“Feminizid”? - "Wir wollen uns lebend."

Frauenmord In den deutschen Massenmedien ein linkes Nischenthema? Zeit darüber zu reden!

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Ein Feminizid alle 18 Stunden prangert eine Demonstrantin beim Internationalen Frauentag am 8. März 2017 in Buenos Aires an
Ein Feminizid alle 18 Stunden prangert eine Demonstrantin beim Internationalen Frauentag am 8. März 2017 in Buenos Aires an

Foto: Juan Mabromata/AFP/Getty Images

Im Zuge der Sexismusdebatte sollte auch ein weiteres extremes und gleichzeitig sehr sensibles Thema zu Wort kommen, dass man mit dem Topos „Feminizid“ beschreiben kann.

Die Schriftstellerin Marielouise Jurreit schrieb in ihrem ’76 veröffentlichten Buch Sexismus: über die Abtreibung der Frauenfrage:

„(...) Sexismus war immer Ausbeutung, Verstümmelung, Vernichtung, Beherrschung, Verfolgung von Frauen. Sexismus ist gleichzeitig subtil und tödlich und bedeutet die Verneinung des weiblichen Körpers, die Gewalt gegenüber dem Ich der Frau, Achtlosigkeit gegenüber ihrer Existenz, die Enteignung ihrer Gedanken, die Kolonisierung und Nutznießung ihres Körpers (...)“.[1]

Diese Thesen wörtlich zu nehmen bedeutet im schlimmsten Fall:

„Frauen sterben, weil sie Frauen sind“ so Marlene Pardeller und Alex Wischnewski. Nein! Sie „werden getötet, weil sie Frauen sind“, sagen hingegen Julieta Palombi sowie Ligia Liberatori.[2] Und „die Staaten, auch der deutsche Staat, sind mitverantwortlich”. Zunächst eine steile These, wenn man sie das erste Mal hört. Grund genug über dieses heikle Thema zu sprechen.

Am 11. November 2017 fand im Haus der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin in Kooperation mit Ni una menos Berlin eine Tagung mit den Expertinnen* zum Thema "Feminizid" statt. Hoffentlich bleibt das Thema nicht nur Gegenstand linker Tagungen..

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Zunächst einmal eine Begriffsklärung, was bedeutet der Begriff „Feminizid“?

Frau Pardeller und Frau Wischnewski: Er bedeutet, dass Frauen sterben, weil sie Frauen sind – und er verweist darauf, dass Staat und Gesellschaft Verantwortung dafür tragen, die Strukturen bereitstellen, welche wie zum Beispiel im Fall des Rechts entweder keine Gesetze dafür verabschiedet haben oder die Straflosigkeit der Täter befördert, letzteres ist in den meisten Ländern eine gängige Praxis.

Frau Palombi und Frau Liberatori: Zuerst würde ich etwas klarstellen: Frauen sterben nicht, weil sie Frauen sind. Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind. Wir finden wichtig, die Wörter richtig zu wählen. Feminizid ist der Mord an Frauen, weil sie Frauen sind. Grundmotiv ist das Gefühl, dass Frauen Menschen sind, die man besitzen kann (und somit verletzen/ermorden kann). Frauen werden als Objekte gesehen. Aber es ist nicht nur das: Frauen zu verletzen und zu töten ist eine Äußerung der Macht. Hinter jedem Feminizid gibt es ein System: Der Mord wird von der Gesellschaft akzeptiert (von der Presse mit Euphemismen der Art "Familiendrama", das Opfer wird beschuldigt: "Sie hat provoziert", "Sie hat ihn verlassen", "Sie hatte wenig an" usw.). Nicht eine Frau, sondern das Kollektiv der Frauen ist von Mord bedroht, und die Institutionen, die zuständig wären, sie zu schützen, reagieren nicht. Sie sind also Komplizen. Die Staaten (auch der deutsche Staat) sind mitverantwortlich. Und dabei meinen wir nicht, dass der Staat für härtere Strafen zuständig sein soll. Vielmehr sollte man an der Prävention, der Bildung und früherem Eingreifen, bevor es zum Feminizid kommt, arbeiten. Feminizid ist noch nicht als Konzept in der deutschen Gesellschaft etabliert. Und soweit wir wissen, ist er im Strafgesetz nicht vertreten. Wir glauben, dass das einer der ersten Schritte sein soll. Wenn die Feminizide unsichtbar bleiben, haben wir keine Chance, die Situation zu ändern.

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Wie schätzen Sie das Ausmaß geschlechtsspezifischer Morde weltweit ein – mit Blick auf Ihr Engagement das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen?

