gebietet das Ende dieses Irrsinns."

44. — "Worin eigentlich besteht die Freiheit im Kapitalismus, wenn Wohl und Fortschritt überwiegend von Zwangscharakteren abhängt?"

45. — "Denn wie eine leistungsstarke, reichhaltige Lebensweise eine intensive Sozialordnung erfordert, einen starken öffentlichen Sektor, so muß das individuelle Denken sich entsprechend nachdrücklich auf die sozialen Gegebenheiten einlassen; wenn unsere Selbstbestimmung nicht unsere allgemeinen Lebensbedingungen einschließt, ist sie nicht viel wert. Entweder ist der Einzelne in der Komplexität großer Massen in der Lage, eine gemeinsame Kommunikationsbasis zu finden oder gemeinsam zu konstituieren, auf der Politik entwickelt werden kann, oder er ist ziemlich irrelevant."

46. — "Der gesellschaftliche Systemwechsel entspricht dem von der Psychologie auf der Ebene des Individualverhaltens schon seit langem propagierten und in der bürgerlichen Gesellschaft weitgehend vollzogenen Wechsel der Motivationsstrategie von der Bestrafung zur Belohnung und der entschieden effizienteren Steuerung durch innere Selbstregulation statt durch äußeren Zwang. Wenn unsere Hoffnung auf einen langfristigen, nachhaltigen Fortschritt berechtigt ist, wird sich solcher Wechsel gegen alle Widerstände durchsetzen."
[Hier muss ich aber widersprechen, zwar erscheint die verinnerlichte Selbstregulation der vorherigen externen Steuerung auf den 1ten Blick positiv, beinhaltet aber eine verfeinerte Manipulation des Bewusstseins derart, wie sie sich bei jenen prägnant zeigt, die den Absturz aus dem Berufsumfeld als ihr eigenes Versagen empfinden, wie auch das 'Auffanglager' von HartzIV dem dann als gemäß angesehen wird!]

47. — "Aber wahre Freiheit ist immer Freiheit für alle, oder, wie die prägnante Luxemburgsche Parole lautet, immer auch die Freiheit der Andersdenkenden, es würde also keinen Homogenisierungsdruck, schon gar keinen Zwang zur Einheit, keine soziale Moral, keine Bevormundung geben. Unabhängig davon, ob es dann einen globalen oder nur einen regionalen Sozialismus gibt, muß in der Welt Platz sein für Alternativen, eine Koexistenz aller selbstgewählten, also freiwillig eingegangenen Sozialordnungen."

48. — "Die bürgerliche Modernisierung war ein gewaltiger Sprung nach vorn, aber in krasser Einseitigkeit, ohne Plan und Augenmaß, mit starrem Blick auf das Individuum, die Freiheitsrechte des Einzelnen. Dabei konnte und mußte es zu der folgenschweren ideologischen Gleichsetzung von Individualismus und Egoismus sowie von Sozialverhalten und Moral kommen, mit der der Zusammenhang von Innerlichkeit und Sozialem, von innerer und äußerer Existenz des Individuums aufgelöst wurde. (...)"

49. — "Eine große Mehrheit der Bürger ist integriert, sieht und empfindet nicht den Mangel, Makel oder gar Skandal, auf den Linke, Intellektuelle und sensiblere Zeitgenossen hinweisen. An die häßliche Alltagserfahrung der verdinglichten Welt hat man sich gewöhnt wie an die schäbigen Substitutionsstrategien, Ersatzbefriedigungen."

50. — "Die Zeit der kleinen Schritte ist vorbei, es müssen große Schritte, ein Sprung in eine neue Ordnung gemacht werden, eine strukturelle Revolution steht auf der Tagesordnung, die die heutige Flickschusterei, die rasende Bewegung beim Aufderstelletreten überwindet. Der entfesselte Individualismus, das ist die Brownsche Molekularbewegung bei stetig wachsender thermischer Energie. Er muß korrigiert werden durch eine nachholende Ordnung des Sozialen, eine nachholende Emanzipation im Sozialen, die mehr ist als ein paar zusätzliche Regeln, mehr leisten muß als was man sich heute unter (Re-)Regulierung vorstellt."

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Ausgehend von der Eingangsfrage, also von der linken Emanzipationsvorstellung in Verbindung mit der menschlichen Natur, unter Berücksichtigung von Nr. 50, die im Widerspruch zu Nr. 49 steht, verbleibt mehr als Skepsis, wann denn das überhaupt noch innerhalb des verbleibenden Zeitraums der globalen ökologisch tickenden Uhr geschehen soll.

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