Fotografien durch das Auge des Malers

Fotoausstellung „Mexiko und anderswo“ - Zum Monat der Fotografie Berlin präsentiert die Bohnsdorfer Kulturküche Arbeiten von Jürgen Schnelle, die auf seinen Reisen jenseits touristischer Trampelpfade entstanden

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Zu den stadtrandständigen Berliner kieznahen kleinen Kultureinrichtungen gehört seit 1990 die Kulturküche Bohnsdorf im Bezirk Treptow-Köpenick. In den Wendewirren aus einem dubiosen und geheimnisumwitterten, im Volksmund „Giftküche“ genannten Gebäudekomplex nach Vertreibung von dessen „Mietern“ hervorgegangen, wirkt sie unter dem Trägerdach des „Kulturring in Berlin e.V.“, eines berlinweit agierenden Netzwerkes bürgernaher Kultureinrichtungen.

Seit ihrem Bestehen wurde in dieser Kulturküche schon so manches schmackhafte Menü kredenzt. Als Beitrag zum heute startenden diesjährigen Europäischen Monat der Fotografie Berlin steht gegenwärtig eine Foto-Kollektion von Jürgen Schnelle auf der Speisekarte. Seit Jahrzehnten gleich nebenan in der berühmten Taut‘schen Tuschkastensiedlung ansässig, kann er auf ein reiches künstlerisches Oeuvre vielfältiger Genres und Techniken zurückblicken. Vor allem als Maler und Grafiker hat er in der bezirklichen Kunstszene einen markanten und dessen künstlerische Antlitz mitprägenden Platz inne.

Die Fotografie ist da wohl eher ein künstlerischer Beifang, ein beiläufiges Kollateralprodukt des umtriebigen Globetrotters, der es nicht lassen kann, auf seinen vielen Reisen in die entlegensten Weltgegenden schweifenden Auges seine Eindrücke am bildnerischen Schopfe zu packen. In frühen Jahren seines Umherschweifens, nolens volens in engeren geografischen Grenzen, diente die Kamera eher als visuelle Gedächtniskrücke des Motivs für das Atelier, wo nach den Skizzen en plein air die Bilder entstanden. Erst später entwickelte sich daraus eine eigenständige künstlerische Ausdrucksform.

Dieses schweifende Auge bleib allerdings das Auge des Malers, d. h. bevor Schnelle auf den Auslöser drückt, hat er sich wie vor der Staffelei schon ein Bild von dem Bild gemacht, das dabei herauskommen soll: grafische Struktur und durchdachtes kompositorisches Gleichgewicht des Bildaufbaus, das Spiel mit den Kontrasten von Licht und Schatten, die Suche nach einem narrativträchtigen Eyecatcher, der sparsam-subtile Umgang mit den Farben bei den wenigen Farbfotos usw.

Da liegt es also nahe, diese Fotos in Beziehung zu seinen Bildern zu setzen und bei der Betrachtung im Hinterkopf zu haben. Da sind vor allem seine Landschaftsbilder in ihren urwüchsigen, elementaren und zivilisationsfernen Gestalt. Kontemplative Beschaulichkeit und romantische Harmonie ist ihnen fremd. Die Blaue Blume der Romantik sucht man darin vergebens. Steine, Gebirgsbäche, Felslandschaften, Steinwüsten, Ur-Wald oder Wolkengebirge erstarren in stark abstrahierten flächigen Strukturen zu bizarren Gebilden.

Man wird nicht umhin können, ähnliches in seinen Fotos wahrzunehmen. Entstanden sind sie auf ausgedehnten Reisen in solche abgelegenen Weltgegenden wie Grönland, Island, im Hochland von Chiapas in Mexico, Patagonien, Feuerland, der legendären Magellanstraße, Chile usw.

Auch hier scheint sich das Künstlerauge bevorzugt auf die Kargheit der Landschaften fern zivilisatorischer Opulenz zu fokussieren. Auffallend dabei die Neigung, dem Vordergrund einen dominierenden und strukturbildenden Akzent einzuräumen, damit die auswählende und bewußt gestaltende Präsenz des Künstlers betonend. Es ist stets die ausgeprägt subjektive Perspektive der Sichtachsen, die die Bildwirkung bestimmen.

