Im Dezember 1918 ist Helmut Schmidt in Hamburg zur Welt gekommen. Gestern ist er gestorben. Bis zum letzten Tag trug er sein Haupt auf den Schultern, wie die Franzosen respektvoll sagen würden. Er verfügte bis zu seinem Tode über einen messerscharfen Verstand, einen unbeugsamen und sauberen Charakter und über eine allseits beneidete Weltläufigkeit, wie sie unter Politikern ihres gleichen sucht. Ein Mann, der offensichtlich aus einer anderen Politikergeneration... stammte. Der noch Unterdrückung, Krieg, Elend und Gefangenschaft erleiden musste.
Helmut Schmidt absolvierte nach dem II. Weltkrieg ein wirtschaftswissenschaftliches Studium an der Universität seiner Heimatstadt Hamburg. Auf die Anregung seines Professors, doch noch zwei Semester dranzuhängen, um zu promovieren, entgegnete er damals schon recht selbstbewusst, dass er dafür keine Zeit mehr habe und er darauf warte, dass ihm der Doktortitel ehrenhalber verliehen würde. In der Zwischenzeit besitzt er weit über sechzig Doktorhüte, allerdings ist keiner seiner Alma Mater dabei, wie er süffisant bemerkte. Schmeicheleien könne man getrost diskontieren, wie er meinte.
Mit welcher schnörkellosen Klarheit in seinen Aussagen, welch analytischem Verstand, welcher Präzision in seiner druckreifen Artikulierung gab uns Helmut Schmidt in seinem langen politischen und publizistischem Leben immer wieder Orientierung. Damit wurde er zur Ausnahmeerscheinung in Deutschland, Europa und der Welt.
Auf die Frage eines Journalisten, was er denn einmal für ein Urteil der Historiker über seinen politischen Lebensweg erwarte, entgegnete Helmut Schmidt in seiner schon sprichwörtlichen Bescheidenheit, die er bis zur Arroganz kultivierte : « Sollten die Historiker eines Tages zu dem Urteil gelangen, dass ich meine Sache an – s – tändig gemacht habe, bin ich schon zufrieden. »
Mehr als das , hochverehrter Helmut Schmidt, viel mehr als das !
Rainer Kahni dit Monsieur Rainer
Journalist und Buchautor
Mitglied von Reporters sans frontières
Kommentare 22
"Ein Mann, der offensichtlich aus einer anderen Politikergeneration... stammte. Der noch Unterdrückung, Krieg, Elend und Gefangenschaft erleiden musste. "
Der letzte seiner Art. Und nach dieser Generation bleiben uns nur noch die smarten, geschmeidigen, rückgratlosen Neoliberalen.....
Helmut Schmidt hat sich um Deutschland und Europa verdient gemacht.
Er wird fehlen.
Dass in Nachrufen in der Regel nur Gutes über den Verstorbenen steht, ist üblich und richtig. Dass die Nachrufe für Helmut Schmidt fast schon hagiographische Züge annehmen, dass man ihm Verbalorden umhängt, erstaunt mich aber doch.
Das schöne Bild vom weisen Qualmer aus Hamburg hat uns wohl vergessen lassen, dass Schmidt
- die Atom- und die Rüstungsindustrie förderte,
- zu einer gewissen Verwunderung der Verbündeten die "Nachrüstung" forderte,
- die Sozialleistungen einschränkte,
- sein SPD-geführtes Finanzministerium ähnliche neoliberale Vorstellungen entwickeln ließ wie das FDP-Wirtschaftsministerium
- das Stabilitätsdogma hochhielt
- für die Wende zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik steht,
- sich für repressive Staatsapparate aussprach,
- die sozialistische Opposition in der SPD kleinhielt
und dass er sich mit hanebüchenen Argumenten gegen die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" positionierte.
Über seinen Einfluss im "Mainstreammedium" DIE ZEIT schweige ich besser.
Die postmortale Verehrung Schmidts zeigt wohl, dass sich in unserer Gesellschaft ein Bedürfnis nach dem durchsetzungsstarken Politiker formiert hat. Ein Bedürfnis nach Demokratie und Solidarität wäre allerdings angenehmer.
Daß Helmut Schmidt in den Nachrufen so positiv bewertet wird, ist verständlich...die Bürger ziehen unbewußt Vergleiche mit ihrem derzeitigen Polipersonal; ...und da kann Altkanzler Schmidt nur bestens abschneiden.
