In Frage steht die Rüstungskontrolle an sich

USA-Russland Wie geht es, jetzt nach der Wahl von Joe Biden, weiter mit den amerikanisch-russischen Beziehungen? Interview mit dem bekannten russischen Politologen Iwan Timofejew.

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Der Politologe Iwan Timofejew ist Programmdirektor des Russischen Rates für Auswärtige Angelegenheiten und lehrt in Moskau am staatlichen Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO), der wichtigsten dortigen Hochschule für den Nachwuchs an Diplomaten und politischer Elite. Wir sprachen mit ihm über das aktuelle und zukünftige Verhältnis zwischen Russland und den USA.

Kürzlich sagte Biden im US-Fernsehen, er sehe Russland als Hauptbedrohung und sehe in China einen Konkurrenten, er trennt diese beiden Aspekte voneinander. War dies Ihrer Meinung nach Teil des Wahlkampfs und der Suche nach einem Feind, oder bleibt Russland im strategischen Bereich einer der wichtigsten Rivalen der Vereinigten Staaten?

Iwan Timofejew: Nun, Sie wissen, im Großen und Ganzen hat Biden nichts Neues gesagt. Ich weiß, was für einen Hype er in den Medien verursacht hat, aber es gibt eigentlich nichts Neues. Die Amerikaner stellen wiederholt fest, dass Russland zumindest seit sechs Jahren eine Bedrohung darstellt. Wenn Sie sich etwa an die Präsidentschaftskampagne 2012 erinnern, gab es dort den Kandidaten Mitt Romney. Er hat auch einmal gesagt, dass Russland die Hauptbedrohung ist. Na und?

“Für Amerika ist Russland so etwas wie ein Fetisch”

Nun, natürlich nach den Ereignissen in der Ukraine und nach diesen Skandalen mit Einmischung und so weiter, natürlich ist für Amerika Russland in vielerlei Hinsicht auch so etwas wie ein Fetisch, würde ich es sogar bezeichnen. Was China betrifft, so werden China und Russland in der Praxis in allen Lehrwerken der USA gleichermaßen als Hauptkonkurrenten bezeichnet. Nur in verschiedenen Ausprägungen. Biden sagte, der eine sei ein Konkurrent und der andere eine Bedrohung. Andere sagen, dass laut den Inhalten der nationalen Sicherheitsstrategie China und Russland beide Hauptkonkurrenten sind, und nur daneben gibt es den Iran, Nordkorea und so weiter. Feinde sind sie natürlich auch. In diesem Konzept, strategisch, etwa bei sensiblen Technologien, sind China und Russland beides die Herausforderer. Man kann das mit anderen Worten bezeichnen, aber es ist eine Tatsache, dass China und Russland schon lange in dieser Position sind. China seit zumindest drei bis vier Jahren, Russland ein bisschen länger. Das liegt auch an Russland selbst, es gibt Gründe. Wir haben viele Meinungsverschiedenheiten mit Amerika und wir sind eine große Atommacht und überall geht es um sogenannte Einmischungen, ob Skripal oder anderswo. All das hat die Aufmerksamkeit für Russland erhöht.

“Die russische Bedrohung ist eine Blase”

Aber wenn wir Bezeichnungen des Marktes nutzen, dann ist die russische Bedrohung eine Blase. Ein überbewerteter Wert. Das heißt, die Preisvorstellung von der russischen Bedrohung auf dem politischen Markt ist viel höher als die Bedrohung an sich. Die Blase ist aufgebläht. Die Frage ist, wann sie platzen wird und ob sie platzt. Das Wachstum der russischen Bedrohung ist spekulativ. Schauen wir uns die Ukraine an. Ja, die Situation ist nicht so gut, aber seien wir ehrlich: Es handelt sich um ein lokales Problem. Etwa regionales und für Amerika gibt es dort eigentlich kein grundlegendes Ziel. Nukleare Probleme können wir auf die eine oder andere Weise auch über eine Einigung mit den Amerikanern lösen und das Ergebnis ist vorhersehbar. Es wird im Allgemeinen stark übertrieben.

