Über die kommende Debatte von Leben und Tod

Corona-Krise Um Leben zu retten wurde ein ganzes Land zum Stillstand gebracht, mit gravierenden Folgen. Und die Kritik wächst und lässt zweifeln, ob wir noch einmal so handeln würden.

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Eine Welt am Abgrund, eine Welt im Ausnahmezustand. Einbrechende Börsenkurse, Lockdown, verwaise Innenstädte - wie im Zeitlupengefühl harrten wir der Tage aus, hörten Nachrichten, sahen die täglichen Sondersendungen und beobachteten nahezu in Echtzeit die steigenden Infektionszahlen auf der Corona-Map der John-Hopkins-University. Wir haben die erste Infektionswelle überstanden, die Zahlen in Deutschland und Europa sinken wieder, während andere Länder sich zu neuen Corona-Hot Spots entwickeln. Und während die Menschen in vielen Teilen der Welt um ihre Toten trauern, blieb hierzulande das große Sterben aus - vorerst. Das ungute Gefühl verflüchtigt sich. Langsam zieht das Leben wieder in den öffentlichen Raum ein. Vorsichtig tasten wir uns nach dem ersten Schock wieder an ein Leben vor der Pandemie heran, versuchen eine neue Normalität zu finden, aber die Gewissheit bleibt, dass das Virus nicht verschwunden ist.

Die Ereignisse der letzten Monate haben schon jetzt tiefe Spuren in unserem Land hinterlassen. Wir leben jetzt in einer Zeit, in der Virologen und andere Gesundheitsexperten die Regierungen in Bund und Ländern beraten und deren Vorschläge zeitnah umsetzen. Über Lautsprecher in Supermärkten, Bahnhofshallen und Bussen werden die Bürger über Hygieneregeln, Social Distancing und Maskenpflicht informiert. Unsere Grundrechte werden unter dem Primat des Lebensschutzes auch weiterhin eingeschränkt und der Wirtschaft steht eine schwere Rezession bevor. Biomacht und Biopolitik, zwei Begriffe über staatliche Machttechniken, die der französische Soziologe Michel Foucault in den 1970er Jahren prägte, avancieren in Zeiten der Pandemie zu Stichwortgebern, um das Handeln der Regierung zu deuten.

Der Staat als Lebensmacht

Für Foucault liegt die Macht des Staates im Ausüben der Lebensmacht: seine Handlungsmaxime richtet sich auf den Lebensschutz und die Gesundheit der Bevölkerung. Dieses Machtregime etablierte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Europa und machte das Überleben der Bevölkerung zum neuen Gegenstand des Politischen, indem es das Recht des Souveräns ablöste, über Leben und Tod zu entscheiden. Von da an lag die Aufgabe des Staates darin, leben zu machen, zu lassen und zu optimieren. Dabei entwickelten Regierungen eine Reihe auf das Leben ausgerichteten Machttechnologien von der Geburtenkontrolle, über Hygienemaßnahmen, zu Sozialversicherungen bis hin zur Seuchenprävention für die Bevölkerung ihres Territoriums. In der Bundesrepublik manifestiert sich dieser Grundsatz des Lebens in der herausgehobenen Stellung, die ihm die Gründungsväter des Grundgesetzes eingeräumt haben, wenn es im Artikel 2 heißt: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. "

Durch die weltweite Verbreitung des neuartigen und wenig erforschten Corona-Virus ist für einen großen Teil der Bevölkerung eine ernsthafte gesundheitliche Bedrohung entstanden, die gar bis zum Tode führen kann. Eine demokratische Regierung, welche sich nach dem Primat des Lebensschutz richtet und Leben garantieren muss, kann nur schwerlich anders entscheiden, als in einer gesundheitlichen Notlage mit weitreichenden Ausgangssperren, Veranstaltungsabsagen und der Schließung öffentlicher Einrichtungen zu antworten, um seine Bevölkerung zu schützen, vor einem Virus, für welches es weder einen Impfstoff noch Medikamente gibt.