...und, wie jüngst zu lesen war, die Ökologie für eine Marotte gelangweilter Mittelstandsdamen hält.
Im übrigen lieben die Landsleute die große Geste, weltmännisch ist angesagt, das betrifft die Nekrologschwemme ebenso wie BER, Elbphilharmonie, Olympiabewerbung etc. p.p. Da ist die Zurückhaltung der SPD in Sachen Kanonisierung des Altkanzlers schon wieder sympathisch.
Ach wwalkie - Sie Spielverderber. :-))
Ein bisschen ist das Ganze ja auch der Ausdruck einer gewissen "Westalgie". Wie das noch so alles in Ordnung war, als Leute mit einer Biographie, die man selbst hatte oder kannte , da "oben" zugange waren. Sie stammten aus dem gleichen Milieu. Wo sind die Zeiten hin, wo man sich da noch entsprechend vertreten fühlte.
Und dann noch so ein Mann , der Statur besaß und auch noch "gedient" hatte. Der Sekundärtugenden besaß. Na, das ist ja alles bekannt. Und - Klavierspielen konnte. Das finde ich besonders bemerkenswert.
Es ist die alte Bundesrepublik, die dahingeht .
Bald wird der nächste Helmut "gehen" und seine Hannelore liegt auch schon unter der Erde.
Man darf wohl auch nicht den Reflex der Älteren vergessen, alles oder alle, das bzw. die "früher waren", als "besser" zu kennzeichnen. Und das Urteil, ob etwas wirklich gut war, ist ja tatsächlich nur retrospektiv möglich. Allerdings führt das auch leicht zu Verklärungen ...
Das nur mal als allgemeine Anmerkung. Über Helmut Schmidt im Speziellen wollte ich damit nichts gesagt haben. Da fehlt mir das wirkliche Wissen und ich kenne eigentlich nur den, ja, fast schon Mythos, zu dem er gerade jetzt in seinen letzten Lebensjahren geworden ist.
Ich glaube, das geht alles ziemlich fehl. Nachdem ich heute bei Phoenix noch ein filmisches Requiem in T eilen mitbekommen habe, scheint mir, dass Schmidtvor allem durch seinen Sturz bei vielen (West)Deutschen und weiten Teilen der Medien eine Art Märtyrer-Status bekommen hat und eigentlich erst dadurch die ihm zuschriebene historische Größe bekommen hat.
Eine Art Cäsar-Brutus-Phänomen. Wäre er regulär abgewählt worden, wäre er der angemessenen Würdigung zugänglicher gewesen. Sein Sturz aber duch den als charakterschwach wahrgenommene Genscher und den als schäbig-schmierig wahrgenommenen Kohl hat ihn zwangsläufig geadelt.
Eine Art Parallele dazu war der Versuch des als ebenfalls schmierig wahrgenommenen Barze, den als Lichtgestalt wahrgenommenen Brandt zu stürzen. Wer kennt heute noch Barzel? Und wer würde heute noch Kohl kennen, wäre ihm nicht die Wiedervereinigung in den Schoß gefallen?
Fehler & Schwächen hin oder her, aber im Verständnis vieler Menschen hier "tut man so etwas einfach nicht".
Und ich persönlich denke auch so, weil ich meine, ein konstruktives Misstrauensvotum ist für Notfälle gedacht. Ein solcher lag aber weder bei Brandt noch bei Schmidt vor. Und so bestätigte sich eine Warnehmung von CDU/CSU als eine Partei der Betrüger und Trickser, für ie nichts zählt als Macht. Und vor diesem Hintergrund - und der Tatsache, dass Adenauer reihenweise Nazis beschäftigt hatte und Kiesingers Silberlocke einen bräunlichen Ton hatte - erscheinen Schmidt & Brandt, die ohnehin überdurchschnittliche Kanzlerqualitäten hatten, vollends als Lichtgestalten.
Ich denke also, da geht es zuallererst auch um ein anständiges oder unanständiges Deutschland. Und nachdem Schmidt nicht mehr da ist, bleibt nur noch Bimbes-Spenden-Betrüger Kohl, der gewählt, aber nicht geliebt wurde. Und Schröder......
Da ist mir jetzt ein Bezug verloren gegangen. Der Kommentar seriousguy47 11.11.2015 | 23:14 beziht sich hierauf.
Muss man älter sein, um Schmidt besser zu finden als Kohl?
