„Jeder schreibt für sich allein“: Die nicht vor den Nazis flohen
Kino In Dominik Grafs Dokumentarfilm „Jeder schreibt für sich allein“ hinterfragt Anatol Regnier die Haltung von Hans Fallada, Erich Kästner & Co. zur Zeit des Nationalsozialismus
Ein typischer Dominik-Graf-Protagonist: Anatol Regnier, hier mit Henrike Stolze
Foto: Piffl Medien/Kulturmeisterei
Schläft ein Lied in allen Dingen heißt ein Sammelband mit „Texten zum Film“ von Dominik Graf. Das titelgebende kurze Gedicht Joseph von Eichendorffs steht am Anfang des Buches, gibt den Ton vor für kürzere und längere Essays, in denen sich der Regisseur Graf voller Scharfsinn und Sympathie mit Filmen der Kinogeschichte, aber auch mit TV-Serien auseinandersetzt und einige seiner Weggefährten porträtiert. Das passt, denn Eichendorffs Zeilen von 1835 entsprechen dem poetischen Geist, in dem Graf arbeitet. Seine Kinofilme, wie zuletzt die fulminante Kästner-Adaption Fabian, seine TV-Krimis und auch die Dokumentarfilme sind immer auf der Suche nach Zauberworten, die Dinge zum Vorschein bringen.
Das kann bis ins metaphysisch Raunende gehen; nich
hysisch Raunende gehen; nicht von ungefähr nannte Graf einen filmischen Essay über seinen Geburtsort München Geheimnisse einer Stadt. Die Doku über seinen Vater, den Schauspieler Robert Graf, heißt Das Wispern im Berg der Dinge. In einem der schönsten seiner stets sehenswerten Filme, Die Freunde der Freunde,verweisen leibhaftige Geistererscheinungen auf das Einhergehen von romantischer Liebe und Todestrieb. Das funktioniert so gut, weil Grafs Erzählungen auch stets bodenständig sind, Hand und Fuß haben, weil sie sich dezidiert für das Leben interessieren, für die Mechanismen des Gemeinwesens und die Gesetze der Halb- und Unterwelt.Nun hat Dominik Graf einen neuen, gewaltigen Dokumentarfilm vorgelegt. Der oben beschriebene Duktus steht ihm hier manchmal im Weg, öffnet aber gedankliche Horizonte, für die das Kino, wo der Film nun trotz seiner 167 Minuten laufen wird, den optimalen Rahmen abgibt.Zunächst einmal ist Jeder schreibt für sich allein eine filmische Übersetzung des gleichnamigen Buches, in dem der Autor und Chansonnier Anatol Regnier sich mit SchriftstellerInnen im Nationalsozialismus auseinandersetzt. Im Fokus stehen jene, die nicht ins Exil gegangen sind, sei es als aktive Unterstützer des Regimes, wie Gottfried Benn, oder aus anderen, mehr oder weniger rätselhaften Gründen, wie Erich Kästner oder Hans Fallada. Nach diesen Gründen forscht Regnier, in Archiven und an Schauplätzen. Er legt dabei Zeugnis ab von der zerrissenen Liebe zu einem Teil jener Literatur, die trotz und auch aufgrund der herrschenden Verhältnisse zwischen 1933 und 1945 in Deutschland entstand. Regniers Buch erschien vor drei Jahren und liest sich, so wird Dominik Graf dort einleitend zitiert, „wie die Beschreibung eines Erdbebens, ein erregendes historisches Panorama dutzender Lebensdramen und katastrophaler Biografien“.Es scheint, als hätte der Regisseur schon bei der Entstehung des Buches immer wieder die Kamera draufgehalten. Dabei wirkt Anatol Regnier nun manchmal wie der Protagonist eines typischen Graf’schen Spielfilms, wie ein Detektiv, der hin und wieder mit seinem Auftrag hadert, aber vom Erkennenwollen immer weitergetrieben wird. So folgt man dem Helden in die Keller des Literaturarchivs Marbach, ins Fallada-Haus in Carwitz oder auch in ein Hotelzimmer, in dem einst Klaus Mann wohnte. An jeder Ecke lauern assoziative Abzweigungen, nicht zuletzt weil Regnier selbst der Literaturgeschichte entsprossen ist. Seine Mutter Pamela Wedekind war mit Klaus Mann verlobt, bevor sie Charles Regnier heiratete, was Anatol sowohl zum Enkel des Dramatikers Frank Wedekind als auch zum Sohn eines legendären Schauspielers machte. Es ist eine Lust, zu sehen, wie der mittlerweile 78-Jährige hier auf Entdeckungsreise geht und mit ExpertInnen und Zeitzeugen ins Gespräch kommt.Allerdings: Ein Wissenschaftler oder Journalist ist Regnier nicht. Vielleicht erweist sich hier auch deshalb manche Ausführung als angreifbar. Irgendwann heißt es etwa von Hans Fallada, er habe „unpolitisch“ geschrieben, was angesichts seiner Romane (wie Wolf unter Wölfen oder natürlich der 1947 erschienene Jeder stirbt für sich allein) völlig haltlos ist. Offenbar bezieht sich Graf da auf eine der schwächeren Stellen der Buchvorlage, wo Regnier im Archiv Falladas