Bertolt Brechts absoluter Weltruhm begann erst im Jahr 1954, als das Berliner Ensemble (BE) mit seinem Stück Mutter Courage und ihre Kinder bei einem Theaterfestival in Paris den ersten Preis gewann (der Freitag 48/2021). 1955 dann gastierte das BE mit dem Kaukasischen Kreidekreis in Paris und London. Aus einem kürzlich durch den Literaturwissenschaftler Noah Willumsen gründlich kommentierten Band mit allen – oft unbekannten – Interviews Brechts geht hervor, dass seitdem überwiegend westliche Zeitungen Gespräche mit ihm brachten. Obwohl er 1954 in Moskau den Stalin-Friedenspreis bekommen hatte, taten sich die Medien der DDR schwer, Brechts – dem damaligen Kanon des Sozialistischen Realismus nicht ganz entsprechende – Ästhetik mit dessen
Bertolt Brecht reist 1956 mit gemischten Gefühlen nach Mailand zu Giorgio Strehler
Zeitgeschichte Am Piccolo Teatro soll die „Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht inszeniert werden. Doch der Meister hält das Stück für überholt. Aber dann kommt alles anders als angenommen

Bertolt Brecht und Giorgio Strehler lernten sich 1955 in Mailand kennen – der Beginn einer jahrzehntelangen, immer neuen künstlerischen Auseinandersetzung mit der „Dreigroschenoper“
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s Sozialistischen Realismus nicht ganz entsprechende – Ästhetik mit dessen eigenen Worten zu popularisieren.Zum größten internationalen Triumph, den der Dichter selbst noch erlebte, kam es acht Monate vor seinem Tod – Brecht starb am Abend des 14. August 1956 in Berlin – bei einem Trip nach Italien. Mehr noch als in Frankreich hatte sich dort nach dem Krieg eine antifaschistisch-linke Kulturszene etabliert, in der Intellektuelle Bündnisse mit der Arbeiterklasse und den armen Bauern des Südens suchten. Ausdruck davon war nicht zuletzt der Neorealismus in Literatur und Film, Surrealistisches war nicht ausgeschlossen.Geschwächt durch eine seinem Herzen zusetzende Infektion, die weder Ärzte aus Ostberlin noch aus Westdeutschland in den Griff bekamen, war Brecht das Fliegen untersagt. So kam er am 7. Februar 1956 mit dem Zug nach Mailand, um an den letzten Proben für die Dreigroschenoper teilzunehmen, die der Regisseur Giorgio Strehler für das Piccolo Teatro inszeniert hatte. Begleitet wurde Brecht von seiner Tochter Hanne Hiob und der Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann, die 1926 John Gays Bettleroper als Stoff vorgeschlagen und schließlich übersetzt hatte. Was sie dafür an Tantiemen bekam, lag bei 12,5 Prozent. Inzwischen zeigten Hauptmann und Brecht eine eher reservierte Haltung zu ihrem Stück, obwohl es Anfang der 1950er Jahre einen waren Siegeszug um die Welt angetreten hatte. 1954 kam es in den Vereinigten Staaten zu gut 2.700 Aufführungen, mit denen die Inszenierung von Marc Blitzstein gefeiert wurde. Zweimal stand die Dreigroschenoper sogar während des Mussolini-Faschismus auf dem Spielplan italienischer Bühnen.1930 hatte sie Antonio Bragaglia unter dem Titel Die Gaunerwache als abwechslungsreiches, lebendiges Spektakel mit einem stark karikaturistischen Impetus „und einem Hauch von komischer Fantasie inszeniert, aber gezielt den ‚Klassenhass‘ entfernt“, so damals die Zeitung Corriere della Sera. Bragaglias Version wurde 1948 und 1950 erneut aufgeführt. 1943 hatte Vito Pandolfi, dem der Text nicht zur Verfügung stand, eine eigene Mischung aus Bettleroper und Songs nach Schallplatten der Dreigroschenoper auf die Bühne gebracht. Im Mittelpunkt stand die „Seeräuberjenny“, während Macheath zum Piraten wurde, dessen Hinrichtung eine Revolution entfesselt. Pandolfi wurde nach der Aufführung verhaftet. Ein Kritiker nannte die Inszenierung später „das wichtigste Dokument des italienischen Widerstands“.Strehler ist sturDer Regisseur Ruggero Jacobbi, der beide Bühnenfassungen des Stücks kannte und die Dreigroschenoper selbst in Brasilien dargeboten hatte, spürte Brecht während der Proben in Mailand auf. Strehler hatte auf einen Mann im dunklen, hinteren Teil des Parketts gewiesen und lächelnd erklärt, dass Brecht nur „widerwillig“ gekommen sei. Jacobbi konnte Brecht in ein Gespräch verwickeln, ohne dass sich dessen Aufmerksamkeit vom Probengeschehen weglotsen ließ. Auf die Frage, ob er zufrieden sei, dass Strehler seine Dreigroschenoper aufführe, meinte Brecht: „Ehrlich gesagt, nein. Ich hätte es vorgezogen, wenn er ein anderes meiner Stücke ausgewählt hätte. Ich habe mein Möglichstes getan, um es ihm auszureden, aber er ist stur. Ich halte die ‚Dreigroschenoper‘, so wie sie ist, für überholt. Sie bleibt in der Zeit verhaftet, in der sie geschrieben wurde.