Wie tickt das junge Moskau politisch?

Interview Sind junge Russen oppositionell oder desinteressiert? Werden Absolventen von Elite-Unis auf linientreu getrimmt? Wie denken sie politisch? Ein Gespräch mit Julia Dudnik

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Die jungen Erwachsenen Russlands - vor allem in großen Metropolen - bieten politisch ein scheinbar widersprüchliches Bild. Oppositionelle Demonstrationen werden oft vor allem von unter 30jährigen bevölkert und die russische Regierung hat unter ihnen die niedrigste Unterstützung aller Altersgruppen. Auf der anderen Seite bescheinigen vielen Umfragen politisches Desinteresse, viel mehr sehen sich unter ihnen nicht als Europäer als bei den älteren Russen. Wie ticken die jungen Russen, unter ihnen die junge Elite, die in Zukunft die Geschicke des Landes übernehmen wird? Sehr gut kennt diese gesellschaftlichen Gruppen Julia Dudnik aus Moskau, die sich als Absolventin der Elite-Hochschule MGIMO mitten im Thema befindet.

Nicht politisch Europa, aber von den Werten

Eine kürzliche Umfrage des Lewadazentrums ergab, dass sich weniger als ein Viertel der jungen Russen von 18 bis 25 Jahren als Europäer betrachten. Das ist wesentlich weniger als in früheren Jahren und bei älteren Russen. Wo siehst Du dafür die Ursache?

Julia Dudnik: Ich habe diese Umfrage gelesen. Es gibt sozusagen eine „politische Gemeinde“ Europa. Also die EU und immer noch eng verbundene Staaten wie Großbritannien, das jetzt in ihr nicht mehr Mitglied ist. Zu dieser Gemeinde gehört Russland nicht. Es gab eine kurze Periode in der Geschichte Russland, in den 90er Jahren. Da hat sich Russland als europäisches Land betrachtet und die Politiker haben das so in das Volk transportiert. Jetzt ist das nicht mehr so. Genauso war es aber fraglich, ob die UdSSR ein europäisches Land war - eher nicht, es war etwas eigenes. Und die Jungendlichen empfinden Russland heute ebenfalls als eigenständig.

Folgt aus der Distanz zu Europa auch eine solche zum westlichen, liberalen Wertesystem, das sich sehr stark auf Toleranz und Diversität fokusiert? Haben junge Russen andere Prioritäten, was ihnen wichtig ist?

Wenn man über Werte spricht, gibt es keine Alternativen, die bei den jungen Russen dominieren. Die europäischen Werte, die im Zeitalter der Aufklärung fußen, teilt man hier nach wie vor. Auch unsere Verfassung - obwohl aktuell geändert - hat ihre Wurzeln in europäischen Traditionen. Bei den Werten ist uns Europa näher als Chinesen oder Japaner beispielsweise. Daran hat sich auch in den letzten 10-15 Jahren nichts entscheidendes geändert.

Nicht unbedingt oppositionell, aber verunsichert

Junge Russen dominieren viele oppositionelle Demos - gerade in Moskau. Auch die Regierung schneidet bei der Zustimmung in der jungen, urbanen Altersgruppe stets am schlechtesten ab. Ist es richtig, wenn man sagt, die Masse der jungen Leute in Moskau ist oppositionell gesinnt?

Es gibt unter den Jüngeren verschiedene Gruppen, manchmal konservativ, manchmal liberal. Es gibt eine große Meinungsvielfalt - in Moskau wie in anderen Städten. Das Konservative dominiert hier nicht. Jüngere Leute hier sind sehr offen gegenüber digitalen Medien. Das Fernsehen spielt für sie keine große Rolle mehr und die Propaganda dort. Ich meine nicht nur Propaganda im negativen Sinne, auch die Darstellung der Politik, wie sie genauso in anderen Staaten stattfindet. Sie kommt bei Jüngeren nicht mehr an. Deshalb spielen sie eine größere Rolle bei Protesten und man sieht sie auf den Straßen. Das Fernsehen hat sich damit sogar schon abgefunden und man sieht es beispielsweise bei Interviews klar, dass die Zielgruppe über 40- oder 50jährige sind. Das ist kein Geheimnis. Die Moskauer kann man aber nicht verallgemeinern, sie sind sehr unterschiedlich. Leute kommen von überall hierher um zu arbeiten oder zu studieren. Sie sind vielleicht etwas überdurchschnittlich politisch interessiert.

