Innere seelische Schwingungen auf die Leinwand gebannt

Ausstellungs-Tip Im August beging der Berliner Maler, Grafiker und Bildhauer Harry T. Böckmann seinen 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass präsentiert der Kulturklub „RatzFatz“ in Schöneweide eine Personalausstellung mit Werken aus 35 Jahren

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Es heißt, die Berliner Kunstszene gelte als die attraktivste in Europa, wenn nicht weltweit und brauche den Vergleich mit New York, London oder Paris nicht zu scheuen. Die Stadt verfüge gar über mehr Künstlerateliers als die anderen Kunstmetropolen und bringe die größte Kunstproduktion weltweit hervor, sei so zum Mekka der bildenden Künste geworden und habe Kunst und Kultur schlechthin zu charakteristischen Standortfaktoren Berlins als Touristenmagnet erhoben. Da denkt man zunächst natürlich vorrangig an die Museen und Galerie-Meilen in der City. Dabei hat auch die Peripherie der Hauptstadt vielerorts ein vielgestaltiges bildkünstlerisches kreatives Leben aufzubieten, das unverdientermaßen im Schatten der Highlights steht und mehr Aufmerksamkeit verdiente.

Zu dieser „peripheren“ Berliner Kunstszene gehört der Maler, Grafiker und Bildhauer Harry T. Böckmann. Seit ewigen Zeiten in Bohnsdorf im Berliner Süd-Osten ansässig und dort seit 35 Jahren freischaffend wirkend, hat er einen festen Platz in der Treptow-Köpenicker Kunstszene und ist trotz seines hohen Alters ungebrochen produktiv. Überdies vermittelt er seit vielen Jahren in Malkursen im Kulturbund-Club in der Ernststraße in Berlin-Baumschulenweg und in der „Kulturküche“ Bohnsdorf, beides Einrichtungen des Netzwerkes „Kulturring in Berlin“, interessierten Laien sein Können. Er gehört zur Generation der Kriegs- und Luftschutzbunker-Kinder, der Flüchtlings- und Nachkriegskinder. Angst, Hunger, Entbehrung gehören zu ihren frühkindlichen Urerlebnissen, die ihr weiteres Leben auf die eine oder andere Weise prägen sollten. Harry T. Böckmann steht dort in einer Reihe mit solchen in diesem Bezirk bekannten Künstlern wie Barbara Kirchner, Barbara Müller-Kageler, Manfred Hahn, Klaus König, Achim Kühn, Gerhard Lahr, Rüdiger Roehl oder Siegfried Schütze.

Auch Harry T. Böckmann verkörpert mit seinem sehr eigenen, verschlungenen Lebenswerdegang die Schicksalswege dieser Generation, wenn auch auf eine etwas auffällige Weise gleich mehrere ungewöhnliche Verquickungen miteinander verknüpfend: Den Sohn einer exilrussischen Mutter aus großbürgerlichem Moskowiter Hause und eines Vaters aus dem schwedischen Hochadel verschlägt es mit der Mutter zunächst in das Berlin der Bombennächte und der Nachkriegsnot. Er wächst dann mehrsprachig auf dem feudalen Landgut seines schwedischen Großvaters auf, der, selbst Maler, sehr bald das künstlerische Talent des Heranwachsenden entdeckt und fördert. In dieser für ihn glücklichen Kindheitsphase liegen die Wurzeln für Böckmanns nie erloschenen Drang, sich bildkünstlerisch auszudrücken, ein Drang, der schon im Alter von 12 Jahren mit einer eigenen Ausstellung in der Königlich- Schwedischen Akademie der Schönen Künste belohnt und befeuert wird.

Seine Schulzeit ist durch eine weitere a-typische Kombination charakterisiert, der von naturwissenschaftlicher und künstlerischer Förderung. Und schließlich ein dritter neben der Spur liegender Lebensstrang, den man ihm wohl kaum an der Wiege gesungen haben dürfte: Bedingt durch vielerlei familiärer Zufälle und historischer Schicksalswendungen landet der kosmopolitisch-polyglott aufgewachsene Großbürger- und Adelsspross später ausgerechnet in der sich als Arbeiter- und Bauernstaat verstehenden DDR und nimmt sogar nolens volens deren Staatsbürgerschaft an. Das ist wahrlich ein nicht alltäglicher biografischer Cocktail aus Gegensätzen sprachlich-kultureller, sozialer und Bildungsprägungen.