Wenn der Marktpreis der Bedrohung durch Russland so hoch ist, warum sollte Russland dann nicht seine Vorteile daraus ziehen, es irgendwie nutzen? Warum zum Beispiel versucht Russland derzeit, einen Kompromiss zu START III zu erzielen? Schließlich ist klar, dass die Parteien sich auch ohne Vertragsverlängerung an seine Inhalte halten. Warum gibt es nach Ihrer Meinung solche symbolischen Schritte?

Iwan Timofejew: Lassen Sie uns die beiden Fragen voneinander trennen. Sie müssen unterschieden werden. Warum profitiert Russland nicht von der hohen Einpreisung der russischen Bedrohung? Einfach weil es unmöglich ist, davon zu profitieren. Das heißt, es ist der Preis eines Wertes, den Sie nicht brauchen können. Stellen Sie sich vor, die Preise für Ziegel sind gestiegen, aber Sie brauchen keine, Sie wollen nichts bauen. Oder der Ölpreis ist gestiegen, aber Sie brauchen das gar nicht. Sie, Sie persönlich, verkaufen keines und haben einen Bauernhof. So ist es hier. Wie soll ich sagen? Die Amerikaner können dieses Spiel in ihrer Innenpolitik spielen. Wir können mit antiamerikanischen Gefühlen in unserer Innenpolitik spielen. Aber genau genommen ist der Preis des Vermögenswertes "Russland als Bedrohung" für uns unbedeutend. Das heißt, er ist hoch, aber er lässt uns kalt. Zumindest ziemlich kalt, aber das ist eine andere Geschichte.

“START ist das letzte Instrument seiner Art”

Was START betrifft, so wird Russland genau genommen ohne START leben können, das ist nicht die Frage. Die Frage ist im Prinzip die Aufrechterhaltung der Rüstungskontrolle an sich. Weil START das letzte mehr oder weniger bedeutende Instrument seiner Art ist. Wird es nicht mehr existieren wird das gesamte System vollständig zusammenbrechen. In Russland will man das nicht in Kauf nehmen. Aber wenn es keine Einigung gibt, dann müssen wir damit leben. Und im Allgemeinen verfügt Russland über Potenzial, das groß genug ist, um sich auf internationaler Ebene sicher zu fühlen zu können.

In einem Ihrer Artikel haben Sie geschrieben, als es um die amerikanischen und russischen Sanktionen ging, dass die amerikanischen Sanktionen strategisch wirken, dass sie überlegt und für eine lange Zeit so verhängt werden, dass sie Russland im Inneren wegen seiner Außenpolitik beeinträchtigen. Im Fall von Russland schreiben Sie, dass diese eher spiegelbildlich sind, Versuche einer Reflexion. Eine taktische Antwort auf das, was von der anderen Seite geschieht. Und die Amerikaner setzen diese Sanktionen immer wieder so fest, dass das Verfahren zu ihrer Aufhebung recht komplex ist. Was hindert Russland allgemein daran, genau so zu handeln und Sanktionen auszusprechen, die nicht so einfach beseitigt werden können? Warum plant man nicht langfristiger?

Iwan Timofejew: Zunächst einmal ist es schön, dass Sie meine Artikel lesen.

Immer gerne.

Iwan Timofejew: Es ist reizvoll, das kurz zu analysieren. Teilen wir diese Frage in verschiedene Bereiche auf, das muss man wirklich, da sie sehr gut, aber komplex ist. Es geht zum einen um Sanktionen, um ihre Strategie, die Taktik. In der Tat geschehen Sanktionsentscheidungen gegen Russland manchmal ad hoc. Es gibt eine Krise, sie müssen etwas tun, weil sie nicht nichts tun können. Es ist eine Frage der Diplomatie. Nur eine diplomatische Note, dass der Westen, die USA oder die EU beim Fall Skripal unzufrieden sind, hätte nicht ausgereicht.