Kalender findet, fast nur Aufzeichnungen zu Wetterlagen und Viehfutter entdeckt und daraus schließt, der Autor habe „konsequent weggeschaut“. Der Film geht mit seinen Quellen weniger kritisch um, als man eigentlich erwarten könnte, zumal sein sonstiger, bisweilen überbordender Einsatz von Propaganda-, Literatur- und Archivmaterial immer wieder eine medienkompetente Einordnung verlangt.Eine sehr westdeutsche SichtAuch das wiederkehrende Grübeln über das Verhalten von Kunstschaffenden in einer Diktatur wirkt irgendwann eher rhetorisch, wenn man es versäumt, noch sehr lebendige Zeitzeugen aus anderen Systemen zu diesem Thema zu befragen. Die DDR beispielsweise kommt in Jeder schreibt für sich allein nur in Gestalt eines Ausschnitts aus Roland Gräfs Film Fallada – Letztes Kapitel vor. Dominik Graf bevorzugt historische Rückgriffe auf frühere Jahrhunderte, streift die Studentenproteste von 1968 und beschäftigt sich mit einer Schnittstelle von westdeutscher Literatur und RAF. Das ist alles klug und spannend, aber eben auch eine sehr westdeutsche Sicht auf die Dinge.Zu schlechter Letzt haut Graf gleich zu Beginn seines Films daneben. Langsam lässt er die Kamera über verlorene Schuhe gleiten, die irgendwo an Straßenrändern herumliegen, kommentiert sie mit sanft raunender Stimme aus dem Off und interpretiert sie als Todesboten, die einem jedes Mal einen Schrecken einjagen. „Das wissen wir Deutschen am besten“, sagt er noch und beendet damit den angelegten Gedankengang zu den Schuhbergen der Konzentrationslager. Solches Besprechen banal scheinender Dinge ist ein typisches Stilmittel in Grafs Filmen. Hier führt es aber weniger in die Tiefe, sondern wirkt seltsam deplatziert in der nebulösen Beiläufigkeit, mit der hier offenbar zunächst der Opfer der Shoah gedacht werden soll, bevor man sich über zweieinhalb Stunden lang den Überlebenden und auch Nutznießern des Nazi-Regimes widmet.In der Regel aber sind Grafs originäre Beiträge zur Detektivarbeit Regniers ein Gewinn. Das gilt auch für die zentralen Fragen: Warum sind manche deutsche AutorInnen, von denen man es eigentlich erwartet hätte, nach 1933 nicht ins Exil gegangen? Wie konnten sie in Deutschland leben und schreiben? Bis hin zu: Kann man Nazi sein und gleichzeitig gute Kunst schaffen? Manche Erklärungsversuche klingen nach Entschuldigungen, rutschen ins Pathologisieren ab. Da heißt es von dem einen, er sei depressiv gewesen, ein anderer war vielleicht zu protestantisch, patriotisch, und für manch einen sei wohl das gesellige Biertrinken unter Landsleuten unverzichtbar gewesen.Aber Graf umrahmt das alles mit der Geschichte des US-amerikanischen Psychiaters Douglas Kelley. Der untersuchte im Vorfeld der Nürnberger Prozesse die Zurechnungsfähigkeit der angeklagten NS-Elite. Der dabei zum Einsatz gekommene Rorschachtest wabert hier manchmal formatfüllend über die Leinwand. Graf deutet wiederholt an, die Ergebnisse dieser Tests seien lange unter Verschluss geblieben – zu gespenstisch scheint die Erkenntnis, dass Göring, Heß und ihre Mannen eher keine dämonischen Monster waren, sondern – in gewisser Hinsicht – auch ganz normale Menschen. Das ist keine neue, aber eine doch immer wieder wirkungsvolle Erkenntnis. Hier lauert der Blick in den eigenen Abgrund; hier werden Bögen gespannt, die weder die Protagonisten auf der Leinwand noch das Publikum leichtfertig aus ihrer Umklammerung entlassen.Graf legt hier eine Wurzel jener „Angst“ frei, die Regnier, so schreibt er zu Beginn seines Buches, im Rahmen seiner Recherchearbeit immer wieder überkommen habe. Konkreter wird der Autor dabei nicht. Aber es scheint, als würde hier die Kehrseite von Eichendorffs eingangs erwähntem Gedicht ihre Schatten werfen und für ein Unbehagen sorgen. Es hat mit dem Misstrauen gegenüber den Menschen zu tun, die man doch eigentlich liebt, mit der Frage: Was machte die Menschen für die braunen Verführungen so empfänglich?„Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort“, so das Eichendorff-Gedicht. Aber was, wenn es sich dabei um schwarze Magie handelt? Auch die Nazis hatten ihre Lieder, und in der Nachbetrachtung ließ sich gewissermaßen ein ganzes Volk aus dem Schlaf reißen, als es vom Zauberwort „Heil!“ getroffen wurde. Darin hallt dann auch Grafs und Regniers Ahnung wider: Es bräuchte fürchterlich wenig, um alte Nazi-Gespenster von neuem zu erwecken.Eingebetteter Medieninhalt