“ John Gays Szenenfolge sei zwar unsterblich, so Brecht, „jede Epoche, jede Nation, jedes Theater“ könne sie jedoch nach „den aktuellen Problemen und Umständen umgestalten“.War es also richtig, fragte Ruggero Jacobbi, wenn er in Brasilien die Handlung dort angesiedelt hatte? Alles andere wäre falsch gewesen, antwortete Brecht. Er habe Strehler geraten, einen italienischen Autor mit einem neuen Stück zu beauftragen, „Strehler aber ist in meine alten Texte verschossen“. Er sei ein großer Regisseur und arbeite mit dem Stück unter einem neuen Blickwinkel, außerdem liebe er die Musik von Kurt Weill. Er habe das Stück in „einer Art konventionellem Amerika“ der Gangsterfilme angesiedelt. Es könne gelingen, „aus diesem Pseudo-New-York ein Symbol der Korruption der kapitalistischen Welt zu machen, wie ich es mit meinem Pseudo-London getan hatte. Wenn ich das Stück heute jedoch nochmals schreiben müsste, würde ich die Handlung direkt in Deutschland spielen lassen“. Sein Stück Galileo Galilei, das „in Italien hochaktuell“ sei, habe Strehler leider erst später vorgesehen, so Brecht weiter.Valerio Riva, Mitbegründer des Feltrinelli-Verlages, gab Äußerungen Brechts während eines Treffens mit Intellektuellen wieder. Von den Proben nun doch sehr angetan, sagte Brecht, auf der Welt gebe es nur drei oder vier Theater vom Format des Piccolo Teatro. In Frankreich oder England befände sich die Theatertradition „im Zustand von Verwesung und Verfall“. Und weder „das Old Vic noch das Theater von Vilar oder Barrault können mit dem Mailänder Piccolo Teatro im Entferntesten konkurrieren“. Barraults Vorzüge lägen nur „im Ironischen und Satirischen“. Er kenne keine Inszenierung von Luchino Visconti, sei aber überzeugt, wenn Italien weitere Regisseure von Strehlers Format habe, dürfe es von sich behaupten, „das Land mit einer der stärksten und blühendsten Theatertraditionen zu sein“. Angesprochen auf das Kino, sagte Brecht, dass er Charlie Chaplin, Sergej Eisenstein und die Filme von Vittorio de Sica wie Fahrraddiebe und Das Wunder von Mailand als Beispiele für ein „episches Kino“ sehe. Das Wunder von Mailand habe man in Berlin leider nicht verstanden, aber „Berlin ist eine dumme Stadt“.Valerio Riva hielt auch fest, dass Brecht herzkrank sei, „er darf sich nicht überanstrengen, die Aufregung, Lärm, sogar Blitzlichter stören ihn, die Ärzte wollen es nicht“. Brecht behauptete auch, das Wetter sei ihm zu kalt, um mehr als eine Viertelstunde auszugehen. Weil er den Fotografen entgehen wollte, schlich er sich mit Elisabeth Hauptmann und Hanne Hiob durch den Hintereingang des Hotels. Einmal durfte ihn die junge Rossana Rossanda begleiten, später eine Dissidentin der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) und eine der Führungsfiguren der Manifesto-Gruppe. Rossanda gab mit Il manifesto ab 1971 eine radikal linke Tageszeitung heraus, deren Profil sie maßgeblich prägte.Brecht sagte zu Arturo Lazzari, einem Kulturjournalisten der KPI und in Mailand zu seiner Begleitung abgestellt – und er tat das auf Italienisch –, dass Strehlers Dreigroschenoper „bellissimo“ sei. Auf Deutsch fügte er hinzu: „Schön, schön, schön.“ Elisabeth Hauptmann ergänzte, Brecht wünsche sich sehr, dass das Piccolo Teatro am Schiffbauerdamm gastiere und das Berliner Ensemble in Mailand.Beim Empfang am 9. Februar, den das Theater und der italienische Verlag Einaudi gaben, brach Brecht zusammen. Am nächsten Tag, seinem 58. Geburtstag, an dem auch die Premiere stattfand, war er wieder auf der Höhe. Lazzari holte die drei Gäste im Hotel ab. Hauptmann meinte, dass es sich um einen „denkwürdigen Abend“ handele, weil Brecht seiner Kluft, in der er einem chinesischen Kuli glich, eine Krawatte hinzugefügt hatte.Lazzari saß neben Brecht, der die Aufführung „mit Spannung und Intensität“ verfolgte. Gegen Ende wurde er diskret gebeten, auf die Bühne zu kommen. „Ich sah ihn ein wenig zögernd. Dann willigte er ein. Ich wusste, dass er es vor allem für Strehler tat und für die Schauspieler, für die seine Anwesenheit (…) eine vielleicht noch bessere Belohnung als der Applaus der Zuschauer war; und er tat es für das Publikum, das – sobald der Vorhang fiel – laut nach ihm rief. Ein kurzer Auftritt, eine Umarmung mit Strehler.“ Denen, „die neben ihm standen, entgingen die Tränen in seinen Augen nicht“. Brechts Tränen sah Lazzari auch nach einer Aufführung vor Arbeiterpublikum.Wieder in Berlin bedankte sich Brecht beim Piccolo Teatro „für die exzellente Aufführung meiner ‚Dreigroschenoper‘ (…), die Sie unter Ihrem großen Regisseur gegeben haben. Feuer und Kühle, Lockerheit und Exaktheit zeichnen diese Aufführung vor vielen aus, die ich gesehen habe“. Strehler erinnerte sich später an einen seltsamen Rat, den Brecht ihm und seinem Team gegeben hatte: „Machen Sie Theater, leben Sie die Politik, Sie können dann auch weniger lesen.“