“Niemand will natürlich Russland deswegen den Krieg erklären”

Niemand will natürlich Russland deswegen den Krieg erklären. Es gibt ein milderes Mittel – Sanktionen. Das heißt, sie geschehen taktisch, da sie durch eine Situation verursacht werden. Sie haben aber auch strategischen Einfluss, da ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft in der Regel langfristig sind, vor allem wenn es um die Sanktionen im Zusammenhang mit der Ukraine geht. Vor allem Sanktionen eines ganzen Sektors, technologische Beschränkungen und ähnliches. Sie bringen heute oder morgen kein sichtbares Resultat, aber sammeln im Laufe der Zeit Auswirkungen. Und sie begeistern nicht gerade die Märkte. So haben die Sanktionen 2014, als die Ölpreise fielen, das noch beschleunigt. Aber nun zur Geschwindigkeit der Aufhebung. Das ist eine gute Frage. Sie wird durch den Unterschied in den politischen Systemen bestimmt. In den USA ist es möglich, Sanktionen durch die Entscheidung des Präsidenten zu verhängen, also die Exekutive - die können auch schnell wieder aufgehoben werden. Es ist viel schwieriger, Sanktionen aufzuheben, die in Form von Gesetzen bestehen, die der Kongress verabschiedet hat und vom Präsident nur unterzeichnet wurden. Das bedeutet aber nicht, dass die Amerikaner da unflexibel sind - sie sind im Wesentlichen flexibel. Das heißt, sie können beispielsweise nicht aufheben, aber sie können sie zurechtbiegen. Zum Beispiel kann der Präsident die Umsetzung von Sanktionen aussetzen und sie existieren dann juristisch weiter, aber faktisch nicht. Das heißt, die Amerikaner haben eine Art politischen Spielraum.

“Der iranische Vorfall verstärkt Misstrauen”

Eine andere Sache ist, dass es unter den Amerikanern das Extrem gibt, dass sich die Politik nach Wahlen radikal ändern kann. Dies geschah zum Beispiel mit den Sanktionen gegen den Iran, als Obama den Iran-Deal unterzeichnete. Es gab eine UN-Resolution, die ihn zur Aufhebung einseitiger Sanktionen gegen den Iran verpflichtete. Obama hob sie im Grunde genommen in gutem Glauben auf. Aber Trump, der ein Gegner von Obama, den Demokraten und diesem Deal war, nahm alles zurück. Das stellt bei den USA vieles in Frage. „Okay, Sie haben einen Präsidenten, der die Sanktionen aufhebt oder mildert, ein anderer kommt und verschärft Sie. Wir vertrauen Ihnen nicht." Das ist die Auswirkung des iranischen Vorfalls, er verstärkt Misstrauen. Was die Europäische Union betrifft, dort werden Sanktionen einfacher aufgehoben, es geschieht durch einen Beschluss des EU-Rates. Was Russland betrifft, so ist es im Prinzip auch recht einfach, welche aufzuheben, sofern die Entscheidung vom Präsidenten Russlands getroffen wurde und er seiner Regierung per Dekret entsprechende Anweisungen erteilt. Die Regierung setzt das sofort um. Das heißt, all das ist recht einfach rückgängig zu machen. Es gibt einzelne Sanktionen in Gesetzesform, genau zwei. Bundesgesetz Nr. 83 in der Fassung von 2019 über besondere Wirtschafts- und Zwangsmaßnahmen und das Gesetz über Gegenmaßnahmen gegen unfreundliche Maßnahmen der USA und anderer Länder von 2018. Sie bieten aber nur ein Menü möglicher Maßnahmen, die Auswahlentscheidung wird vom Präsidenten getroffen. Warum kann Russland nicht ähnliche Maßnahmen ergreifen wie die Vereinigten Staaten? Einfach, weil sie unterschiedliche wirtschaftliche Potenziale haben. Amerika stützt sich auf die Rolle des Dollars, sozusagen auf die Rolle einer weltweit führenden Volkswirtschaft. Das heißt, wir können zum Beispiel Sanktionen gegen den amerikanische Bankensektor verhängen, aber dadurch werden wir uns entweder selbst Schaden zufügen oder gar nichts erreichen. Das heißt, die Asymmetrie der Wirtschaft führt natürlich zu einer Asymmetrie der Sanktionen. Chinesische Sanktionen sind für die Vereinigten Staaten gefährlicher als russische.

Häufig in der EU, wenn es um die starke Rolle der USA geht, äußern Russland freundlicher gesinnte Staaten, dass es an der Zeit sei, die Russlandbeziehungen zu verbessern. Und zwar, um in der Außenpolitik Unabhängigkeit zu bewahren. Darüber habe ich mit der Politologin Tatjana Romanowa gesprochen. Sie hat mich dann auf die zurückgehenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und der EU hingewiesen, wegen denen die EU ihren Energiesektor umstrukturiert. Das führt eher zu einer weiteren Abnahme der Kommunikation. Gibt es jetzt seitens der EU eine zunehmende Distanz zu Russland und eine Annäherung an die USA? Was bedeutet das für Russland?