Frau Pardeller, Frau Wischnewski: Geschechtsspezifische Morde finden weltweit statt. Dies ist der Grund, weshalb die Bewegung Ni una menos (Keine mehr) die in Argentinien ihren Anfang war international aufgegriffen wurde. Am 8. März 2016, dem internationalen Tag der Frauen, gab es eine Vernetzung von 48 Ländern die sich live auf Skype miteinander verbunden haben unter der gemeinsamen Forderung: Keine mehr! Ni una menos.

Das Ausmaß der beteiligten Länder zeigt die Massivität des Problems an, welches sich nicht mit rassistischen Verfremdungsreden erklären lässt: Es sind nicht die anderen, sondern in der eigenen Gesellschaft sind es die jeweiligen Bürger die Gewalt ausüben – in großer Zahl. In Deutschland gab es nach der letzten BKA-Statistik für 2015 311 gezählte versuchte und durchgeführte Morde in Deutschland.

Frau Palombi und Frau Liberatori: Statistiken fehlen, sind oft nicht komplett oder sogar irrtümlich. Dazu sind die Dunkelziffern sehr signifikant. Viele Feminizide werden nicht als Frauenmord katalogisiert. Mädchen werden nicht unter "Frauen" gezählt. Über Transsexualizide wird auch nicht geredet. Deswegen ist es schwierig, diese Frage zu beantworten. Es herrscht viel Unwissen und Ignoranz. Und in viele Orten wenig Mut, das Problem zu sehen.

Diese Frage richtet sich speziell an Frau Palombi und an Frau Liberatori. Was hat es genau mit der Initiative Ni una menos auf sich?

Ni una menos (Keine weniger/Nicht eine von uns weniger) ist ein kollektiver Schrei gegen die chauvinistische Gewalt. Er ist vielfältig, gleichberechtigt, solidarisch und findet "auf der Straße" statt. Sororität (Empathie zwischen Frauen) ist ein tragendes Konzept des Kollektivs.

Es hat seinen Ursprung in der langjährigen feministischen Geschichte, der Geschichte der Demonstrationen auf der Straße, der Arbeit der Menschenrechtsorganisationen, der nationalen Frauentreffen und verschiedenen feministische Kollektive. Mittlerweile ist es massiv geworden. Es hat zwar in Argentinien angefangen, sich aber rasch in Lateinamerika ausgebreitet. Und weltweit. In den meisten Ländern gibt es ein Ni una menos. Und nicht nur Ni una menos. Weltweit gibt es Partnerbewegungen, wie zum Beispiel den IWS/PIM International Women Strike/Paro internacional de mujeres: Beim letzten internationalen Frauenstreik waren 54 Länder vertreten. Dazu die irische Pro Choice (in Berlin ebenfalls aktiv) und viele andere.

Welche verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt gegen Frauen gibt es und welche ist Ihrer Einschätzung nach am auffälligsten? Wie ist das Verhältnis zu häuslicher Gewalt?

Frau Pardeller, Frau Wischnewski: Häusliche Gewalt klingt verharmlosend als ob es zum Haus gehören würde. Genauer gesagt ist es Gewalt durch (Ex-)Partner. Das ist sicherlich (in vielen Regionen) die vorherrschende Gewaltform gegenüber Frauen, eben weil sie „hinter verschlossenen Türen“ stattfinden kann. Dazu gehört physische, aber auch psychische Gewalt. Diese ist eingebettet in patriarchalen Verhältnissen: Das bedeutet in einer Gesellschaft, die eine strukturelle Schlechterstellung der Frau aktiv mitträgt: Dazu gehören geringere Entlohnung ebenso dazu wie sexistische „Scherze“, die immer noch mit einem „hab dich nicht so“ quittiert werden. Das sind die ganz alltäglichen Übergriffe und Herabstufungen die nicht dazu beitragen, das Äußerste, den Mord zu verhindern.

Frau Palombi und Frau Liberatori: Der Feminizid ist definitiv die schlimmste Form der Aggression. Aber Gewalt gegen Frauen ist in einer breiten Palette vertreten: zwischen Erziehungsmaßnahmen in der Kindheit bis zum Feminizid, durch häusliche Gewalt, Vergewaltigungen, wie die Werbung den Körper der Frau benutzt usw. Wenn wir über Gewalt am weiblichen Körper sprechen, reden wir von: sexueller Gewalt, symbolischer Gewalt, psychischer Gewalt, physischer Gewalt, wirtschaftlicher Gewalt, Cybergewalt usw. In Lateinamerika benutzen wir das Wort Mikromachismo: Das sind die alltäglichen chauvinistischen Verhaltensweisen, die das Terrain vorbereiten, damit die Machtsituation auf fruchtbaren Boden trifft.

