It‘s structural, stupid!

Literatur Simone Lück-Hildebrandt und Reinhard Hildebrandt haben ein Buch geschrieben, das sich mit struktureller Gewalt – unter anderem in der DDR – befasst

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Es geht auch ohne
Es geht auch ohne

Foto: Richard Revel/Pixabay

„Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“ (Bertolt Brecht, Me-Ti. Buch der Wendungen)

Unsere alltägliche mediale Wahrnehmung des Weltgeschehens ist durch das Thema Gewalt beherrscht: Srebrenica, der dschihadistische Terror gegen Un- und auch nur Andersgläubige, die Eskalation von Polizeigewalt und Racial Profiling nicht nur in vielen US-amerikanischen Bundesländern und BLM als Gegenbewegung, die gewaltsame Unterdrückung der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, Psychoterror gegen politische Opponenten nicht nur in Rußland oder China wie die Psychofolter gegen Assange, nicht zu reden von den zahllosen Kriegsverbrechen aller Antagonisten in den Bürgerkriegsgebieten und die Gewalterfahrung unbeteiligter Zivilisten in den gegenwärtig 128 Kriegen und Konflikten, wie sie im jüngsten Friedensgutachten mehrerer Friedensforschungsinstitute aufgelistet sind, und last but not least das gewaltsame Vorgehen gegen Flüchtlinge – eine endlose Kette.

Die medial sorgsam kanalisierte Perzeption politisch indizierter Gewalt ist zumeist punktuell eventorientiert und auf konkrete akute Gewaltakte von vorsätzlich aktiv agierenden personalen Akteuren oder Tätergruppen gerichtet: Gewalt ist demnach, wenn einem Menschen ein Messer in den Bauch gerammt wird. Die nachfolgenden von Brecht genannten Gewaltformen stehen hingegen weniger im medialen Spotlight-Fokus, wie sie als „strukturelle Gewalt“ die Tiefen der Gesellschaft von deren systemischen Wurzeln her durchwirken. Vor nunmehr 50 Jahren hatte der norwegische Friedensforscher Johan Galtung den tradiert engen Gewaltbegriff um jene Dimension der „structual violence“ erweitert und darunter alles subsumiert, was jegliches Streben nach individueller Persönlichkeitsentfaltung und Emanzipation in Ketten legt. Diskriminierung jeglicher Art zählt er ebenso dazu wie gravierende soziale Ungleichheiten von Einkommen und Bildungschancen. Ihr anonymes Wirken durchsetze das für eine Gesellschaftsformation strukturbildende Gefüge von Werten, Normen, Institutionen, Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Diskursen. Strukturelle Gewalt sei „die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.“ (Galtung: Violence, Peace and Peace Research). Er begriff die Gewalt in der Gesellschaft im umfassenden Sinne als ein Dreieck aus den interdependenten Eckpunkten personale, kulturelle und strukturelle Gewalt. Diese im Grunde neo-marxistische Analyse stieß selbstredend auf heftigen Widerstand der politischen Klasse, die sich damit – zu Recht – am Zeug geflickt sah.

Die Tiefengründe von Herrschaft und Gewalt sind seit je zentrales Thema der Soziologie und politischen Theorien von Marx und Lenin über Max Weber, Carl Schmitt und Bourdieu, um nur diese zu nennen – ein unüberblickbar gewordenes Forschungsfeld jeglichen politisch-philosophischen Kolorits. Der Berliner Politikwissenschaftler Reinhard Hildebrand hat nun zusammen mit Simone Lück-Hildebrand diesem Feld eine neue Frucht abgerungen und in einer gewaltheoretischen Untersuchung das herrschaftstechnische Wirken von „hegemonialen Formationen“ in der von struktureller Gewalt durchwirkten Gesellschaft untersucht.