Iwan Timofejew: Wissen Sie, man sollte sich Russland und den USA nicht widersetzen. Die EU hat da keine Wahl zwischen Russland und den Vereinigten Staaten. Für mich sind das falsche Aussagen, die dazu in der Literatur zu finden sind. Eine Annäherung an Russland bringt Europa keine Distanz zu den USA. Umgekehrt eine Annäherung an die Vereinigten Staaten – nun, sie sind bereits Verbündete und Partner. Im Allgemeinen handelt es sich da um unabhängige Prozesse, die sich kaum beeinflussen. Tatsächlich stimme ich Tatjana Romanowa zu, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Zukunft abnehmen könnte. Beim Handel wächst sie jedoch auch nach 2014. Jetzt ist sie von Covid-19 betroffen, sie war vom Rückgang der Ölpreise 2014 betroffen.

„Sanktionen verändern im Grunde die Beziehungen nicht“

Wir sehen, dass Sanktionen Schäden verursachen, aber im Grunde ändern auch sie die Beziehungen zwischen Russland und den USA nicht. Das heißt, die Wirtschaftsbeziehungen schrumpfen nicht wegen politischer Probleme, sondern aus wirtschaftlichen. Wenn die Rolle Russlands in der europäischen Wirtschaft schrumpft, wird auch die übrige Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland schrumpfen. Wenn sie wächst, wird Russland seine Rolle behalten. Natürlich gibt es - etwa im Energiesektor - politische Faktoren. Die USA drängen der EU ihr Gas auf und versuchen Nordstream 2 zu untergraben. Die EU versucht, ihre Energieversorgung zu diversifizieren. Das ist aber aus wirtschaftlicher Sicht normal. Es ist ein Versuch, den Preis zu kontrollieren. Wenn Sie ein Angebotsmonopol haben, haben Sie keinen Einfluss auf den Preis - bei mehreren Lieferanten können Sie ihn steuern. Das war auch so vor der Ukrainekrise. Es heißt, die EU-Mitglieder versuchten in Moskau schon aktiv, den Deals ihre eigenen Bedingungen aufzuzwingen, noch bevor es zu all diesen Schwierigkeiten kam. Und Moskau versuchte das Gegenteil, seine Wirtschaftsziele durchzubringen. Wir werden sehen. Selbst wenn die wirtschaftliche Zusammenarbeit abnimmt, dann mit Sicherheit über einen längeren Zeitraum - ein solcher Prozess dauert Jahrzehnte. So lange nichts Außergewöhnliches passiert.

Der Vorsitzende des Russischen Rates für Auswärtige Beziehungen, Andrei Wadimowitsch Kortunow schrieb vor der US-Wahl, dass unabhängig vom Ergebnis der Einfluss der amerikanischen Elite den eigenen des Präsidenten so überwiegen wird, dass die Beziehungen zu Russland auf jeden Fall schlechter werden. Unabhängig davon, wer die Wahl gewinnt. Teilen Sie diesen Pessimismus?

Iwan Timofejew: Nun, Andrej Wadimowitsch ist mein Chef, und es ist aus verständlichen Gründen schwierig, hier etwas anderes zu sagen. Nun, das war natürlich ein Witz. Unabhängig davon, wie andere Experten, stimme ich Andrej Wadimowitsch zu. Genauer möchte ich feststellen, dass ich Spekulationen darüber, was so passieren wird, wenn zum Beispiel Biden oder Trump gewählt wird, nicht ernst nehme.