Wie gesagt, ich wollte nichts über Schmidt selbst gesagt haben. Somit auch nichts über einen Vergleich zu Kohl. Aber wenn Sie so wollen: Ja, älter muss man an sich schon sein. Ich meine, wie lange sind Schmidts Amtszeiten jetzt her??
Stimmt schon, seine Kanzlerschaft ist lange her. Aber eigentlich hatte er ja ein langes zweites Leben danach. Und eigentlich wurde er erst da vom Kanzler zum Mythos.
Wer allerdings über seine politischen Fehler reden will, der sollte schon älter sein. Oder Historiker. Da würde ich zustimmen-
Sie haben Recht, Herr Kahni. Helmut Schmidt war viel mehr als nur ein Kanzler der Bundesrepublik. und er hatte, aufgrund seiner intellektuellen und rhetorischen Fähigkeiten, aufgrund seiner persönlichen Verbindlichkeit und Klarheit, Einfluss über seine Amtszeiten als Politiker hinaus und über Parteigrenzen hinweg.
Es gibt nur einen bundesdeutschen Kanzler dem ich da noch mehr historische Bedeutung einräumen würde. Das ist eben sein direkter Vorgänger Willy Brandt, der früh schon Gewissensentscheidungen zu fällen hatte und auch in jungen Jahren darin reifer entschied, als je Schmidt.
Dafür aber, war Schmidt in seiner oft auch nur zur Schau getragenen Nachkriegsrationalität und der damit verbundenen Gefühlsabwehr, bis auf die drastischen verbalen Ausbrüche unter politischen Schach- und Schauspielern, näher an der Männergeneration, die spät und eben durch die Kriegskatastrophe erst wirklich, einsahen, was da mit Deutschland und den Deutschen, mit ihnen, passiert war.
Es fällt mir wirklich schwer, einem 96jährigen Landsmann mit so vielen Meriten kritische Worte nachzuschicken.
Bezüglich seiner unglaubwürdigen Selbstdarstellung im Zusammenhang mit den den NS- Verbrechen, er habe davon nichts oder nicht viel gewusst, auch von den Repressalien im Vorfeld des Krieges nicht viel mitbekommen, wie er in seiner Biografie schreibt, haben ihn beste Freunde zur Rede gestellt.
In seiner Autobiografie schrieb er über seine eigenen, emsigen Publikationen, die ihm nun als unermüdliche publizistische Anstrengungen und Glanztaten ausgemalt werden (Sie sind es, weder sprachlich, noch inhaltlich), sie seien eben gut fürs Geschäft und um im Gespräch zu bleiben.
Ganz sicher, dazu schreibt Wwalkie, trug er dazu bei, den Kurs der SPD als "Sozialstaatspartei" aufzuweichen. Er hat damit die "Wende" eingeleitet, die Kohl an die Macht brachte.
Aber das war nicht unbedingt nur seine Initiative, sondern eine allgemeine, europäische Entwicklung und eben hauptsächlich der politische Wille der später so genannten "Lambsdorff- FDP".
Schon gar nicht mehr in Amt und Würden, setzte sich Helmut Schmidt für die Idee des Weltethos ein und setzte damit doch sehr fort, was Brandt im Grunde auch wollte. Die KSZE-Schlussakte von Helsinki konnte er, wie Honecker, unterschreiben, weil sich zu diesem Zeitpunkt die zwei Jahre davor eingeleiteten Verhandlungen äußerst günstig entwickelt hatten. Schmidt und Genscher setzten fort, was Brandt/Scheel/Gentscher eingeleitet hatten. 1975 gabe es ein seltenes und einmütiges Bekenntnis aller europäischen Staaten, Kanadas und der USA zu einer Friedenspolitik auf der Basis von Verträgen. Die "Körbe" von Helsinki waren der rechtliche Ausgangspunkt für die späteren, revolutionären Ereignisse: Bezugs- und Berufungspunkt für Bürgerrechtler und Reformpolitiker.
Schmidt wurde immer als Anhänger der Ideen Karl Poppers angesprochen und auch ein wenig dafür belächelt. Tatsächlich aber, war seine Orientierung wohl eher von Kants Ideen zu Verträgen und einem allgemeinen Frieden der Menschheit geprägt. Der Wille, auf einer Vertrauensbasis verbindliche Verträge zu schließen und diese auch einzuhalten, selbst mit ideologischen Gegnern, ist aber die wesentliche Grundlage moderner Diplomatie und Außenpolitik, wenn sie nicht zur Gewaltpolitik verkommen will.