Als Beispiel: Warum reagieren wir gegen chauvinistische Witze?

Weil solche "Witze" und Sprüche helfen, die Gewaltsituation gegen Frauen zu naturalisieren.

Welche Maßnahmen sollten ergriffen werden, um geschlechterspezifische Gewalt entgegenzuwirken?

Frau Pardeller, Frau Wischnewski: Frühes Aufbrechen von Geschlechterrollen durch geschlechtersensible Pädagogik, konsequentes Eintreten gegen jegliche Form von Sexismus sind langfristige Maßnahmen.

Es geht darum zu erkennen, dass die Rechte der Frauen nicht damit eingeräumt werden indem eine Reihe von Männern einen Stuhl aufrücken und ein bisschen Platz machen. Wenn die Frau als relevantes Subjekt mitgedacht wird, müssen ihre spezifischen Erfahrungen relevant sein und mit einbezogen werden in die Gestaltung der Gesellschaft. Die „Nein heißt Nein“-Kampagne drückt das in Bezug auf sexuelle Übergriffe aus.

Kurzfristig ist ein Ausbau an Beratungsstellen und Schutzräumen notwendig, um die Zuspitzung von Gewalt zu verhindern.

Eine Umverteilung der Gelder welche sich für Gewaltprävention und Schutz einsetzen ließen wäre ein staatliches Statement, wo die Priorität des guten Zusammenlebens sichtbar werden würde, und die Anerkennung dessen, dass es ein akutes Problem mit der aktuellen Gesellschaftsorganisation gibt.

Frau Palombi und Frau Liberatori: Wir können es auf einen Punkt konzentrieren: Erziehung. Wir sollten aufhören zu denken, dass es typische Frauen- oder Männermerkmale gibt: "Frauen sind passiv, empathisch, liebevolle Pflegerinnen von Alten und Kindern. Männer sind von Natur aus aggressiv, sexuell aktiver, karriereorientiert. Frauen haben eine besondere Sensibilität für Haushalt/Kinder. Männer sind die Ernährer der Familie, Männer brauchen mehr Sex usw." Wir sollten aufhören, an viele Konzepte wie die romantische Liebe zu glauben. Wir sollten aufhören, schwache Prinzessinnen und mutige Ritter zu erziehen. Darüber hinaus sollten wir an den Gesetzen arbeiten. Und die Gesetze anwenden. Dafür müssen auch die Polizei und die Justiz mitmachen (und natürlich geschult werden). Wir brauchen also einen "Tritt auf das Brettspiel", um das Ganze wieder "aufzuräumen".

In Italien wird beispielsweise nach Angaben von Stopfeminicido[3] circa jeden dritten Tag eine Frau getötet, haben wir es bei dem Phänomen, um eine alltägliche Form struktureller Gewalt zu tun?

Frau Pardeller, Frau Wischnewski: Auch in Deutschland versucht jeden Tag ein Mann seine (Ex-) Partnerin zu töten. Insofern ist es alltäglich. Da es in Deutschland aber noch nicht das Bewusstsein über die Struktur dahinter gibt, werden diese Frauen zu Einzelfällen.

Die Alltäglichkeit zeigt sich vor allem auch darin, wie mit den Morden gesellschaftlich umgegangen wird: Die Nicht-Relevanz, die Gerichtsprozesse, die häufig den Täter schützen zeigen die Alltäglichkeit der geschlechtsspezifischen Gewalt die im Mord ihren höchsten Ausdruck findet, aber gesellschaftlich jeden Tag aufs Neue generiert wird: Auf gesellschaftlicher Ebene wird die Idee vertreten, dass die Frau für das Funktionieren verantwortlich ist, von Beziehungen, Haushalten, Kindererziehung. Und wenn etwas nicht mehr funktioniert scheint es wie eine gerechte Strafe, wenn sie dafür mit ihrem Leben bezahlt. Das wird jeden Tag aufs Neue abgerufen und das ist der Rahmen, in dem sich die Frauen jeden Tag bewegen, also ihren Alltag darin bestreiten.

Frau Palombi und Frau Liberatori: Definitiv ja. Und zwar weltweit. Die gute Nachricht ist, wenn man es so ausdrücken kann, dass die Zeit reif zu sein scheint, damit sich alles ändert.

Warum bekommt das Phänomen in den deutschen Massenmedien so wenig Aufmerksamkeit?

Frau Pardeller, Frau Wischnewski: Feministinnen hatten es schon immer schwer, mit ihrer Kritik an strukturellem Sexismus durchzudringen. Es würde ein ganz grundlegendes Umdenken erfordern. Da wird geblockt.

Frau Palombi und Frau Liberatori: Natürlich haben wir viele Theorien darüber. Aber das sind nur Theorien. Wir sind ein Teil der deutschen Gesellschaft. Trotzdem fänden wir es nicht richtig, Theorien "aus dem Flur" zu holen, ohne ernste Investigationen und Studien. Es muss umfassend untersucht werden, wieso man in Deutschland die Feminizide nicht sieht oder nicht sehen will. Tatsache ist aber, dass nach den Medien, aber auch nach den persönlichen Gesprächen mit Bekannten der Feminizid ein Phänomen zu sein scheint, das "im Ausland" stattfindet. Bis zum letzten Jahr gab es in Deutschland keine Statistiken. Die Statistiken, die wir haben (von 2015, erst letztes Jahr erschienen), sind auch nicht komplett und von daher nicht sehr aussagekräftig. Das Wort Feminizid wird in Deutschland nicht benutzt. Mir kommen die Attacken mit Säure gegen Frauen in Berlin in den Sinn. Wir haben eine Aktion auf der Straße gemacht. Die meisten Menschen wussten nichts davon. Kaum wissen wir, wo das war. Über die Opfer hat man keine Info. Die Frauen, die attackiert wurden, sind allein. Der Rest der Frauen ohne genug Informationen, um sich zu verteidigen oder zu schützen. Und die meisten Menschen wissen wenig bis gar nichts darüber. Es ist der Moment gekommen, in dem wir genau hinschauen und unsere ganze Erziehung und Kultur infrage stellen und sie endlich verändern.

Das letzte Wort gehört Ihnen bei diesem heiklen Thema und sicher keinem männlichen Fragesteller. Ihr Impuls für den öffentlichen Diskurs..

Frau Pardeller, Frau Wischnewski: Genauer schauen, Fragen stellen, keine Angst vor Komplexität haben. Wenn eine Frau umgebracht wird gibt es einen gesellschaftlichen Anteil der mit verantwortlich ist. Diese Komplexität wird von Begriffen wie Eifersuchtsdrama und Familientragödie verschleiert. – Es wird einer Frau ihr Leben genommen – das gilt es zu verstehen. Und es gilt eine Gesellschaft aufzubauen, die das ablehnt – die jetzige tut das nicht.

Frau Palombi und Frau Liberatori: Die Zeit ist reif, weltweit. Wir wünschen, dass die nächste Generation unsere Situation als obsolet sieht. Dass sie nicht glauben kann, dass wir so was erlebt haben. Es ist die Aufgabe von uns allen, achtsam zu sein und gegen die Gewalt gegen Frauen zu arbeiten. Das Thema betrifft uns alle. Wir wollen nicht, dass es "irgendwann" passiert, dass es sich erst in der Zukunft ändert. Wir wollen es erleben. Und deshalb arbeiten wir dafür.

Ni una menos-Berlin. Vivas nos queremos

Keine weniger. Wir wollen uns lebend.

[1] Jurreit, Marielouise (1976): Sexismus: über die Abtreibung der Frauenfrage, München [u. a.], S. 702. Dass das Buch nebenbei bemerkt an meiner Heimatuniversität im Jahre 2017 immer noch unter der Notation „10=JC Problemgruppen (Ausländer, Behinderte, Unterschicht)“ (S.6) zu finden ist, lässt leider tief blicken.

[2] Das Gespräch wurde nicht in der Form eines Gruppengesprächs geführt, sondern einzeln mit den jeweiligen Gesprächspartnerinnen. Die Aussagen der jeweiligen Gesprächspartnerinnen sind voneinander unabhängig zu betrachten.

[3]URL - http://www.stopfemminicidio.it [11.11.2017]

*Zu den Gesprächspartnerinnen:

Marlene Pardeller ist Mitglied der Initiative #keinemehr, Filmschaffende und arbeitet seit fünf Jahren in feministischen Bewegungen in Italien und Mexiko.

Alex Wischnewski ist ebenfalls Mitglied von #keinemehr, aktiv im feministischen Netzwerk Care Revolution und ist Referentin für feministische Politik der Fraktion Die Linke im Bundestag, unter anderem zum Thema Gewalt gegen Frauen.

Julieta Palombi und Ligia Liberatori sind in der Initiative Ni una menos Berlin („Nicht eine weniger“) aktiv, einem Aufruf unter dem 2015 in Argentinien Hunderttausende gegen die Gewalt gegen Frauen auf die Straße gingen.

Weitere Informationen und Links:

http://rosaluxspba.org/de/tag/feminismus/

https://twitter.com/NiUnaMenos_

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