Aber in Zeiten der Pandemie, in welche nahezu alle gesellschaftlichen Systeme wie Wirtschaft, Bildung und Kultur dem Imperativ der Lebenserhaltung untergeordnet werden, bieten die beiden Begriffe Biomacht und Biopolitik nur bedingt ein Erklärungsmodell um das Regierungshandeln zu begründen. Der Schweizer Historiker und Foucault-Kenner Philipp Sarasin hat daher in seinem klugen Essay "Mit Foucault die Pandemie verstehen?" gefordert, den Blick auf drei Denkmodelle des französischen Soziologen zu werfen, welche er anhand der Infektionskrankheiten Lepra, Pest und Pocken entwickelt hat:

Im Lepra-Modell trennt die Macht die Gesunden von den Kranken und Verrückten und schließt diese aus der sozialen Gemeinschaft aus, möglichst vor den Toren der Stadt und überlässt sie sich selbst. Im Pest-Modell sollen die Kranken und Verrückten nicht mehr ausgeschlossen, sondern vielmehr in die Gemeinschaft eingebunden und einer Disziplinarmacht unterworfen werden, die unter anderem die Einübung einer strengen Arbeitsdisziplin und dem Produktivmachen der Körper beinhaltet. Dadurch entstand ein System aus der lückenlosen Kontrolle aller Grenzen und Übergänge zur Stadt und eine strenge Einsperrung der Bürger in ihre Häuser, um die Ausbreitung der Pest zu verhindern. Wer sich nicht an den Vorgaben des Souveräns hielt, den erwartete entweder der Tod durch Ansteckung oder die Bestrafung durch die Disziplinarmacht.

Foucault erkannte, dass in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft, in welcher die Freiheit des Einzelnen so grundlegend ist, dass eine Disziplinierung nicht möglich sei und modellierte das Pocken-Modell. In diesem Modell gehe es nicht mehr um die Disziplinierung, sondern um das statistische Wissen der Infektion, d.h. wer und wie viele Bürger erkranken an den Pocken, in welchem Alter, die Sterblichkeitsrate und der Produktion von Medikamenten und Impfstoffen. Das Ziel der Regierung ist es die Krankheitsfälle zu messen, zu isolieren und die Bevölkerung durch Impfung vor Ansteckung zu schützen.

Mit Foucault das Regierungshandeln in Zeiten der Pandemie verstehen

Mit Blick auf die weltweite Bekämpfung der Pandemie zeigt sich, dass Foucaults idealtypische Denkmodelle über das Handeln der Regierungen als Erklärung anwendbar sind: Am Anfang des Pandemiegeschehens in Deutschland lag der Fokus darauf, infizierte Personen und deren unmittelbaren Kontaktpersonen zu identifizieren und isolieren, d.h. eine behördlich angeordnete und kontrollierte häusliche Quarantäne. Darüber hinaus setzte man auf freiwillige Maßnahmen wie Hygieneregeln und Social Distancing, die über alle Kanäle des öffentlichen Lebens beworben wurden, um eine freiwillige Verhaltensänderung der Bürger zu initiieren, ohne dass diese staatlich angeordnet und kontrolliert werden sollte. Der Staat beschränkte sich darauf, die Infektionszahlen, den R-Faktor und die Verdopplungszeit zu messen, dass Gesundheitssystem zu stabilisieren, indem medizinische Kapazitäten mobilisiert wurden und natürlich die Suche nach einem Impfstoff. Das Regierungshandeln war am Anfang darauf angelegt, die Freiheit des Einzelnen so wenig wie möglich zu beschränken, sondern die Lebensqualität trotz des Virus aufrechtzuerhalten. Es ähnelt damit dem liberalen Pocken-Modell.

Erst als die Behörden die Kontrolle verloren haben, d.h. Infizierte und ihr unmittelbares Umfeld nicht mehr zurück zu verfolgen waren und sich die Infiziertenzahlen drastisch und unkontrolliert erhöhten, wechselte die Regierung ihre Strategie hin in Richtung des autoritären Pest-Modells. Dazu gehörten Grenzschließungen, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, Gewerbeschließungen, Grundrechtseinschränkungen und Verbote, die behördlich kontrolliert und bei Verstößen disziplinarisch, z.B. in Form von Bußgeldern, geahndet wurden.

