Absurde Lieder gegen absurde Leader

Tschechien Der jahrzehntelange Umgang mit repressiven Regimen hat in Tschechien eine besondere Sensibilität für das Absurde entstehen lassen. Das zeigt sich auch in der Musik

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Ohne Ziel und Richtung
Ohne Ziel und Richtung

Foto: Free-Photos / Pixabay (CC 0)

In Tschechien scheint die Empfindung für die Absurdität des menschlichen Daseins besonders ausgeprägt zu sein. Hier hat Franz Kafka seine absurden Romane und Erzählungen geschrieben, hier hat Jaroslav Hašeks "braver Soldat Schwejk" das Licht der (literarischen) Welt erblickt. Bei Kafka wie in Hašeks Schelmenroman irren die Protagonisten durch Labyrinthe, die keinen Ausgang zu haben scheinen. Und auch wenn es sich dabei in beiden Fällen vordergründig um von Menschen gemachte Irrgärten handelt – nämlich die Labyrinthe bürokratischer, allgemein gesellschaftlicher oder militärischer Normen –, so verweisen diese doch auch stets (bei Kafka mehr als bei Hašek) auf das allgemein "Labyrinthische" des menschlichen Daseins.

Während allerdings bei Kafka die mit dem unerforschlichen Schicksal verbundene Tragik im Vordergrund steht, überwiegt bei Hašek und seinem Protagonisten die sich daraus ergebende Komik. So ist Schwejk insgesamt auch eher eine heitere, Zuversicht ausstrahlende Gestalt. Sein Leben ist deshalb allerdings nicht weniger absurd. Vielmehr ergibt sich seine hoffnungsfrohe Ausstrahlung gerade durch seinen besonderen Umgang mit der Absurdität: Eben weil er die grundsätzliche Unplanbarkeit des Lebens annimmt und mit seiner impulsiven Naivität jeden Nebenweg einschlägt, der sich ihm eröffnet, provoziert er immer neue Volten des Schicksals, die ihn ein ums andere Mal vor dem Untergang bewahren.

Dieses augenzwinkernde Hinnehmen der Absurdität, die jeder Lebensreise eignet, zeigt sich auch in dem Lied Černej pasažér ('Der blinde Passagier') der Band Traband. Die Band ist Mitte der 1990er Jahre von dem 1966 in Kolín geborenen Songschreiber und Sänger Jarda (Jaroslav) Svoboda, der sich auch als bildender Künstler betätigt, gegründet worden. Der Name "Traband" leitet sich ab aus der Anfangszeit der Band, als diese als Trio auftrat. Aus "Trio-Band" wurde später, in Anlehnung an den ostdeutschen "Trabi", "Traband".

In Černej pasažér geht es um einen Menschen, der vollständig "ohne Ziel und Richtung" durchs Leben reist. Er fühlt sich entwurzelt und heimatlos, sein Zuhause existiert nur noch in der Erinnerung. Es ist so weit entfernt, dass er es nur noch in verzerrter Form (als "Fratze") wahrnehmen kann, wenn er daran zurückdenkt. Obwohl er das Gefühl hat, "in die verkehrte Richtung" zu reisen, folgt er doch weiter seinem Weg, der ihn von "nirgendwoher (…) nirgendwohin" führt.

Diese melancholisch klingende Beschreibung der eigenen Lebenssituation wird in dem Videoclip zu dem Song auf humorvolle Weise kommentiert. Der Reisende ist hier ein Mann mit einem abgetragenen Anzug und einem viel zu großen Koffer, der am Ende im Nirgendwo der tschechischen Provinz strandet. Parallel dazu betätigen sich die Bandmitglieder als Straßenmusiker, wobei sie sich erst allmählich, einer nach dem anderen, um den anfangs einsamen Sänger gruppieren. Dadurch, dass ein Bandmitglied gerade aus der Wohnung geworfen wird und in Unterwäsche zu der Band stößt, während ein anderes sich erst aus seinem Pappkarton-Bett schälen muss und dann die Mülltonnen als Drums benutzt, ergibt sich eine Situationskomik, die eine ironische Distanz zu dem schwermütigen Text aufbaut. Auch die Musik – insbesondere das wie ein Refrain eingesetzte Trompetensolo – wirkt eher heiter-lakonisch als melancholisch.

Einen stärker politischen Hintergrund erhält das Absurde in dem Lied Pet policajtů ('Fünf Polizisten') der Musikgruppe Jablkoň. Der auf den ersten Blick grotesk wirkende Text scheint vordergründig eine metaphorische Umschreibung der fünf menschlichen Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) und ihrer Lenkung durch den Verstand darzustellen. Dass dafür das Bild von Polizisten gewählt wird, von deren Aktivität das Ich abhängig ist, kann als Hinweis auf die Fragilität der menschlichen Wahrnehmung verstanden werden. Denn zwar erhält das von den Sinnen Aufgenommene erst durch die deutende Aktivität des menschlichen Geistes Kontur und Sinn. Gleichzeitig erreicht diesen jedoch nur das, was die Sinne aufgrund ihrer jeweiligen Aktivität, aber auch aufgrund ihrer Beschaffenheit dorthin vordringen lassen. Dadurch gelten für den menschlichen Geist bestimmte hochfrequente Töne, aber auch manche Farbspektren, die andere Lebewesen wahrnehmen können, schlicht als inexistent.

