Welche Rolle NS-Funktionsträger nach 1945 in deutschen Medienhäusern spielten
Presse Welche Rolle NS-Funktionsträger nach 1945 spielten, haben ausgerechnet die deutschen Medienhäuser zu wenig aufgearbeitet. Eine Reihe neuer Forschungsprojekte setzt hier an, doch es bleiben blinde Flecken
Was es bedeutete, dass Henri Nannen Mitglied einer SS-Propagandaeinheit war, wollte man beim „Stern“ lange nicht so genau wissen
Illustration: der Freitag
Karl Holzamer, der Gründungsintendant des ZDF, wäre 2006 100 Jahre alt geworden, und aus diesem Anlass machte sein Sender ihm ein Geschenk. Er benannte den zentralen Platz vor dem ZDF-Sendebetriebsgebäude in Mainz nach Holzamer, diesem „tritt- wie zielsicheren Grenzgänger“ zwischen „Traditionsbewusstsein und Weltoffenheit“, wie Markus Schächter, einer seiner Nachfolger, ihn nannte. Dass der traditionsbewusste Holzamer in der NS-Zeit als Rundfunkjournalist und Kriegsberichterstatter tätig gewesen war, war zu dem Zeitpunkt bekannt.
In diesem Jahr ist nun das ZDF immerhin schon 60 geworden, und aus Anlass des Jubiläums hatte der Sender „im Vorfeld eine Untersuchung durchgeführt“, wie er in eigener Sache berichtete. Dab
htete. Dabei kam laut dem heutigen Intendanten Norbert Himmler heraus, dass Holzamer „Verstrickungen in das NS-Regime teils verschwiegen und teils uminterpretiert“ hatte. Das betraf etwa seine zeitweilige Zugehörigkeit zur SA und seine NSDAP-Mitgliedschaft. Heute bleibt als Bilanz des Geschenks: Zu Zeiten, in denen es langsam normal geworden war, darüber zu diskutieren, ob nach NSDAP-Mitgliedern benannte Straßen und Plätze umbenannt werden sollten, entschied das ZDF noch, einen Platz nach einem NSDAP-Mitglied zu benennen.Eine ähnliche Geschichte lässt sich über Gruner + Jahr und den Stern erzählen: Ein Jahr bevor Karl Holzamer seinen Platz geschenkt bekam, hatten Verlag und Magazin ihren Reportage-Preis ausgebaut und den weiterentwickelten Wettbewerb nach dem langjährigen Stern-Chefredakteur Henri Nannen benannt – obwohl man spätestens seit den 1970er Jahren wusste, dass er im Zweiten Weltkrieg Mitglied einer SS-Propagandaeinheit gewesen war. Als das NDR-Online-Reportageformat STRG_F 2022 dann Nannens Wirken in der NS-Zeit neu aufbereitete, indem es unter anderem antisemitische Flugblätter präsentierte, für die er verantwortlich zeichnete, trennten sich die Preisstifter von dem Namen Nannen – zumindest vorerst.Dürftig erforschte ZeitungenIn den späten Würdigungen für Holzamer und Nannen in den nuller Jahren kommt eine Mischung aus Gedanken- und Instinktlosigkeit zum Ausdruck, die symptomatisch dafür ist, dass ein zentraler Teil der hiesigen Mediengeschichte schlecht ausgeleuchtet ist. Dabei wäre es instruktiv, zum Beispiel ein genaueres Bild davon zu bekommen, wie Medien in der Nachkriegszeit „überkommene Mentalitäten“ bedient haben. So formulierte es der Historiker Norbert Frei 2012 in Bezug auf Stern und Spiegel. Das Ziel war es damals, eine Leserschaft zu bedienen, die zwar vom Nationalsozialismus zumindest vorgeblich nichts mehr wissen wollte, deren Weltanschauung sich aber nicht über Nacht geändert hatte.Anlässlich einer Tagung des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), die im April unter dem Titel „Die Geschichte des ‚Stern‘ und seiner prägenden Personen. Zum Kontext historischer Kontinuitäten und Neuanfänge im deutschen Journalismus“ in Berlin stattfand, stellten die Veranstalter fest: In der Diskussion über „Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Personen, Weltbildern, gesellschaftlichen Strömungen, öffentlichem Denken und politischen Entwicklungen von der Zeit des Nationalsozialismus bis in