Jetzt sind wir wieder in einer Phase, in welcher der Staat die Kontrolle über die Zahl der Infizierten zurückgewonnen hat und das Gesundheitssystem stabil blieb: die meisten Beschränkungen werden in zeitlichen Abständen nach und nach gelockert und damit die härtesten Einschnitte des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens zurückgenommen. Damit nähert man sich wieder dem liberalen Pockenmodell an, d.h. es wird ein Mittelweg zwischen Gesundheitsschutz, Wirtschaft und der Freiheit des Einzelnen gesucht. Das Handeln der Regierung konzentriert sich nun wieder auf die Beobachtung, Identifizierung und Isolierung der Krankheitsfälle, z.B. durch die Entwicklung einer Tracking-App um Bewegungsdaten zu sammeln, die Suche nach einem Impfstoff und Verordnungen wie Maskenpflicht und Hygieneregeln im öffentlichen Raum.

Die Kritik an den Corona-Maßnahmen wächst

Doch mit den weitreichenden Lockerungen wächst auch die Gefahr, dass die Infiziertenzahlen wieder steigen. Wie das Damoklesschwert schwebt die Gefahr einer zweiten Infektionswelle über uns. Doch es ist ungewiss, ob die Regierung sich dann wieder für einen Lockdown entscheidet. Denn während am Anfang der Pandemie für einen kurzen Moment in Deutschland über alle Parteigrenzen hinweg eine politische und gesellschaftliche Einigkeit herrschte, welche das Handeln der Regierung befürwortete, so werden nun jene Stimmen lauter, die den bisherigen Umgang mit der Corona-Pandemie kritisieren. Es sind nicht nur Marktradikale, Verschwörungstheoretiker, Rechtspopulisten oder radikale Liberale, die für die Rücknahme der Corona-Maßnahmen in vielen deutschen Städten auf die Straße gehen, oder sich über die Medien oder sozialen Netzwerke gegen eine vermeintliche Gesundheitsdiktatur wehren. Es sind Unternehmer und Arbeitnehmer, Eltern und Schüler, Sportler, Kunst- und Kulturschaffende, die ihren Ärger Luft machen und so schnell wie möglich wieder zur Normalität zurückkehren wollen.

Und wer will es ihnen verübeln, geht es doch bei vielen um die nackte Existenz. So sind die Folgen des Lockdown heute noch gar nicht abzusehen, doch schon jetzt zeigt sich, wie dramatisch die wirtschaftliche Lage ist: stärkster Einbruch der Konjunktur und Wirtschaftsleistung seit Bestehen der Bundesrepublik, drohender Untergang ganzer Wirtschaftszweige, rasanter Anstieg der Arbeitslosenzahlen, mehrere Millionen Menschen in Kurzarbeit und eine drohende Insolvenzwelle nie gekannten Ausmaßes. Und so kippt die Stimmung und schwindet die breite Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung.

Da wir nun wissen, welche sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Auswirkungen der Lockdown auf unsere Gesellschaft, aber auch bei jedem Einzelnen von uns hatte, ist es unwahrscheinlich, dass bei einem erneuten Ansteigen der Infektionszahlen, ein zweiter Lockdown von der Mehrheit der Bevölkerung kritiklos akzeptiert wird. Vielmehr ist zu erwarten, dass sich eine gesellschaftliche Debatte entfacht, die den moralischen Kompass unserer Gesellschaft beeinflussen wird, in der wir uns der existentiellen und tabubeladenen Frage stellen müssen, welchen Preis wir bereit sind zu zahlen, um Menschenleben zu retten. Und sie hat das Potential unsere Gesellschaft zu spalten.

Sterben lassen oder Exklusion der Risikogruppe

Es mehren sich die Stimmen derjenigen, die sagen, dass der prognostizierte Wirtschaftseinbruch und die Freiheitsbeschränkungen unverhältnismäßig seien, da das Virus vor allem für ältere und gesundheitlich schwächere Menschen einen schweren Krankheitsverlauf nimmt mit oftmals tödlichen Folgen. Für den Rest der Bevölkerung wirkt das Virus aber weniger lebensbedrohlich. Einer der prominentesten Vertreter dieser These ist der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der in einem Interview die Auffassung vertrat, dass eventuell nur Menschen gerettet würden, die in einem halben Jahr wahrscheinlich sowieso gestorben wären. Der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble vertritt eine ähnliche Auffassung, wenn er auch seine Wortwahl mit Bedacht wählt, in dem er die Würde des Menschen, und damit vor allem seine Freiheitsrechte im Sinn hat, als größer erachtet als den Lebensschutz selbst.