Der Wille jener Politiker-Generation vor und direkt nach Schmidt, dies einzusehen, er fehlt heute.
Man vergleiche den Prozess, den gestern der britische Premier Cameron, mit seinen Forderungen an die EU einleitete, mit der Rolle aller Staatspolitiker in der Brandt/Schmidt- Ära, und man wird leicht feststellen, dass eine neue Zeit mit egoistischen Nationalpolitikern zukünftig nicht unwahrscheinlich ist.
Ihnen nur das Beste
Christoph Leusch
Kommt eher selten vor,
dass ich WWALKIE zustimmen kann. Hier jedoch schon, was den damals wohl ersten und obersten Neoliberalen, den wirklichen Genosse der Bosse betrifft. Nach einer kleinen Pause durfte Schröder nebst grünem Anhang ab Ende 1998 das nicht nur theoretisch bereits vorgespurte Werk von Schmidt dann fortsetzen..
Nur heute, und das entnehme ich aus so verschiedenen, in dieser Richtung zustimmenden Einlassungen des genannten Kommentators, steht doch die SPD nebst grünem Anhang genau in dieser Schmidt'schen-Tradition, geht zunehmend darüber hinaus, geht zunehmend innen- wie außenpolitisch darüber hinaus..
Ok, WWALKIE hat ja hier nur aufgezählt, nicht gewertet.
Aufgewachsen in den 50er-Jahren erlebte ich intensiv das Gefühlsleben und Selbstverständnis der Generation der Kriegsteilnehmer. Weit verbreitet war damals das Gefühl: "Wir" (die Deutschen) haben den Krieg verloren. Was einerseits richtig war, aber vermissen ließ, dass wir als "Kriegsverlierer" etwas gewonnen haben, nämlich Freiheit und Demokratie und Chancen für eine bessere Zukunft.
Helmut Schmidt gehörte nicht zu denen, die den Krieg verloren hatten,* er blickte nach vorne und wirkte tatkräftig mit, an einer besseren Zukunft für Deutschland und Europa zu arbeiten.
Das spürten die Menschen und dafür wird ihm gedankt.
*Das hat etwas mit der Geisteshaltung zu tun.
>>Und dann noch so ein Mann , der Statur besaß und auch noch "gedient" hatte.<<
Und zwar richtig im Krieg gedient: Leningrader Blockade!
Ein kerndeutscher Offizier, den sich jeder Depp als Führer vorstellen kann.
>>Hier jedoch schon, was den damals wohl ersten und obersten Neoliberalen, den wirklichen Genosse der Bosse betrifft.<<
Der erste „Neoliberale“ vielleicht schon. Genossen der Bosse aber gab es in SPD auch vorher.
Enschuldigung mein Kommentar bezog sich auf diesen Kommentar von wwalkie
Das ist mir bekannt und das habe ich bei meinem Kommentar auch mitgedacht, will sagen: ich habe mir überlegt, ob ich bei wwalkie oder Magda kommentieren soll. Ich habe mich dann für den "einen Aufwasch" entschieden.
Womit ich nicht behaupten will, ich sei nicht dumm....;)
Ergnzend dazu:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=28629
Lesenswert auch Jürgen Trittin:
http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-11/helmut-schmidt-nachruf-juergen-trittin/komplettansicht
Müller war nah dran und ganz viele seiner Einschätzungen teile ich (Man könnte auch sagen, er hat Mut ausreichend nachdenklich zu sein). Auch Trittin ist zu einer fairen Betrachtung in der Lage.
Heute stand bei der FAZ- online noch ein Interview Kaubes und Bahners mit dem Verstorbenen, aus dem Jahr 2011. Da geht Schmidt näher auf die ethischen Grundlagen ein, die ihm was galten.
So, wie Schmidt, vielleicht aus einer inneren Scham heraus, seine persönliche Erinnerung bezüglich der NS- Jahre formte, dafür auch kritisiert wurde, übte er zum Beispiel auch vorsichtige Kritik an seinem treuen Freund Henry Kissinger, der wahrlich einiges fast Unerträgliches als politischer Akteur und Mitwisser auf dem Kerbholz hat (Man lese nur einmal wieder dessen "Years of Upheaval").
Aus alten Tagen, bei der ZEIT- online bloggend, steht da noch eine umfangreiche Rezension der Schmidtschen Autobiografie: Was sie bietet, was sie weglässt.
Wer es lesen mag, wird es auch finden.
Beste Grüße und dawei
Christoph Leusch