Dass für die Thematisierung dieser erkenntnistheoretischen Problematik das Bild von Polizisten gewählt wird, die das Ich aus seinem Inneren heraus kontrollieren, lässt sich jedoch auch auf die Erfahrung der Fremdbestimmung in einem totalitären Staat zurückführen. Die Metapher wäre dann im Sinne einer Gedankenpolizei zu verstehen, die die Wirklichkeit durch die Manipulation der Medien und die Kontrolle des öffentlichen Lebens so filtert, dass sie nur durch die Brille der jeweiligen staatlichen Ideologie wahrgenommen werden kann. Die geistige Kontrolle wäre dabei so umfassend, dass sie auch dann wirksam ist, wenn das Ich de facto unbeobachtet ist. Diese Form einer "verinnerlichten" Zensur hat Michal Nĕmec, der die Band 1980 mitbegründet hat und heute als einziges verbliebenes Gründungsmitglied ihr Kopf ist, noch selbst erlebt. So ist durchaus denkbar, dass die Erfahrung der oft grotesken Kontrolle aller Lebensäußerungen der Bürger, wie sie für totalitäre Staaten charakteristisch ist, bei der Entstehung des Textes eine Rolle gespielt hat.

Links:

Traband: Černej pasažér

aus: Hyjé! ('Hü!'); 2004

Eingebetteter Medieninhalt

Videoclip

Liedtext

Übersetzung:

Der blinde Passagier

Ich habe einen Koffer voll überflüssigem Krempel

und eine in Tücher eingewickelte Mappe.

Mein Zug fährt jedoch in die verkehrte Richtung,

und meine Fahrkarte ist schon lange ungültig.

Irgendwo in meiner Erinnerung gibt es ein Haus,

ich sehe noch den Rauch, der aus dem Schornstein aufsteigt.

In diesem Haus ist der Tisch für mich gedeckt,

dort ist meine Heimat.

Meine Vergangenheit wendet mir ihre Fratze zu,

und das Herz tut mir weh, wenn die Erinnerung sich regt.

Denn der Baum, der sich immer nach dem Himmel streckte,

liegt nun mit abgeschlagenen Wurzeln am Boden.

Ich bin ein blinder Passagier,

ich reise ohne Ziel und Richtung,

ich fahre schwarz und weiß nicht, wohin.*

Ich bin ein blinder Passagier,

ich reise ohne Ziel und Richtung,

von nirgendwoher fahre ich nirgendwohin, und ich weiß nicht, wo es enden wird.

Ich habe lauter bunte Fotos

von irgendwann aus dem vergangenen Jahrhundert.

Aber ich fühle mich nur noch heimatloser,

wenn ich mir die Bilder ständig in Erinnerung rufe.

Ich bin ein blinder Passagier …

* wörtlich: und weiß nicht, mit welchem Leben.

Jablkoň: Pet policajtů

aus: Live Oslava (2006)

Eingebetteter Medieninhalt

Lied (Live, 2005) mit englischer Übersetzung

Liedtext

Band-Infos; weitere Infos (englisch)

Übertragung ins Deutsche:

Fünf Polizisten

Irgendetwas versucht in meinen Kopf einzudringen.

Ich warte darauf, dass der Zollbeamte meinen Verstand abfertigt.

Fünf Polizisten sind sogleich zum Dienst bereit,

weil alle fünf zusammen in meinem Kopf sind.

Etwas ruft nach mir, das meine Aufmerksamkeit verdient,

aber wie kann ich es hören, wenn um mich her Stille herrscht?

Ich hätte gerne etwas, das meine Aufmerksamkeit verdient,

aber wie kann ich es erreichen, wenn es kein Ohr hat?

Als frühmorgens der Tag das Tor der Welt öffnet,

redet etwas in mir, aber ich bin es nicht, der da redet.

Fünf Polizisten gehen schnurstracks ins Haus

und führen mich zurück zu meinem Verstand.

Etwas ruft nach mir, ...

Am Abend habe ich meine Ruhe, die Polizisten schlafen.

Vorsichtig warte ich ab, ob sie wieder erscheinen –

da erwachen sie und kehren unverzüglich zurück,

so dass ich wieder alle fünf zusammen in meinem Kopf habe.

Etwas in mir sprießt wie Getreide,

das Innenministerium schickt Verstärkung.

Die fünf Polizisten verpesten nun nicht mehr die Luft,

sondern unterstehen dem Kommando des Innenministers: Gott.

Etwas ruft nach mir, ...

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Geschrieben von

Rotherbaron

Autor, Blogger. Themen: Politik, Gesellschaft, Natur und Umwelt, Literatur, Kultur. Seiten: rotherbaron.com; literaturplanetonline.com

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