Du stammst aus Woronesch und lebst jetzt einige Jahre in der Hauptstadt. Gibt es Unterschiede beim politischen Interesse und bei den politischen Einstellungen zwischen Jüngeren in der russischen „Provinz“ und in Moskau?

Es gibt einen Unterschied. Die Leute, die weit entfernt wohnen, fühlen sich weniger betroffen von der Politik. Ich meine nicht nur Proteste, Demonstrationen. Und es betrifft nicht nur die Politik. Die Leute in Woronesch haben sich auch nicht so sehr als Teil der Fußball-WM gefühlt - in der Politik ist das ähnlich. So haben die Leute dort, nur weil auf der Twerskaja demonstriert wird, nicht im gleichen Maße das Bedürfnis, das auch zu tun.

Was macht Jüngere unzufrieden?

Einige Sachen spielten hier in letzter Zeit eine Rolle und wurden von jüngeren Influencern wie Juri Dud und anderen aufgegriffen. Dabei sind Dinge wie die Videos von Nawalny über Putins Villa oder die Korruption nicht so entscheidend. Das will man natürlich sehen, informiert sein, aber das regt die Leute nicht auf. Aber andere Sachen verursachten einen Vertrauensverlust. Etwa im Fall Nawalny die nachgewiesenen Kontakte der Leute mit ihm, die ihn dann vergiftet haben sollen. Dazu haben die Offiziellen wenig zu sagen und das empfinden die Leute als Problem. Sie fühlen sich nicht mehr sicher, wo die Grenze ist, wo man zum Feind der Regierung wird und nicht mehr sicher weiterleben kann.

Gibt es da eine unklare Grauzone, was man in Russland tun darf und was nicht - ohne nachteilige Konsequenzen für die eigene Person?

Ja, das kann man so sagen. Es ist nicht unbedingt strafbar, wenn man jemand von der Regierung beschimpft. Man kann das öffentlich verkünden und man wird deswegen nicht unbedingt bestraft. Aber es kann einem doch etwas passieren, wenn man die Aufmerksamkeit der falschen Leute erweckt. Sogar mit etwas scheinbar harmlosem. Etwa die aktuelle Teilnehmerin am Eurovision Songcontest. Hier hat eine konservative Gruppe Untersuchungen initiiert, ob das Ansehen russischer Frauen geschädigt wird. Vorher hat das niemanden interessiert - jetzt hat sich sogar der Kreml dazu geäußert und es wurde von der bekannten Regierungspolitikerin Walentina Matwienko aufgegriffen.

Westliche Medien auf Russisch haben keinen entscheidenden Einfluss

Es wird aus dem Umfeld der Regierungskräfte immer wieder behauptet, westliche Medien auf Russisch hetzen die die jüngeren Moskauer auf, fachen Proteste an, wie die Deutsche Welle oder Radio Swoboda. Wie groß schätzt Du deren Einfluss auf die jungen Moskauer ein?

Jeder, der in Russland eine Weile gelebt hat weiß, welche Medien bei den jüngeren Russen am besten ankommen. Die Deutsche Welle und Radio Swoboda sind das kaum. Natürlich machen die ihre Sachen, aber im Vergleich zu den Giganten von Medusa, Doschd oder RBK sind die Marktanteile der ausländischen Medien gering. Alle Leute, mit denen ich in meinem Alter in Verbindung stehe, haben in Telegramm Medusa, Doschd oder RBK abonniert, auch Leute die beim Staat arbeiten.

Deinen Master hast Du in Moskau am MGIMO gemacht, einer Hochschule, die im westlichen Ausland als Eliteeinrichtung gilt. Der Spiegel nannte sie „Russlands edle Kaderschmiede“. Ist ein Abschluss dort ein automatischer Fahrschein in die politische Elite des Landes? Oder braucht es da zusätzliche Voraussetzungen?