Grundsätzlich sehe ich keine Gründe für eine Verbesserung

Ich wurde oft danach gefragt, ob sich dann die Beziehungen ändern werden. Sie werden sich nicht grundlegend ändern. Erstens: Damit etwas passiert, braucht es einen Antrieb für Bewegung, aber da ist keiner. Es gibt keine Themen für den russisch-amerikanischen Dialog, die die bestehende Situation grundlegend verändern würden. Ja, es gibt bestimmte Bereiche der Zusammenarbeit, d.h. es gibt bestimmte Punkte, wo wir zusammenarbeiten und das aufrechterhalten können. Aber grundsätzlich sehe ich keine guten Gründe für eine Verbesserung. Gleichzeitig sehe ich aktuell noch keinen Grund für eine starke Verschlechterung. Es liegt aber ein Problem darin, dass die Art der Beziehung so ist, dass wir nicht vor Krisen gefeit sind, die zu einer Verschlechterung führen können. Das heißt, eine neue Krise wie in der Ukraine kann entstehen, ein neues Syrien kann entstehen, neue Skripals, ein neuer Nawalny. Und all das kann zu einer noch stärkeren Verschlechterung führen. Daher sehe ich keine grundlegenden Auswirkungen dieser Wahlen. Es gibt hier Leute, die sagen, dass Amerika einen antirussischen Kongress, ein neutrales Außenministerium und einen pro-russischen Trump hat. Das ist absolut dumm, finde ich. In Amerika gibt es einen antirussischen Kongress, ein antirussisches Außenministerium und einen antirussischen Trump. Trump hat wenig gegen die Sanktionen gegen Russland getan, und im Allgemeinen nimmt er, gelinde gesagt, keine freundschaftliche Position gegenüber Russland ein. Nun, auch Biden, auf der Ebene der Rhetorik spricht er hart über Russland, und ich denke, dass die Demokraten mehr über Menschenrechte sprechen werden. Diese ihre Rhetorik ist bekannt. Aber wenn es in unseren Beziehungen keine neuen Krisen gibt, wird Biden auch die Sanktionen gegen Russland und anderen Druck nicht erhöhen. Weil das Probleme für Amerika selbst und Schäden für Verbündete bedeuten würde. Das gilt alles aber nur allgemein - es sei denn, etwas Außergewöhnliches passiert.

In einem Ihrer letzten Artikel schreiben Sie über die sogenannte ausgewählte Bipolarität. Wie ich Sie verstehe bedeutet das zuallererst eine wirtschaftliche Rivalität zwischen zwei Polen – aktuell den Vereinigten Staaten und China. Sie schreiben, dass nur in einzelnen Bereichen andere Faktoren Einfluss haben – Russland, die Europäische Union und so weiter. Wann hat diese Lage Ihrer Meinung nach Gestalt angenommen, wie unterscheidet sie sich von der vorherigen Zeit?

Iwan Timofejew: Sie müssen wissen, sie bildet sich erst jetzt und sie bildet sich hauptsächlich deshalb, weil die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China zunimmt. Hier ergreifen zuallererst die Amerikaner die Initiative und verstärken die Rivalität. China ist in dieser Hinsicht defensiver. Die Amerikaner sind von etwas überzeugt. Die Amerikaner glauben, dass China ein Problem für sie ist und aktiv versucht Wettbewerbsvorteile in Form staatlicher Beteiligung an der Wirtschaft zu nutzen, aktiv eigene Technologieplattformen fördert, nach Ansicht der Amerikaner Industriegeheimnisse stiehlt und vieles anderes. Das heißt, die Amerikaner gehen davon aus, dass es zur Eindämmung Chinas nötig ist, dessen Technologiefortschritt zu drosseln. Um zu verhindern, dass China die USA technologisch überholt. Nun, ein Mittel hierfür ist es, die Verbündeten zu überreden, chinesische Plattformen zu verlassen und beispielsweise politisch korrekte amerikanische Technologie zu verwenden – na ja, oder zumindest westliche. Damit liegt das Hauptmerkmal einer solchen Bipolarität vor. Es bedeutet, wie etwa die Sowjetunion während des Kalten Krieges politisch und wirtschaftlich der Gegenpol war, gibt es jetzt ebenfalls politische Meinungsverschiedenheiten. Sie haben sich nur noch nicht zu einer offenen militärpolitischen Konfrontation entwickelt, da es sich nicht um einen Wettbewerb zwischen zwei ideologischen Projekten handelt. Aber wirtschaftlich gibt es bereits Anzeichen für etwas vergleichbares. Der globale Markt bleibt bestehen, das globale Finanzsystem ebenso. Aber alles hat schon kleine Risse, und tatsächlich bilden sich auf dem Gebiet der Technologie Anzeichen einer echten Bipolarität.