die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik“ fehlten „eigenständige Forschungsprojekte zu bedeutenden Medien und deren ‚Machern‘“.Zwar hat der Kommunikationswissenschaftler und Dokumentarfilmer Lutz Hachmeister in den vergangenen 25 Jahren in mehreren Büchern zahlreiche Einzelaspekte der Spiegel-Frühgeschichte aufgearbeitet – insbesondere die tragende Rolle, die NS-Funktionsträger in der Zeit spielten. Und einige wenige Medienhäuser haben selbst Studien in eigener Sache in Auftrag gegeben. Dazu gehört das Fußballmagazin Kicker. Dabei kam 2022 heraus, dass sich unter den Redakteuren des Fachblatts in der NS-Zeit besonders der expressionistische Dichter Franz Richard Behrens, der unter den Pseudonymen Peter Mohr und F. Richard kolumnierte, mit antisemitischen Tiraden hervorgetan hatte. Doch weder in der Medienbranche noch im öffentlichen Bewusstsein sind solche Erkenntnisse ausreichend verankert.Vielleicht ändert sich das aber in absehbarer Zeit. Die Veranstaltung zur „Geschichte des ‚Stern‘“ in Berlin stand im Kontext eines Auftrags, den der Bertelsmann-Konzern, dem das Magazin gehört, dem IfZ erteilt hat. Die Forscher sollen „die Frage nach politischen, personellen und inhaltlichen Verflechtungen und Verbindungen zur Zeit des Nationalsozialismus“ untersuchen. Die Studie soll die Zeit von 1948 bis 1983 abdecken – also von der Gründung des zweiten Stern, nachdem in der NS-Zeit bereits eine Illustrierte mit einem ähnlichen Konzept existiert hatte (siehe der Freitag 42/2014) bis zur Veröffentlichung der „Hitler-Tagebücher“. Diese Studie ist ebenfalls ein Resultat des STRG_F-Films.Henri Nannen und Willem Sassen lernten sich in einer SS-Einheit kennenSo eine Studie hätte Bertelsmann allerdings auch schon 2011 in Auftrag geben können, als die Philosophin Bettina Stangneth in ihrem Buch Eichmann vor Jerusalem unter anderem ausführlich das Wirken des niederländischen Journalisten, Adolf-Eichmann-Konfidenten und lebenslangen Nationalsozialisten Willem Sassen beschrieb, der zeitweilig als Argentinien-Korrespondent im Stern-Impressum gestanden hatte. Henri Nannen und Sassen kannten sich von der SS-Propagandaeinheit Kurt Eggers. Nannens Erfolg mit dem Stern, so Stangneth, „beruhte auch auf seinem kameradentreuen Mut zu ungewöhnlichen Korrespondenten ohne Rücksicht auf ethische Fragen“. In ihrem Buch beschreibt sie, wie Sassen 1957 in Buenos Aires ein Jahr lang jedes Wochenende in seinem Wohnzimmer eine Art historische Tagung veranstaltete, bei der Menschen zusammensaßen, die den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik wieder aufbauen wollten. Eichmann war hier der Hauptakteur.Auch 2014 wäre eine gute Gelegenheit für eine Untersuchung gewesen. Seinerzeit war Jacob Appelbaum, ein US-Journalist mit jüdischen Wurzeln, als Teil eines Spiegel-Autorenteams mit einem Nannen-Preis ausgezeichnet worden. Kurz darauf distanzierte er sich von der Auszeichnung und kündigte an, er werde die Büste mit dem Kopf Nannens, die er bei der Verleihung angenommen hatte, einschmelzen lassen: „Ich lehne es ab, den Namen zu tragen und den Kopf eines Mannes zu präsentieren, der Propaganda für die Nazis gemacht hat.