Manchmal wird der Betrachter mit einer Art bildkonstitutivem Eyecatcher auf ein dominantes Motivelement gelenkt, das eine ganzes, die Phantasie beflügelndes Narrativ auslösen könnte. Das kann ein einzelner Holzpflock oder eine verlassene Hütte in einer weiträumigen baumlosen Gerölllandschaft sein oder ein unscheinbar wirkender Mensch in der Kulisse der monumentalen Stufenpyramide in der Ruinenstadt Uxmal. Es sind ambivalente Zeugnisse stummer, versteckter Präsenz des Menschen in seiner ganzen Winzigkeit angesichts einer übermächtig-dominanten, zivilisationsfernen Umgebung, aber auch der Mühsal seiner Existenz unter mühseligen Lebensbedingungen. Das erinnert an das berühmtes Gedicht aus den Buckower Elegien von Brecht:

Das kleine Haus unter Bäumen am See.
Vom Dach steigt Rauch.
Fehlte er
Wie trostlos dann wären
Haus, Bäume und See.

Jürgen Schnelle ist also durchaus nicht so menschenscheu, wie die menschenleere Düsternis mancher seiner Landschaftsbilder vermuten läßt. Aber auch seine Fotos wären trostlos ohne die subtile Präsenz des Menschen, und sei es die des Künstlers in seiner erspürten kreativen Wahl des Motivs und der Bildkomposition.

Schnelle gibt nicht vor, sich seinem Thema zu „nähern“. Er folgt bei seiner Motivsuche nicht einem vorgeformten Konzept, das es zu illustrieren gälte. Seine Fotos kommen gleichsam „aus dem Bauch“, mit einem sicheren Gespür für den „moment décisif“, wie Henri Cartier-Bresson ihn verstand. Es sind Resultate plötzlicher Eingebungen mit sicherem Instinkt für die visuelle Verblüffung. Mit subtiler Sensibilität fängt er etwa kleinstädtische Alltags-Szenen im mexikanischen Hochland ein, ohne den dortigen Menschen zu nahezutreten.

Wer sucht, wird auch in den Fotos unvermeidlich auf ein gleichsam philosophisches Konzentrat stoßen, ein amorphes Grundgefühl der Zeitlosigkeit, des ehrfurchtsvollen Respekts vor den Urgewalten der Natur, des ewig Gleichförmigen, der Faszination der Ewigkeit usw., ohne dies jedoch als eine eindeutig verbalisierbare Botschaft missverstehen zu dürfen. Mit Konzeptkunst hat Jürgen Schnelle erklärtermaßen nichts am Hut. Wie in seinen Bildern ist auch in seinen Fotos folgerichtig kein Platz für weichgespülte romantische Stimmungen oder trügerische Idyllen. Seine Reisebilder haben nichts gemein mit verlogen Touristenidyllen, wie sie dem Pauschaltouristen in den kolorierten Hochglanzkatalogen vorgegaukelt werden. Kurz, die Arbeiten von Jürgen Schnelle, die Bilder wie die Fotografien, sind kein marktförmiges visuelles Fast Food.

Es ist schon fast banal zu sagen, wir lebten in einer Welt, deren Wahrnehmungsweise von einer unaufhörlich anschwellenden Bilderflut geprägt ist, immer bunter, immer greller, immer schneller, immer beliebiger, die Grenzen zwischen Realem und Virtuellem, Wirklichkeit und Inszenierung, Natur und Manipulation verwischend. Es ist jene von der Warenästhetik konditionierte hastige „Welt der schönen Bilder“, wie sie Simone de Beauvoir schon vor mehr als einem halben Jahrhundert abwehrend beschrieb.

Jürgen Schnelle gehört ersichtlich zu denjenigen Künstlern, die versuchen, mit ihren Arbeiten und dem Mut zum Schwarz-Weiß und der analogen Fotografie dieser übersättigenden Inflation verlogener Fließbandbilder im digitalen Zeitalter einen Hauch von subjektiver Ursprünglichkeit, innehaltender Nachdenklichkeit und elementarer Besonnenheit entgegenzusetzen.

So mag sich diese Ausstellung zu diesem Kontrast verhalten wie ein gesund-bekömmliches vegetarisches Menu zu fett-triefender Völlerei, um in der in dieser Location angemessenen kulinarischen Metaphorik zu bleiben. Wohl bekomm‘s!

„Mexiko und anderswo - Fotografie von Jürgen Schnelle“
Bohnsdorfer Kulturküche, Dahmestraße 33, 12526 Berlin, Tel. +49 30 67 89 61 91, bohnsdorf@kulturring.berlin
Bis 14. April 2023, Montag bis Freitag 12 bis 18 Uhr sowie bei Veranstaltungen

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