Sie haben die ideologische Konfrontation erwähnt, die während der Sowjetunion und der damaligen Bipolarität bestand. Experten sagen, wenn es unterschiedliche Pole gibt, müssen sie notwendigerweise unterschiedliche gesellschaftliche Muster vorschlagen, die sich grundlegend voneinander unterscheiden, sonst sind sie nur Rivalen. Gibt es so etwas in der modernen Welt und was erwarten Sie an Auswirkungen? Wird es nach ideologischen Kriterien ein weiteres Auseinanderdriften und Zusammenballen der Pole geben?

Iwan Timofejew: Nun, Sie wissen, es gibt keine spiegelbildliche Gleichartigkeit. Deswegen ist das eine gute Frage. Es gibt einen Versuch der Vereinigten Staaten, eine ideologische Konfrontation zu konstruieren. Wenn Sie sich Lehrwerke in den USA ansehen, wird dort geschrieben, dass es sich um einen neuen Kalten Krieg, einen Krieg der demokratischen Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten der freien Welt gegen China handelt. Ein China, das von der autoritären Kommunistischen Partei geführt wird, das sich durch eine große Rolle des Staates in der Wirtschaft auszeichnet und so weiter. Aber das ist ein Konstrukt, das sind imaginäre Dinge. Denn tatsächlich unterscheidet sich China zwar politisch als auch wirtschaftlich von den Vereinigten Staaten, aber das bedeutet nicht, dass China eine Art alternatives globales Projekt vorschlägt. Das bedeutet nicht, dass sich China wie die Sowjetunion zum Beispiel als Führer einer alternativen Weltordnung definiert. Die Sowjetunion bot eine sozialistische Alternative an, diese Alternative wurde ernsthaft geprüft und genutzt, eine Reihe anderer Staaten waren auf die gleiche Weise sozialistisch. Das heißt, es gab einen großen, globalen Wettbewerb.

“China ist ein souveräner Staat – es lebt wie es will”

Das ist bei China anders. Es lebt allgemein sein eigenes Leben, innerhalb der eigenen Grenzen, innerhalb derer es jedes Recht dazu hat. Es ist ein souveräner Staat, es lebt wie es will. Ich finde manche Auffassungen dazu seltsam. Etwa wenn die USA ganz anders bezüglich der Monarchien der Golfregion denken, etwa der saudischen, die allgemein weit von Demokratien entfernt sind und auch die Rolle des Staates in der jeweiligen Wirtschaft nicht klein ist. Diese Staaten sind in die globale Marktwirtschaft eingebettet wie China und ebenso erfolgreich. Was wir dazu aus den USA hören, ist in vielerlei Hinsicht ein imaginäres Konstrukt. Etwa wird China eine Expansion im Form des Projekts „Neue Seidenstraße“ vorgeworfen, aber dieses Projekt ist allgemein in erster Linie wirtschaftlicher Art und dieser Angriff ist nicht sehr schlau. Die Hauptanstrengungen der neuen Seidenstraße bestehen darin, in Häfen und die Infrastruktur von Seehandelsrouten zu investieren. Also eigentlich in eine Erhöhung der Rendite. Das bedeutet, diese Sache hat gar nichts zu tun mit den USA und China, sondern nur mit den Beziehungen zwischen Europa und China, den Handelsbeziehungen. In Europa gibt es dazu auch unzufriedene Stimmen, aber genau genommen bietet dieses Projekt einer Reihe von europäischen Ländern Vorteile. Etwa Italien, Deutschland oder den Niederlanden. Dort gibt es generell viele interessante Projekte. Daher sehe ich in der Schaffung dieser Ideologie einen Versuch der Vereinigten Staaten, künstlich Konflikte zu schaffen. China wiederum bietet noch keine ernsthafte Alternative. Aber wir werden sehen. Es gibt dort interessante Ideen von einer Gemeinschaft, einem gemeinsamen Schicksal im Bezug auf den wirtschaftlichen Wohlstand. Diese sind aber nicht konfrontativ und fordern die Amerikaner nicht offen heraus. Es geht also nur um die eigene Wahrnehmung der Amerikaner.

Herr Timofejew, vielen Dank für dieses Gespräch.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Roland Bathon

Journalist und Politblogger über Russland und Osteuropa /// www.journalismus.ru

Roland Bathon