Beide rühren an einem gesellschaftlichen Tabuthema, das in der Tradition des Sozialdarwinismus steht und eine Idee beschreibt, in welcher unproduktive und schwache Mitglieder einer Gemeinschaft kein Anrecht auf Schutz haben oder sogar aktiv beseitigt werden müssen. Sie ist die Antriebskraft einer Biomacht, die in ihrer extremsten Ausprägung, nicht Leben produziert und schützt, sondern die tötet um des Lebens willen. Es ist die politisierte Beherrschung des Körpers, in welcher ungesunde Lebensformen und unwertes Leben ausgelöscht werden müssen. Und es war Hitler-Deutschland, welches sich durch Euthanasie, Genoziden und Vernichtungskriegen bis hin zum Holocaust daran machte, eines der höchsten menschlichen Prinzipien, die Heiligkeit des Lebens, abzuschaffen.

Nach dieser Annahme wird ein politischer Imperativ geformt, in welcher Schwäche und Alter kein schützenswerter Zustand ist. Wenn das Virus einmal die Bevölkerung durchläuft, dann wird akzeptiert, dass all jene sterben, die wahrscheinlich ohnehin gestorben wären. Man unterscheidet zwischen wertvollen und unwerten Leben, nur diesmal ist es kein planmäßiges Töten zur Hygiene des Volkes, sondern ein Sterben lassen für die Freiheitsrechte und wirtschaftliche Existenz der Anderen. Schon jetzt sind die Vorzeichen dessen zu sehen, was uns bevorstehen kann, wenn wie in Kanada und Spanien geschehen, Altenheime aufgegeben und die Pflegebedürftigen sich selbst überlassen werden, ähnlich wie in Foucaults Lepra-Modell beschrieben. Oder wenn einzelne amerikanische Bundesstaaten wie Georgia auf dem Höhepunkt der Epidemie, in welcher die medizinische Versorgung aller nicht mehr gewährleistet ist, die Corona-Beschränkungen wieder aufheben.

Doch neben Lockdown und dem Sterben der Alten und Schwachen zuzulassen, existiert noch eine dritte Variante, die vielfach in Medien und den sozialen Netzwerken diskutiert wird: der Einschluss der Risikogruppen. Um die Wirtschaft durch einen zweiten Lockdown nicht weiter zu destabilisieren und um die Freiheitsrechte für die Mehrheit der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, könnte die Regierung Maßnahmen ergreifen, die darauf abzielt, vor allem die Risikogruppen zu schützen, indem man sie unter Quarantäne stellt. Ähnlich wie im oben beschriebenen Pestmodell dürften Mitglieder dieser Gruppe an keinen Veranstaltungen und Familienfeiern mehr teilnehmen und ihre Wohnungen und Häuser nicht mehr verlassen, außer für dringende Besorgungen z.B. einkaufen. Solange es keinen Impfstoff oder Medikamente gibt, müssten diese Menschen auf ihre Freiheitsrechte verzichten, da sie häufiger von schweren Krankheitsverläufen betroffen sind und das Gesundheitssystem besonders belasten.

Vor kurzem veröffentlichte Der Spiegel online einen Artikel über die Studie eines britischen Forscherteams, in welcher berechnet wurde, wie sich Infektionszahlen und schwere Verläufe entwickeln würden, wenn alle über 70-Jährige in eine Art Dauerquarantäne müssten, mit weitreichenden Lockerungen für den Rest der Bevölkerung. In Großbritannien würden aufgrund ihres Alters und Vorerkrankungen ca. 20% zu dieser Risikogruppe gehören. Bei den übrigen 80% der Bevölkerung würde die Zahl der Erkrankten zwar massiv ansteigen, da die Krankheitsverläufe aber häufig milder verlaufen, würde das Gesundheitssystem dies verarbeiten und nicht kollabieren lassen.

Welche Gesellschaft wollen wir sein?