Die naheliegende Frage, wozu es bei diesem Meer empirischer Befunde und Theorien noch eines weiteren akademischen Versuchs zu diesem Thema bedürfen sollte, beantwortet der Autor mit vorsichtig abgrenzendem Bezug auf Galtung, dem er indirekt vorwirft zu verkennen, „daß in jeder Gesellschaftsformation unabänderlich strukturelle Gewalt enthalten ist.“ Hildebrands Ansatz ist also weniger von einer radikalen Kritik jeglicher Form struktureller Gewalt geprägt als von der Frage nach ihrem zweckdienlichen Ausmaß für den Fortbestand des Gemeinwesens. Im Unterschied zu Galtung und dem Geist der 68er trachtet er nicht danach, Prognosen oder politische Handlungsempfehlungen zu formulieren, wie am besten die strukturelle Gewalt zu bekämpfen sei. Ihm geht es erklärtermaßen eher um die Warnung an die Herrschenden, ein Zuviel an „struktureller Gewalt“ könne die Gefahr in sich bergen, die als notwendig angesehenen Grundfesten des „gesellschaftlichen Ganzen“ ins Wanken zu bringen, also dann, sobald legitime Unterordnungs- in illegitime Unterdrückungsverhältnisse umschlagen und „autonome Einheiten“ vom gesellschaftliche Diskurs ausgeschlossen werden.

Ein solcher Ansatz führt natürlich zu der Frage, ob damit noch der Gewaltbegriff von Galtung gemeint sei, es sei denn, man könne dessem Funktionsmerkmal als Herrschaftstechnik und Emanzipationsbarriere gegen die Unterdrückten auch einen gewissen apologetischen Aspekt abgewinnen. Damit würde man sich allerdings die Schuhe derjenigen anziehen, die als ökonomische und politische Upperclass und ihre Überbau-Prätorianer hinter dieser strukturellen Gewalt stehen und sie möglichst perpetuieren wollen, was allerdings wohl das letzte sein dürfte, worauf der Autor hinaus will, zieht man das ganze Buch in Betracht.

Seinem Thema nähert sich Hildebrand mit dem Begriff der „Hegemonialen Formation“, einer Theoriefigur der sozialwissenschaftlichen Disksursanalyse, wie sie von den Post-Marxisten Ernesto Laclau und Chanta Mouffe auf den Schultern von Gramscis Hegemonietheorie entwickelt wurde. Naheliegend in diesem Kontext daher auch die theoretischen Rekurse etwa auf Lacan, Foucault oder Bourdieu sowie – in kritischer Distanz –die Machttheorie Luhmanns als „codegesteuerte Kommunikation“. Durch dieses methodische Prisma werden solche zeitgeschichtlichen Phänomene wie die „Konservative Revolution“ als Beispiel rechtskonservativer Legitimationsideologien (am Beispiel von Botho Strauss), die neo-liberale Globalisierung, die Finanzkrise von 2008 oder die neo-liberale (Rück)Wende in der Bundesrepublik beleuchtet. Aber auch „progressive“ Rechtfertigungsvarianten struktureller Gewalt bekommen ihr Fett ab: Fast ein Drittel des Buches ist dem „System der strukturellen Gewalt im Sozialismus – am Beispiel der DDR“ gewidmet.

Methodisch folgt das Buch also dem deduktiven Schema, eine stringent auswählende und interpretierende Rekapitulation gängiger machttheoretischer Positionen aus diskurstheoretischem Blickwinkel an der Darstellung konkreter zeithistorischer Phänomene gleichsam zu exemplifizieren. Was beim ersten Lektüreeindruck als gewisse methodische und thematische Inkohärenz erscheinen mag, erweist sich beim tieferen Eintauchen in die Darstellung eher als erkenntnisweitender Vorzug, insbesondere gegenüber der unüberblickbaren Zahl jener Darstellungen zu den hier verhandelten Gegenständen, die mit affektgeladener Verve gleich welcher ideologischer Provenienz daherkommen, einen wissenschaftlichen Text mit einer Anklageschrift oder gar einer richterlichen Urteilsbegründung verwechselnd.

