Papst Franziskus ein Antikapitalist?

Kapitalismuskritik Franziskus scheint gegen Lebensperspektiven vorzugehen, die aus einer Haltungsethik entstehen, die die Grundlagen des kapitalistischen Wirtschaftssystems unterstützt.

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Plötzlich wird der Papst als der „mächtigste Mann einer sehr reichen Organisation“ beschrieben, der „über Armut, Ungerechtigkeit und die Wirtschaft im Allgemeinen“ in unzulässiger Weise schwadroniere. Der Papst identifiziere „angebliche Schuldige“. Mit seinem apostolischen Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ trat der Papst im ersten Jahr als oberster Hirte der katholischen Christenheit als scheinbarer Kapitalismuskritiker auf, der den westlichen Ländern die Leviten zu lesen scheint. Franziskus: „Ebenso wie das Gebot ,Du sollst nicht töten‘ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein ,Nein´ zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen‘ sagen.“ Es kulminiert in Sätzen wie „Diese Wirtschaft tötet“ oder „Das Geld muss dienen und nicht regieren“.

Harsche Reaktionen

Die Reaktionen der Gegner sind bekannt und recht deftig: Wochenlanger Aufruhr und auch massive Kritik an einem „Kommunisten Franziskus“, insbesondere von Seiten der Wirtschaft und aus konservativen Kreisen.

Weshalb reagieren Vertreter der westlichen Medien und des Kapitalismus mit solch harschen Äußerungen?
Könnte es an dem Missverständnis liegen, dass jeder mögliche Anschein von gemeinschaftsschädigenden Auswirkungen kapitalistischer Systeme vermieden werden soll, in der Folge systemzersetzend sein könnte und daher Kritiker des Kapitalismus seitens der Verteidiger dieses Systems bekämpft werden müssen? Das wäre absurd und würde ein in sich perfektes System ohne negative Symptomatik postulieren und wäre auch vor dem Hintergrund zahlreicher Finanz- und Wirtschaftskrisen samt sozialer Verwerfungen nicht erst seit 2008 mehr als unglaubwürdig.

Ideologisierte Ethik

Oder liegt es doch, tiefer liegend, an einem Missverständnis einer Art Haltungsethik oder ideologisierten Ethik des Menschen in kapitalistischen Systemen, die als Allgemeingut propagiert und als von vielen Menschen selbstverständlich erachtet und unhinterfragt übernommen wird? Ethik ist die Lehre vom menschlichen Handeln, und zwar vom richtigen oder falschen menschlichen Handeln. Zugegebenermaßen eine komplexe und äußerst mühselige Aufgabe, der sich nur noch wenige Menschen stellen, oder für deren Beschäftigung schlicht die Zeit zwischen Arbeitsleben und Freizeitvergnügen fehlt. Eine Haltungsethik oder ideologisierte Ethik übergeht die Fragen nach einer Perspektive, aus der man sich mit „falsch“ und „gut“ auseinandersetzt, oder sie hat diese Fragen bereits für sich beantwortet. Sie verwirft Beschäftigungen darüber, welche Blickrichtung das eigene Denken und Tun einnehmen sollte oder könnte, oder sie hat diese Beschäftigungen bereits für sich abgehandelt.

Haltungsethik ist quasi ein vorgefertigtes oder fertiggestelltes Perspektiven- und Handlungskonstrukt für den einzelnen Menschen und Bürger, welches nun von dem jeweiligen Betrachter angenommen oder verworfen werden kann, welches kapitalistisch orientierte oder kommunistische oder autokratische Systeme jeweils spezifisch entwickeln, präsentieren und bewerben können. Und welches den charmanten Vorteil hat, dass all die Überlegungen ethischer Art von gut und schlecht, von böse und richtig, dass all die Dimensionen von „Folgen meines Handelns“ und all die Hinterfragungen von „bin ich auf einem richtigen Wege?“ und „hält die Perspektive, was sie verspricht?“ elegant beiseite geschoben werden können ‒ und zwar durch den Annehmenden, dem diese ganze lästige Prozedur erspart scheint. Quasi eine ideologisierte „Instant-Packung Ethik“.

Camus als Vorlagengeber

Vor dieser Ausgangslage kann Camus´ Forderung nach einem Menschen ins Zentrum der Überlegung rücken, der sein Leben und das darin auftauchende Spannungsverhältnis zwischen „Sinn des Lebens“ und „Sinnlosigkeit des eigenen Tuns“ permanent (oder gelegentlich) reflektiert, der dieses Leben annehmen und sich dadurch individuelle Freiheit(en) sichern sollte, als Grundausdruck einer grundlegenden Haltungsethik im Kapitalismus begriffen werden, welche illusionäre Lebensperspektiven eines idealen Bürgers innerhalb einer Konsumwirtschaft kapitalistischer Ausprägung anstrebt. Illusionär, da die Hoffnung auf individuelle Freiheit eben nicht erreicht und das postulierte Spannungsverhältnis eben nicht hinwegsublimiert werden können.

Verschiedene Wirkkreise des Franziskus

Franziskus Äußerungen sind zum einen Frontalangriffe und direkt gegen das „vorherrschende Wirtschaftssystem“ gerichtete Kritiken: Am vergötterten Markt, an der Diktatur der Wirtschaft, an der Wegwerfkultur, an (Kinder-) Prostitution, an Kinderarbeit, an sinnlosen Vergnügungsangeboten, an ungleichem Lohn, an der alltäglichen finanziellen Unsicherheit eines großen Teils der Weltbevölkerung, an dem Finanzkapitalismus, an der Geldgier, an Korruption, an Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds, an Steuerhinterzieher als Sozialschmarotzer usw.

Zum anderen greift der Papst dahinterliegende Mechanismen und Vorgänge an, es ist eine Kritik an der Haltung, die dem Kapitalismus inne wohnt: Er bemängelt das Phänomen des Ausbeuterischen, ihm missfällt, dass das Geld wie ein Fetisch gottgleich betrachtet wird, er kritisiert die Vorstellung von Arm und Reich, die sich nur an finanziellen, nicht an geistigem Vermögen orientiert und auch nicht daran, ob jemand arm oder reich im Verhältnis zu einem postulierten Gott ist. Er sieht eine ethisch geschwächte Kultur, ein Gesetz des Stärkeren, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Er kritisiert eine falsche Akzentuierung im Handeln des Menschen. Auch missfällt ihm der Mechanismus, dass der Mensch wie ein Konsumgut betrachtet wird und der soziale Friede eine geringere Rolle spielt, da der derzeitige soziale Friede ein brüchiger Pseudofrieden darstellt.

Darüber hinaus kritisiert Papst Franziskus die Folgen einer Haltung eines Teils der Menschheit, die Denkformen, die einer solchen Wirtschaftssystematik Vorschub leisten (und umgekehrt) und Haltungen offenbaren, die der Logik des Kapitalismus folgen: Der Mensch werde sozial ausgegrenzt und dadurch in seinem Menschsein getötet, der Mensch gerate in Mittäterschaft bei Phänomenen dieser Unterdrückung und Ausgrenzung, der Mensch gerate in einen hedonistischen, heidnischen Individualismus, wodurch er einen Teil seiner Gefühlswelten verliert. Ihm gefällt die Oberflächlichkeit nicht, die abgeschottete Geisteshaltung, die Selbstbezogenheit. Er beklagt den eingetretenen Zerfall menschlicher Bindungen (gerade innerhalb von Familien), die fehlende Solidarität der Menschen untereinander, das fehlende Mitgefühl. Sogar eine Art Entmenschlichung, die von erloschener Lebensfreude, Respektlosigkeit und Gewalt flankiert wird, spricht er an. Er sieht die Würde des Menschen missachtet.

Gegen falsche Lebensperspektiven

Franziskus´ Aussagen in seinem Lehrschreiben gehen nicht gegen dieses oder jene Detail einer falschen Ausprägung in dem ein oder anderen Land vor, sondern gegen jene Lebensperspektiven, die aus der vorherrschenden Haltungsethik entstehen, die die Grundlagen eines Wirtschaftssystems unterstützen, das auf Ausbeutung der meisten Menschen, auf Konsumgier und eine Sinnlosigkeit menschlicher Lebensperspektiven bei scheinbar individueller Freiheit des Einzelnen setzt. Dies wäre dann die ostentative Kritik des neuen Papstes Franziskus: Nicht an einem Kapitalismus, sondern an einer Haltungsethik, die im Laufe der Kapitalismusgeschichte vom Kapitalismus übernommen wurde und von den meisten Menschen unkritisch rezipiert und als Selbstverständlichkeit angesehen wird.

Das Beste aus dem Leben machen?

Interessanterweise und für einen Papst durchaus bemerkenswert zudem, dass Franziskus nicht unter allen Bedingungen einen „sozialen Frieden“ will, sondern an einen solchen ganz konkrete Bedingungen stellt.

Viele Menschen sagen, dass sie die Situation „so annehmen und das Beste daraus machen“ wollen. Der eigene Wert zeige sich innerhalb des eigenen, kleinen Lebens, und darüber hinaus müsse man eben machen, was man von einem erwarten würde. Dies entsprich einer Haltungsethik ‒ nach Franziskus einer ideologisierten Ethik ‒, und zwar ganz nach Camus Geschmack und ganz im Sinne des vorherrschenden globalen Systems, der eben der Kapitalismus ist. Ein Jammer?

Mehr zum Thema: Hörner, Richard. Papst Franziskus gegen den Mythos des Sisyphos? Kapitalismuskritik im päpstlichen Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ und Lebensperspektive des Menschen aus Camus „Der Mythos von Sisyphos. Bellheim: Scriptline Publishers, 2014, 148 S., ISBN: 978-3-938846-53-7; Informationen unter: https://www.amazon.de/Papst-Franziskus-gegen-Mythos-Sisyphos/dp/3938846534

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Geschrieben von

Richard Hörner

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