Die Neigung zum Gegensätzlichen sollte auch seinen späteren Bildungsweg in der DDR bestimmen. Vor seinem Abschluss als Dipl. Ing. für Maschinenbau erlernt er mehrere Metallberufe, erwirbt daneben ein Sprachendiplom als technischer Übersetzer für Russisch und Schwedisch, hört Vorlesungen zur Kunstgeschichte und Philosophie und quält sich freiwillig mit Hegels Dialektik. Sein Leben, sein reales wie das in seiner Vorstellung, scheint sich in diesem Spannungsfeld zwischen naturwissenschaftlich-mathematischer und künstlerischer Weltwahrnehmung und Selbstentäußerung abzuspielen.

Aber auch als Künstler schimmern seine Prägungen und Neigungen zur schöpferischen Kombination von Gegensätzlichem durch. Freunde und Verehrer seiner Kunst haben Harry T. Böckmann das Pseudonym „Sinus“ verpasst, das ihm gleichsam zum Label geworden ist. Wer sich noch dunkel an die qualvollen Mathematik-Stunden mit der Berechnung von Kathete und Hypotenuse erinnert, wird mit der sehr komplexen Sinusfunktion wohl vor allem Eines assoziieren: die Beschreibung von Schwingungen. Möglicherweise erleichtert diese Charakter-Metapher des Künstlers den Zugang zu seinen Bildern, wenn man sie in ihrer Bildrhythmik als unbewusste Ausdrucksformen innerer seelischer Schwingungen ansieht.

Diese Hypothese drängt sich vor allem bei seinen Figuren auf. Hinter einer mitunter mathematisch-streng anmutenden Bildkomposition und Figurendarbietung verbirgt sich unverkennbar ein sehr spontaner, schwunghafter und emotionaler Gestus, ganz so, als ob sich in diesem ästhetischen Spannungsfeld die beiden Seelen in der Künstlerbrust zwischen der naturwissenschaftlich-technischen und ungebunden-kreativen Neigung ihren Ausdruck erheischen. Es sind gefühlsspontane Konzentrate angestauter emotionaler Erinnerungen. Er male am liebsten intuitiv „drauflos“, ohne Regelzwänge und kompositorischen Plan, bekennt Böckmann freimütig, dem selbst nie eine kunstakademische Ausbildung vergönnt war. So muten seine Bilder oft an wie wachgerufene sensuelle Highlights, Gefühlserinnerungen, Evokationen aus den Tiefen des Unbewussten.

Ein durchgängiges, verklammerndes Muster seiner Bilder ist auf den ersten Blick eigentlich nicht so ohne weiteres erkennbar. Vor allem ergibt sich die Frage, was die verschiedenen Vorlieben zu so unterschiedlichen Sujets miteinander zu tun haben könnten, wie die stillen Baumlandschaften, die verträumt-pittoresken venezianischen Ecken und Szenen, die erotisch-knisternden Akte und Körperstudien, die großflächigen, in ihrer sehr freihändigen allegorischen Deutung wenig religiöse Ehrfurcht einflößenden Bilder aus der „Genesis“-Serie oder schließlich die abstrakten, lustvollen Farbenspiele ohne figurativen Vorwand. Auffällig dann doch das Spannungsverhältnis zwischen orgiastisch-lustvoll geballter Energie und ruhevoller Zartheit, wie in den Bildern aus dem Sujetkomplex „Zweisamkeit“, so auch der Titel einer früheren Ausstellung. Da kann es schon mal vorkommen, dass dem Künstler in sinnlichem Überschwang die Pferde des Farbduktus‘ durchgehen, wie beim „Date“.