Es ist natürlich einfacher mit einer guten Ausbildung dorthin zu kommen, wohin man will. Egal ob es sich um die politische Elite oder Großkonzerne handelt.

Gute Ausbildung, aber kein Drill an Kaderschmiede

Man stellt sich als Deutscher Absolventen einer sogenannten russischen „Kaderschmiede“ als streng loyal zur Regierungspolitik und Anhänger des aktuellen Kurses vor. Ist dieses Bild, das auch der Spiegel und andere deutsche Zeitungen vermitteln, zutreffend?

Ich würde sagen nein. Es gibt Leute, die einfach besondere Leistungen gezeigt haben, um an so einer Elite-Uni zu studieren und ganz unterschiedliche eigene Ansichten haben. Und dennoch arbeiten sie danach in der Regierung oder regierungsnahen Firmen. Aber genauso in regierungskritischen Organisationen. Wenn man eine gute Ausbildung hat, kann man selbst entscheiden, was man will - ich kenne Leute aus beiden Lagern.

Wird man an einer solchen Uni in Russland nicht auf regierungsnah „gedrillt“?

Nein, da macht man eine gute Ausbildung. Man wird weder bei der MGIMO noch bei der Lomonossow-Universität, wo ich meinen Bachelor gemacht habe, darauf gedrillt, bestimmte Ansichten zu haben. Aber mit dem MGIMO-Abschluss kommt man einfacher in regierungsnahe Kreise - man hat die Möglichkeit, muss sie aber nicht ergreifen. In Russland hat „Kaderschmiede“ - das Wort gibt es auch im Russischen - keine negative Bedeutung. Wenn eine solche im Deutschen existiert, ist sie nicht zutreffend.

Zwei Gruppen akademischer Auswanderer

Ein Problem für den russischen Staat ist es, dass gerade gute Uni-Absolventen sich häufiger als andere für eine Auswanderung entscheiden - gerade solche aus international geprägten Großstädten. Was denkst Du sind die wichtigsten Gründe für Auswanderer?

Man muss hier unterscheiden. Naturwissenschaftlich-technische Spezialisten bekommen in Europa bessere Bedingungen, höhere Löhne, Krankenversicherung, andere thematische Möglichkeiten. In Russland verdienen junge Wissenschaftler oft schlecht oder arbeiten unter schlechten Bedingungen. Was Leute betrifft, die sich mit Politik beschäftigen möchten, sind die Regeln anders. Hier sucht man nach dem, was man für richtig hält - für einen anderen Staat zu arbeiten oder für den eigenen. Hier entscheidet man sich häufiger auch gegen höhere Löhne. Es ist in Deutschland und Europa auch schlecht mit der Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen. Da ist es in Russland oder GUS-Staaten, wo russische Abschlüsse anerkannt werden, einfacher.

Was könnte der russische Staat tun, um weniger Hochqualifizierte an andere Länder zu verlieren?

Für Naturwissenschaftler bessere Bedingungen schaffen - aber das steht natürlich im Zusammenhang mit der allgemeinen wirtschaftlichen Situation im Land. Bei den Leuten, die sich mehr mit sozialen oder politischen Fragen beschäftigen: Hier ist sogar Nawalny nach Russland zurückgekommen, trotz all der vorhersehbaren Schwierigkeiten für ihn. Da entscheidet nicht der russische Staat über die eigene Zukunft. Hier entscheidet der Mensch.

Zur Person: Julia Dudnik (25) ist im deutschsprachigen Raum vor allem bekannt als langjährige Redakteurin und Moderatorin des russisch-deutschen Politmagazins Russland.direct. Sie lebt und arbeitet in Moskau und hat dort an der staatlichen Lomonossow-Universität (Bachelor) und an der Hochschule MGIMO (Master) studiert. Eingebetteter Medieninhalt

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Roland Bathon

Journalist und Politblogger über Russland und Osteuropa /// www.journalismus.ru

Roland Bathon

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