Und es ist eine Gretchenfrage, die sich die politischen Entscheidungsträger stellen müssen, sollten die Infektionszahlen wieder steigen: Zweiter Lockdown mit all seinen sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Folgen für den Lebensschutz älterer Menschen, die Exklusion und soziale Ausgrenzung der Risikogruppe und deren Einschränkung demokratischer Teilhabe- und Mitwirkungsrechten oder die Steuerung eines Prozesses der natürlichen Auslese, d.h. die Schwachen und Alten sterben lassen bei einer Durchseuchung, wenn die Kapazitäten des Gesundheitssystems aufgebraucht sind. Es ist eine Abwägung zwischen dem wirtschaftlichen Schaden und der Einschränkung von Freiheitsrechten in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz des Lebens Anderer.

Es ist eine Entscheidung, an der eine Gesellschaft zerbrechen kann, denn die Schuldfrage wird sich auf allen Seiten stellen. Schon allein die angestoßene Debatte dürfte einen Generationenkonflikt befeuern, wenn die Stimmen zahlreicher werden, die den Preis ihrer Freiheit nicht zahlen wollen für Menschen, deren Leistungen bereits erbracht sind und deren produktive Tage bald zu Ende sind. Die jetzige gesellschaftliche Stimmung in Deutschland sind nur die dunklen Vorboten dessen, was uns bevorsteht, sollte ein zweiter Lockdown kommen. Der Graben sitzt tief in Deutschland, Hygienedemos und andere Demonstrationen in vielen deutschen Städten sind nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was unter der Oberfläche brodelt. Die Möglichkeit steht im Raum, dass wir uns gegen den aktiven Lebensschutz und für die Einsperrung oder dem Sterben lassen der Risikogruppe entscheiden, da diese Thesen nicht nur am politischen rechten Rand zu verorten sind, sondern in der Mitte der Gesellschaft starken Zuspruch erhalten und gesellschaftsfähig werden.

Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist, wie lange wir die Notwendigkeit eines Gesundheitsnotstandes rechtfertigen können und die Heiligkeit des Lebens als Primat unserer Politik verteidigen, wenn Millionen von Menschen in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind. Es sind nicht nur die großen Unternehmen, sondern vor allem der Blumenladen um die Ecke, die Kneipe nebenan oder das Modegeschäft in der Innenstadt, und mit ihnen ihre Mitarbeiter, die in Armut und soziales Elend getrieben werden. Wenn wir die gesundheitlich Schwächeren schützen, müssen wir auch sicherstellen, dass der Preis dafür nicht langfristig die wirtschaftlich Schwachen zahlen, die daraus entstehen.

Neben Unternehmer sind es vor allem heute schon vor allem die sozial Abgehängten, die in prekären und schlecht bezahlten Jobs im Gastgewerbe, als Friseur oder Verkäufer arbeiten und die ein erneuter Lockdown hart treffen würde. Es ist nachvollziehbar, dass für diese sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppe der drohende Arbeitsplatzverlust und die eigene Existenznot schwerer wiegen als der Lebensschutz älterer Menschen. Die AfD könnte mit ihrer Fundamentalkritik gegen einen erneuten Lockdown bei denen punkten, die die Belastungen leid sind und deren soziale, psychologische und wirtschaftliche Folgen stärker sind als anderswo.

Und dennoch scheint es derzeit unvorstellbar, dass unsere jetzige Regierung bei einem Ansteigen der Infektionszahlen das Primat des Lebensschutzes aufgeben und sich für ein Sterben lassen oder der Exklusion der Risikogruppe entscheiden würde. Es würde eine Bruchstelle markieren, die das Land in eine moralische Krise stürzen kann, deren gesellschaftlichen Verwerfungen nicht abzusehen wären. Aber sicher können wir uns nicht sein, denn auch der Lockdown, die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen waren vor einigen Monaten noch so unvorstellbar und wurden dann doch schnell Realität. So bleibt zu hoffen, dass uns die zweite Infektionswelle erspart bleibt und die bisherigen Maßnahmen ausreichen. Denn die Republik wäre nicht mehr dieselbe.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

René Korth

freier Autor, der über Kultur, Gesellschaft und Politik schreibt

René Korth

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