Kernfrage deutschen Geschichtsverständnisses

70 Jahre danach Wann wird endlich der größten aller Opfergruppen und des mit Abstand wichtigsten Kriegsfeindes Hakenkreuz-Deutschlands Satisfaktion zuteil ?

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Mit dem 70. Jahrestag der Bedingungslosen Kapitulation Deutschlands vor den Alliierten Truppen der Anti-Hitlerkoalition am 8. Mai 1945 rückt eine offene Frage ins deutsche Geschichtsbewußtsein: Wie hälst Du es mit dem 22. Juni 1941? Die Causa scheint symptomatisch für eine offensichtlich noch längst nicht „aufgearbeitete“ Kernfrage deutschen Geschichtsverständnisses, den Umgang und der Bewertung der darauf fußenden historischen Niederlage von 1945.

Auf einem Sylter Friedhof gibt es eine Ehrentafel für die im II. Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten, getrennt nach West- und Ostfront. Die Proportionen dieser beiden Kategorien sagen mehr als dicke Historikerstudien: Auf einen an der Westfront Gefallenen kamen neun an der Ostfront. Der eigentliche II. Weltkrieg fand folglich im Osten statt. Dort starben mehr Menschen, sei es als Kombattanten oder Zivilisten, als je in Kriegen in so kurzer Zeit gestorben sind. Es war nicht nur der opferreichste Krieg der Menschheitsgeschichte, er war überdies auch der erste, als solcher vom Angreifer auch explizit deklarierte Weltanschauungskrieg, anfangs im Namen einer sich als überlegen gerierenden germanischen Herrenrasse gegen die als minderwertig und lebensunwürdig diffamierte „bolschewistisch-jüdisch-slawische Untermenschenrasse“, in der Niedergangsphase als Verteidigungskrieg des zivilisierten, christlich-abendländischen „Europas“ gegen die asiatisch-bolschewistischen Horden aus dem Osten. Er war die bellizistische Fortsetzung des hitleristischen Kernprogramms, die „Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel“, wie es der frisch ernannte Reichskanzler der Reichswehrführung am 3. Febr. 1933 versprochen hatte.

Willy Brandt hat sich in einer historisch einmaligen Demutsgeste vor dem Warschauer Denkmal des Ghettoaufstandes für die in deutschem Namen verübte Shoa entschuldigt. Helmut Kohl und François Mitterand reichten sich in konzilianter Geste über den Gräbern von Verdun die Hände, die deutsch-französische „Erbfeindschaft“ endgültig beendend. Gerhard Schröder hat im Juni 2004 mit der erstmaligen Teilnahme eines deutschen Bundeskanzlers an den Gedenkfeiern in der Normandie eindeutig Farbe bekannt. Sogar kleineren Opfergruppen wie den Schwulen und den Sinti und Roma sind in Deutschland inzwischen eigene Denkmäler gewidmet. Wann wird deutscherseits endlich der größten aller Opfergruppen und dem mit Abstand wichtigsten Kriegsfeind Hakenkreuz-Deutschlands eine ebenbürtige Ehrung und Geste der Versöhnung zuteil?

Eine Gelegenheit bietet der 70. Jahrestag der Bedingungslosen Kapitulation. Einem Ondit zufolge sei aus diesem Anlaß ein 4+1-Treffen der Staatsoberhäupter der vier Signatarstaaten der Anti-Hitler-Koalition sowie des deutschen Bundespräsidenten in der Gedenkstätte Berlin-Karlshorst geplant. Auf die Rede von Joachim Gauck darf man gespannt sein. Er muß damit rechnen, daß jedes Wort, jede Silbe, jedes Komma auf die Goldwaage gelegt und seine Worte mit der historischen und Maßstäbe setzenden Rede seines berühmten Vorgängers Richard von Weizsäcker vor 30 Jahren verglichen werden. Er sollte dieses Gedenkdatum zum Anlaß nehmen für eine große Geste der Demut angesichts des Leides, das in deutschem Namen den Völkern im östlichen Teil des gemeinsamen Hauses Europa angetan wurde, aber auch eine Geste der Versöhnung und Konzilianz gegenüber dem russischen Präsidenten als dem legitimen Repräsentanten der Russischen Föderation als Rechtsnachfolger des Aggressionsopfers. Eine solche Geste hätte auch jeweils eine biografisch-emotionale Dimension: Die Eltern beider Präsidenten standen sich in diesem infernalischen Konflikt jeweils gleichsam auch persönlich gegenüber: Als bekennende Hakenkreuzler schon vor 1933 auf der Täter- und als Eingeschlossene von Leningrad auf der Opferseite.

Es wird Zeit, sich endlich auch für diese in deutschem Namen verübten Verbrechen zu entschuldigen. Daran wird sich Joachim Gauck messen lassen müssen. Alles andere käme implizit einem Eingeständnis gleich, den am 22. Juni 1941 begonnenen deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion und die in dessem Zuge begangenen Kriegsverbrechen von dem säkularen Sündenregister Hakenkreuz-Deutschlands bewußt auszunehmen, vulgo für legitim zu erklären. Moralisch wäre dies mit der Rechtfertigung der Shoah auf eine Stufe zu stellen.

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