In dem umfangreichen DDR-Kapitel werden zunächst die wichtigsten naheliegenden Themenbereiche abgehandelt, ohne allerdings insgesamt aufregend Neues zu präsentieren. Das Thema, so scheint es, ist wohl schon lange „ausermittelt“, wie es in der Kriminalistensprache heißt. Dennoch verstecken sich darin einige bemerkenswerte vergessene historische Evidenzen, die nicht so recht in das nach 1990 etablierte Geschichtsbild passen wollen und an die zu erinnern man heute gehörig gegen den Strom schwimmen muß. So wird etwa die DDR-Gründung als quasi Plan-B und durchaus nicht bevorzugtes Szenarium der sowjetischen Deutschland-Politik dargestellt, sondern als notgedrungene Reaktion auf die Konstituierung der Bundesrepublik („Stalins ungeliebtes Kind“, Wilfried Loth). Auch an die Tatsache, daß der östliche Teilstaat die massive Hauptlast an Reparationen zu tragen hatte, nachdem Stalin sich in Potsdam die amerikanische Reparationsformel hat aufschwatzen lassen, wird selten erinnert. Diese Reparationen mußten schließlich vom Osten für ganz Deutschland aufgebracht werden, wovor sich die Trizone und spätere Bundesrepublik erfolgreich hat drücken können. Interessant schließlich auch die Erkenntnis über den praktischen Widerspruch zwischen theoretisch-propagandistisch verkündetem totalen Machtanspruch der „Nomenklatur“-Klasse als „hegemonialer Formation“ und ihrer letztlich gescheiterten Fähigkeit, sie in toto auch durchzusetzen, wie das gewaltlose DDR-Ende beweist. Dazu gehört auch die Beschreibung der Spät-DDR als „Nischengesellschaft“ (Günther Gaus), für die Hildebrand konkrete Beispiele sogar aus Bereichen anführt, wo der geübte Konsument der DDR-ologie sie am wenigsten vermutet hätte: der Justiz, der Wirtschaftsplanung, der Gewerkschaften, der Blockparteien, der Wissenschaften, des Bildungswesens und sogar der Presse und des Informationssystems, also nicht nur in der Literaturszene und überhaupt der verästelten Subkultur sowie natürlich der Privatsphäre, alles Belege für die Grenzen der Totalität beanspruchenden „hegemonialen Formation“ des SED-Herrschaftsapparates. Daraus leitet Hildebrand konsequenterweise, wenn auch sehr verhalten, die Frage nach der Tauglichkeit der Totalitarismustheorie Hannah Arendts als vermeintlich adäquates Analyseinstrument für die Beschreibung der DDR-Gesellschaft ab – und überläßt wohlweislich die naheliegende Antwort darauf dem Leser.

Für politologische Texte wie diesen eher ungewöhnlich oft wird, neben Textquellen mit wissenschaftlichen Anspruch, auf Zeitungsartikel als Belege verwiesen, dabei zumeist die Grenze zwischen referierten und auktorialen Erkenntnissen und Urteilen verwischend und manche Aussagen unkommentiert für bare Münze nehmend. Nicht selten werden überdies dabei auch ganz banale Tatbestände und Binsenwahrheiten aus der DDR-Wirklichkeit, die ohnehin die Spatzen von allen Dächern pfiffen, unnötigerweise mit solcherart Quellen belegt. Dankenswert hingegen einige Trouvaillen aus Arbeiten solcher Autoren wie Lutz Niethammer, Rolf Badstübner, Günter Gaus, Hanz-Joachim Maaz, Rolf Henrich, Rudolf Bahro usw., wie sie heute eher selten ausgegraben werden.

Das umfangreiche DDR-Kapitel entläßt den Leser allerdings mit der unbeantworteten Frage: Wäre eine andere DDR möglich gewesen? Für einen machtstrukturellen Analyseansatz nehmen psychologisierende Erklärungen über charakterliche und intellektuelle Defizite des Führungspersonals, wie sie als Ausrede für die Niederlage in der SED/PDS in der unmittelbaren Nachwendezeit beliebt waren, einen erstaunlich großen Platz ein. Eine eindeutige und schlüssige Antwort auf die spannende Frage nach dem Verhältnis zwischen Strukturzwängen im Kräftefeld der gegebenen Rolle der DDR als einer Schachfigur im Spielfeld der Sowjetunion und Faktor in derem Interessenkalkül im Kalten Krieg der Systeme („Knautschzone im Kriegsfalle“), dem oktroyierten doktrinalen Herrschafts-Korsett des Leninismus-Stalinismus und den subjektiv-variablen Handlungsspielräumen der Führungsakteure als „hegemoniale Formation“ bleibt auch Hildebrandt schuldig. Sie erscheint dem Rezensenten als die Kardinalfrage. Es gibt da mithin doch noch was zu ermitteln, was ohne Zweifel auch zu Bourdieu führen würde, der im theoretischen Eingangsteil zitiert wird: „Durch die Definition des Politischen erreicht der herrschende Diskurs, der der Diskurs der Herrschenden ist, eine Art ,Abschließung‘. Indem er stillschweigend den Bereich der realisierten Möglichkeiten als den aller potentiellen Möglichkeiten ausgibt und auf diese Weise den Bereich des politisch Denkbaren abschließt.“ (Die feinen Unterscheide, 1991) Otto Normalbürger erlebt dies heute in solchen Floskeln wie Thatchers und Merkels „There Is No Alternative“ (TINA) oder Schröders „Basta“ usw., stellt aber auch eine treffende Beschreibung des gesellschaftlichen Klimas in der DDR spätestens seit 1968 dar, als Kurt Hager die bizarre Diskursfigur vom „Realen Sozialismus“ als sehr defensive und theoretisch armselige Replik auf das Programm des „Sozialismus‘ mit menschlichem Antlitz“ des (heute leider vergessenen) slowakischen Kommunisten Alexander Dubček erfand, damit nur ja niemand auf die Idee käme, es müsse was besseres geben als den erstarrten gesellschaftlichen Status quo in der DDR. Das war TINA-Rhetorik, wie sie im Buche steht.

Derzeit in aller Mundes ist die WHO, deren Definition von 2002 zufolge Gewalt nicht nur im „tatsächlichen oder angedrohten absichtlichen Gebrauch von physischer oder psychologischer Kraft oder Macht (bestehe), die gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft gerichtet ist und die tatsächlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, (sondern auch zu) psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“ Wenn auch die ersteren, vordergründigen Formen der Gewalt in diesem Sinne zur Erfahrung von nicht wenigen DDR-Bewohnern gehören mag, so war es doch erst dieses Deprivationsgefühl, in der Psychologie definiert als „Mangel, Verlust, Entzug von etwas Erwünschtem, Liebesentzug“, was als anschwellender gesamtgesellschaftlicher politischer Blues der „Abschließung“ im buchstäblichen wie im geistigen Sinne vor allem unter der jungen Generation, welches in den 80er Jahren zur kritischen Masse auswuchs und letztlich den schon steuerlosen Kahn zum Kentern brachte. Die Weigerung der „hegemonialen Formation“ in der Spät-DDR, die „Imagination an die Macht“ zu lassen, um an das berühmte Graffito im Pariser Mai 68 zu erinnern, ja sie auch nur an ihr teilhaben zu lassen, hatte sich als eine spezifische Form „struktureller Gewalt“ im Sinne Galtungs erwiesen. Da hat es auch nicht mehr geholfen, daß die wesentlichen der eingangs von Brecht benannten Tötungsarten als Formen struktureller Gewalt in der DDR im großen und ganzen Geschichte waren. Die „symbolische Macht“ (Bourdieu) war gebrochen. Das war letztlich das Entscheidende.

Zu den Vorzügen vorliegendes Buches gehört es, nicht nur fremdsprachige Quellen aus der anglo-amerikanischen Forschungssphäre heranzuziehen, sondern auch aus der frankophonen. Dies ist sicher das Verdienst der Ko-Autorin und Romanistin Simone Lück-Hildebrand. Als Nachttisch- oder Bahnhofslektüre scheint es allerdings weniger geeignet. Dem Leser wird ein gehöriger Vorrat an theoretischem Vorwissen und eine gewisse masochistische Lustneigung zu reichlich theoretisch-abstrakter Analysedarlegung geläufiger Phänomene des Zeitgeschehens abverlangt. Wer sich erfolgreich solcherart sprachlicher Kasteiungen eines High-End-Soziologen-Wordings unterzieht, dürfte danach mit Hegel keine Probleme mehr haben. Es ist daher wohl eher an jene junge akademische Leserschaft gerichtet, die in der Lage ist, ein wissenschaftliches Werk in toto zu lesen. Es sei dahingestellt, ob es sich dabei um eine überschaubare oder „hegemoniale Formation“ handelt. Es dürfte auch für jene zeithistorisch Interessierte ein Gewinn sein, die beim Thema DDR und Wende genug haben von einer gewissen Larmoyanz in vielen Rechtfertigungsmemoiren einerseits und einer immer gleichen Litanei in der stiftungsgesponserten Aufarbeitungsbranche andererseits. Dem Buch wäre jedenfalls ein größerer Leserkreis zu wünschen.

Reinhard Hildebrandt / Simone Lück-Hildebrandt, Herrschaft und Beherrschung. Hegemoniale Formationen – Strukturelle Gewalt in der Gesellschaft, Tectum Verlag Baden Baden, Reihe Politikwissenschaft Bd. 83, 48 €

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