“Besonders dürftig ist der Forschungsstand im Bereich des Zeitungsjournalismus. Bei der IfZ-Tagung in Berlin stellte der an der University of Leicester lehrende Historiker Alexander Korb ein Projekt vor, das da zumindest teilweise Abhilfe schaffen könnte: eine Gruppenbiografie über mehr als 30 deutsche und österreichische Tages- und Wochenzeitungsjournalisten. In dem Buch, das vermutlich 2024 erscheinen wird, widme er sich „um 1905 geborenen Personen“, die in drei Systemen – also in Weimar, während der NS-Zeit und in der Bundesrepublik – journalistisch gearbeitet hätten, sagte Korb dem Freitag. Hermann Proebst (1960 – 1970 Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung), Herbert von Borch (US-Korrespondent für Süddeutsche und Welt) und Hermann Pörzgen (FAZ-Korrespondent in der Sowjetunion) gehören zu den Porträtierten. In der Bundesrepublik, so Korb, hätten sie ihre NS-Vergangenheit „vertuscht oder umgedeutet“.Transparenter als manche Medien und Medienmacher zeigte sich zuletzt ausgerechnet der naturgemäß sonst nicht immer transparente Bundesnachrichtendienst (BND). Im Rahmen der „Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945 – 1968“ erschienen 2018 und 2022 unter dem Titel Geheime Dienste zwei Bände zur „politischen Inlandsspionage“ des Geheimdienstes und seines Vorgängers, der Organisation Gehlen. Ihr Namensgeber Reinhard Gehlen hatte die Wehrmachtsspionagetruppe Fremde Heere Ost geleitet. „Die Organisation Gehlen verstand sich offensichtlich nicht nur als Nachfolgeorganisation der Wehrmachtsspionagetruppe Fremde Heere Ost, sondern auch der Überwachungs- und Strafverfolgungsbehörden des ‚Dritten Reiches‘“, schrieb der Publizist Willi Winkler 2019 in seinem Buch Das braune Netz.„Hauptfeind“ NWDRDie von dem Historiker Klaus-Dietmar Henke für die Bücher zur Inlandsspionage ausgewerteten Akten enthalten erhellende Details darüber, wie stark die Organisation Gehlen hinter den Kulissen des Nachkriegs-Medienbetriebs wirkte. Das gilt etwa für die im Kern seit Jahrzehnten bekannte Connection zwischen Geheimdienst und Spiegel. Unter medienhistorischen Aspekten besteht das hauptsächliche Verdienst der Bücher aber darin, dass hier herausgearbeitet wird, dass das Ziel des Geheimdienstes nicht nur darin bestand, ein geschöntes Bild der Wehrmacht und der eigenen Organisation zu verbreiten, sondern er auch Journalisten für den Kampf gegen seinen, so Henke, „Hauptfeind“ gewinnen konnte. Das war der NWDR, der sich zum Jahreswechsel 1955/56 in NDR und WDR aufspalten sollte.„Die Diskreditierung einer unabhängigen Publizistik und kritischer Journalisten“ sei Teil der Agenda der Organisation Gehlen gewesen, schreibt Henke. Der wichtigste Spion der Organisation Gehlen war der NWDR-Redakteur August Hoppe, später stellvertretender Chefredakteur im WDR-Hörfunk. Der Ex-Mitstreiter einer Propagandakompanie der Wehrmacht wurde, so Henke, zur „höchstdotierten Presse-Sonderverbindung des BND“, ein Vierteljahrhundert diente er dem BND treu. Hoppes Aktionen zielten darauf ab, „einen Rundfunksender in Misskredit zu bringen, der das Demokratisierungsgebot der britischen Deutschlandpolitik ernst nahm“. Ein Mittel dabei war die Verunglimpfung des sozialdemokratischen NWDR-Intendanten Adolf Grimme und seiner Führungsriege als sowjetische Spione.Wie Hoppe die, so Henke, „antikommunistische Medienarbeit“ des Geheimdienstes im WDR betrieb, wie stark sich seine Mission und die von Norbert Frei so genannten „überkommenen Mentalitäten“ in seinen Beiträgen und später, in seiner Zeit als stellvertretender Hörfunk-Chefredakteur, auch in Weisungen niederschlugen – um sich davon ein noch besseres Bild machen zu können, wäre auch eine Untersuchung des Senders hilfreich. Zumal Hoppe in den 1960er Jahren nicht nur hinter, sondern auch „vor den Kulissen zu den entschiedensten Kämpfern gegen den linken Zeitgeist“ gehörte, wie Henke schreibt.Dass der WDR eine solche Studie bisher nicht in Auftrag gegeben hat, passt zum defensiven Umgang der Medienhäuser mit ihrer postnationalsozialistischen Vergangenheit. Aber: Zu spät ist es, siehe die von Bertelsmann in Auftrag gegebene Forschung zum Stern, ja nie.Placeholder authorbio-1