Da wäre dann die betont gesichts- und raumlose, nebulöse Körperlichkeit in den Aktstudien, das Betrachterauge wie bei der berühmten antiken Laokoon-Gruppe auf den „fruchtbaren Augenblick“ lenkend, bei Böckmann der „Goldene Moment“, und auf die Stimmungsambivalenz der erotischen Situation verweisend: das stürmisch-begehrende Vorher und das nachhallend-abklingende Nachher mit seinem versunkenen In-sich-Hineinhorchen. Zugleich reflektieren die sehr assoziationsreich mit „Körperlandschaften“ betitelten Akte die Lust am sinnlichen Entdecken des geliebten weiblichen Körpers, so wie man eine geheimnisumwitterte Landschaft entdeckt, aber zugleich auch den ehrfürchtigen Respekt vor ihm. Auffallend dabei die Vorliebe Böckmanns für zwielichtige Übergänge („Morgenstunde“, "Frühlicht aus dem Pariser Hotelfenster", „Blaue Stunde“ usw.). Dafür drängt sich nachgerade der Topos „Liebesdämmerung“ auf.

In der Kritik werden Böckmanns Bilder als Ausdruck „subtiler Poesie“, „offener Lebensfreude“, „schwärmerischer Flüchtigkeit“ gesehen, die von seiner Lust am „Spiel auf der Klaviatur der Farben und Lichter“ zeugten (Swoboda Jähne). Seine eigene Methode, Acrylfarben und Pigmente zu kombinieren, führe zu einer eigentümlichen Synthese von farbiger Sattheit und Tiefe. In der Tat, die Schattierungen zwischen Giftgrün und Kobaltblau erinnern an die Palette eines Franz Marc oder August Macke. Auch die Parallelen zwischen den „unendlich schwingenden Grundlinien, Kehlungen der Landschaften“ und den „kurvig fließenden Farbfahnen und Formen“ der Körperlandschaften springen ins Auge. Wie der weibliche Körper als eine zu entdeckende Landschaft, so wohnt andererseits den klassischen Landschaften Böckmanns so etwas wie das „ewig Weibliche“ inne. Von beiden fühlt er sich gleichermaßen angezogen, um mit Goethe zu reden.

Als Maler hat sich Harry T. Böckmann in unterschiedlichen Techniken ausprobiert. In der Neigung, das Malerische mit dem Grafisch-Zeichnerischen zu verbinden, hat er lange Zeit Acryl und Pastell bevorzugt. Auf Reisen hingegen stand stets das Aquarell im Vordergrund. Durch Zufall, genauer eine Art Unfall, kam er dann auf eine völlig neue Technik: Beim Signieren verkippte er aus Schusseligkeit ein Tuschefläschchen auf einem fertigen Bild. Das Bild war hin, zumindest in seiner ursprünglichen Gestalt. Der erste Schreck musste schnell der Lust weichen, aus der Not eine Tugend zu machen, denn die auf dem Blatt ergossene Farblache bildete bizarre Formen und weckte das kreative Interesse. Da nun eh nichts mehr zu retten schien, kippte er kurzerhand eine weiteren, diesmal schiefergrauen Farbklecks dazu, um staunend mit der Interaktion beider Farblachen quasi ein neues Bild entstehen zu lassen. Das war die Geburtsstunde seiner neuen Technik mit dem ästhetischen Reiz, der sich einstellen kann, wenn man den Farben gleichsam freien Lauf lässt und das Entstehende als Angebot auffasst, das man annehmen oder ausschlagen kann. Den auf diese Weise entstehenden Bildern ist also neben dem geplant Beabsichtigten eine gehörige Prise Zufällig-Anarchisches beigemischt. Dabei sollen die unteren „Willensschichten“ mit ihren Stimmungscodes stets hinreichend durchschimmern und identifizierbar bleiben. Das Chaos steht gleichsam unter Aufsicht einer künstlerischen Grundidee. Böckmann liebt auch in seiner Technik das widerstreitende Spiel der Gegensätze, ist in diesem Sinne wohl ein weiterer indirekter Ausfluss seines ganzen Lebens.

Im August beging Harry Böckmann seinen 80. Geburtstag, dem zu Ehren der bekannte Kulturklub „RatzFatz“ im aufstrebenden Oberschöneweide eine Personalausstellung präsentiert, ein empfohlener Anlass für einen Ausflug in die „künstlerische Peripherie Berlins“.

(„Unterwegs. Harry T. Böckmann. Malerei und Grafik aus den vergangenen 30 Jahren“, Kulturzentrum Schöneweide „RatzFatz“, Schnellerstr. 81, 12439 Berlin (S-Bh. Oberspree), 7. Oktober bis 28. November 2022, Vernissage 7. Oktober, 15 Uhr)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden