Fukushima/Japan oder - Sicherheit, Territorium, Bevölkerung

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Briefe an die Ethikkommission, Teil II.

Rund um die havarierten Reaktorblöcke in Fukushima verliert der japanische Staat seine Souveränität und opfert einen Teil der Bevölkerung um der Selbstlegitimation willen.

Von Robert Zion

Die Strahlenmessungen, die Greenpeace vorgenommen hat, sind erschütternd: auch außerhalb der derzeit gültigen Evakuierungszone sind die Strahlendosen teilweise so hoch, dass dort ein sicheres Leben der Bevölkerung nicht mehr garantiert werden kann. Dennoch weigert sich die japanische Regierung, weiteres Territorium preiszugeben. Das ist nicht weniger als das – offensichtlich für die Regierung hinnehmbare – Todesurteil für einen Teil der Bevölkerung.

Während also noch bei Tschernobyl von einer sozialistischen Technologie und einem totalitären System die Rede gewesen ist, die weder Sicherheit noch Schutz der Bevölkerung garantieren konnten, geschieht dies hier in einem westlichen Hochtechnologieland und einer Demokratie. Das heißt einfach: Es gibt nun keine Ausreden mehr bezüglich des Herrschaftscharakters, ja, zutiefst undemokratischen, totalitären Charakters dieser Technologie.

Es gibt zwei Interpretationsmuster bzw. Folien, auf de nen dich sich der gegenwärtig in Japan stattfindende Prozess abbilden lässt, eine völkerrechtliche und eine gesellschaftsanalytische, die beide mit dem Wandel von Souveränitätsstrukturen in modernen Gesellschaften zu tun haben.

Die völkerrechtliche Folie ist die UN-Resolution 1674, die sogenannte „Responsibility to Protect“ („Verantwortung zu beschützen“) vom April 2006. Diese geht auf die Erfahrungen von Ruanda und Srebrenica zurück und schränkt das im Völkerrecht verankerte Souveränitätsprinzip zumindest de jure ein. Sie galt als völkerrechtliche Antwort auf die seinerzeit vom UN-Generalsekretär Kofi Annan gestellte Frage: „Wenn humanitäre Intervention tatsächlich einen inakzeptablen Anschlag auf das Souveränitätsprinzip darstellt, wie sollen wir dann auf ein Ruanda, auf ein Srebrenica reagieren – auf schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen, die jegliches Prinzip unserer gemeinsamen Menschlichkeit tangieren?“ Die Frage ist, ob dieses „Prinzip unserer gemeinsamen Menschlichkeit“, das die völkerrechtliche Souveränität nationaler Regierungen relativiert, sobald diese dieses Prinzip nicht mehr garantieren können oder wollen, nicht ebenso auf Japan und Fukushima angewandt werden müsste – kurz: ob der tödlich gewordene Teil des japanischen Territoriums nicht unter die Verwaltung der Vereinten Nationen gestellt werden müsste.

Vieles spricht dafür dass dies geschehen muss. Denn geschieht dies nicht, wird das zweite Interpretationsmuster, die zweite Folie greifen, auf der sich der Prozess in Japan ebenso abbilden lässt.

http://resources.vol.at/japan-so-sieht-die-todeszone-rund-um-das-akw-fukushima-aus/news-20110412-04082511-1772003483.jpg

Evakuiertes Odaka/Japan 2011

Diese zweite Folie findet sich in den Untersuchungen über die Herrschaftstechniken und Souveränitätsstrukturen in modernen Gesellschaften, die Michel Foucault in Band 1 („Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“) seiner „Geschichte der Gouvernementalität“ angestellt hat. Dort wird eine Verschiebung der Dominante der Machttechnologien in unseren Gesellschaften festgestellt. Es geht dabei darum, „dass die Gesamtökonomie der Macht in unseren Gesellschaften dabei ist, zur Sicherheitsordnung zu werden“. Dominant ist heute daher nicht mehr die Souveränität über ein Territorium oder ein sich auf die Körper der Menschen richtendes Disziplinarregime, sondern ein Sicherheitsdispositiv, dass sich auf die Gesamtheit einer Bevölkerung, einer Population richtet.

Es geht um „die Idee der politischen Effizienz der Souveränität“, die im Grunde ständig ein auf die Gesamtheit der Bevölkerung, der Population, gerichtetes Kosten-Nutzen-Kalkül aufmacht. Die ökonomischen und politischen Kosten der Evakuierung eines Teils der Bevölkerung werden gegen die der Opferung dieses Teils in Bezug auf die Souveränität über die Gesamtpopulation gewissermaßen verrechnet. „Die Idee der politischen Effizienz der Souveränität“ ist also ein im dominant gewordenen Sicherheitsdispositiv gesetzter Mittelwert.

Die „Politik der Wahrheit“, als die Foucault seine Philosophie bezeichnet, stellt uns also eine zutiefst ethische Frage. Und ethische Fragen sind immer praktisch, ganz konkret. Bezüglich Japan und Fukushima lautet diese Frage: Setzen wir die staatliche Souveränität in seiner Verschränkung dieser Technologie mit dem Sicherheitspositiv so absolut, dass er das Leben eines Teils seiner Bevölkerung zur Resultante eines Kalküls machen darf? Es wäre ein zivilisatorischer Fortschritt in den Demokratien, diese Frage eindeutig mit „Nein“ zu beantworten.

Es ist auch einleuchtend, dass sich diese Frage bezüglich des Erdbebens und des Tsunamis in Japan anders stellt, als bezüglich der Atomkraftwerke. Denn die Verwandlung des Territoriums in Todeszonen durch letztere liegt gänzlich in unserer Souveränität, obliegt unserem Einfluss, unseren Entscheidungen. Dass heißt im Grunde genommen auch und in letzter Konsequenz: Der Betrieb eines Atomkraftwerkes ist der ethische Bankrott jedes Staates.

Teil III folgt. (Teil I)

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Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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