Das Beben bleibt

Algerien Die Hirak-Volksbewegung wird ein Jahr alt. Sie hat das Land verändert
Ausgabe 09/2020

Mit dieser Schlachtordnung war vor Jahresfrist kaum zu rechnen. Ergeben hat sie sich nicht allein durch die Wahl vom 12. Dezember, aus der Ex-Premier Abdelmadjid Tebboune als neuer Präsident hervorging. Wirkung hinterließ auch der plötzliche Tod von Gaïd Salah, des Oberbefehlshabers der Armee, am 23. Dezember. Der General galt seit dem von der Volksbewegung des „Hirak“ erzwungenen Rückzug von Staatschef Bouteflika im April 2019 als eigentlicher Machthaber. Dass dem durch die Straßen Algiers gefahrenen Katafalk Salahs mehrere tausend Menschen folgten, war ein Zeichen dafür, dass ein Teil der Bürger die Rolle zu schätzen wusste, die der General als Garant innerer Stabilität in einer Phase der Transition gespielt hat. Und diese sei – so der Politologe Mohamed Hennad – alles andere als erschöpft. Eben deshalb werde dem mit einer zweifelhaften Legitimation ausgestatteten neuen Präsidenten nichts weiter übrigbleiben, als auf den Hirak einzugehen.

Dass sich Tebboune dem nicht verschließt, wurde zum Jahreswechsel deutlich, als er den Universitätsprofessor Abdelaziz Djerad zum Premierminister berief. Weil er zur Präsidentenwahl 2003 einen Rivalen Bouteflikas unterstützt hatte, war Djerad lange kaltgestellt. Der Rauswurf aus dem engeren Machtzirkel erweist sich heute als Vorteil.

Revision der Verfassung

Am 21. Februar fand nun der 53. Hirak statt. Damit haben Millionen Algerier ein ganzes Jahr lang friedlich für grundlegende Veränderungen demonstriert. Wo sich in jener Zeit der Crash mit den Ordnungskräften anbahnte, wurde von beiden Seiten bewusst deeskaliert. Kein Schuss ist gefallen. Die Zahl kurzzeitig verhafteter Hirak-Teilnehmer ist entschieden geringer als die der Politiker, Militärs, Geheimdienstler und Unternehmer, die wegen Korruption zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden sind. Dass selbst Ex-Generalsekretäre der einstigem Staatspartei FLN (Front de Libération Nationale) in Untersuchungshaft sitzen, offenbart, wie sehr Gekungel die politische Sphäre geprägt hat. Es zeigt aber auch, wie gründlich aufgeräumt wird. Tebboune hat angekündigt, er lasse wegen Vetternwirtschaft selbst gegen mittlere Verwaltungskader ermitteln. Eine langfristig angelegte Antikorruptionskampagne soll alle warnen, die künftig Machtpositionen einnehmen wollen. Obwohl damit dem Hirak entgegengekommen wird, den Tebboune unermüdlich als „gesegnet und friedlich“ lobt, bleibt es dabei, dass die Volksbewegung weder seine Wahl noch seine Regierung anerkennt. Der Leitslogan am Tag des einjährigen Jubiläums: „Wir kommen nicht zum Feiern, sondern damit ihr abhaut!“

Das heißt? Der anarchistische Traum, dass die „alte Macht“ abtritt und die „neue Volksmacht“ wie Phönix aus der Asche steigt, erfüllt sich vorerst nicht. Immerhin wird vermieden, dass sich der Hirak selbst mehr politisch-organisatorisch aufstellt. Er werde dadurch entweder zersplittern oder autoritär, lautet die Begründung. Soufiane Djilali, Präsident der Partei Jil Jadid (Junge Generation) rät im Interview mit einer mehrfach verbotenen, jetzt wieder frei zugänglichen Internetplattform in Algier, dass nicht der Hirak als Ganzes, sondern die zivilgesellschaftlichen Organisationen inklusive der Parteien und Medien den Dialog mit dem Präsidenten annehmen. Sie sollten jeweils eigene Interessen – möglichst auch die des Hirak – vertreten. Djilali ist erfreut, dass Tebboune ein Gesetz vorgeschlagen hat, das eine erweiterte Versammlungsfreiheit garantiert, dazu einen Medienerlass, der besonders für die im vergangenen Jahr wieder stärker geknebelten Staatsmedien mehr Unabhängigkeit verspricht. Auch Plattformen im Internet werden toleriert.

Nicht zuletzt ist mit einer Revision der Verfassung zu rechnen, um die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung zu stärken. Verfassungsverstöße soll ein zu gründendes Verfassungsgericht untersuchen und ahnden. Ein überarbeitetes Wahlgesetz hat zu verhindern, dass sich „die Mächte des Geldes ins Parlament einkaufen“, so die Präsidialkanzlei – eine Anspielung auf Gebaren der Söhne des ehemaligen FLN-Chefs Djamal Ould Abbes, die Parlamentssitze verschachert haben.

Soufiane Djilali verwahrt sich gegen die im Hirak verbreitete Lynchstimmung gegen Armee und Sicherheitsdienste, die für das Land unverzichtbar seien. Schließlich hätten sich die Streitkräfte, wie von General Salah versprochen, nach der Präsidentenwahl von der politischen Kommandobrücke zurückgezogen. Tatsächlich sind die Zuschauer des Staatsfernsehens nicht mehr täglich mit einer zu mehr Friedfertigkeit aufrufenden Rede des Oberbefehlshabers konfrontiert, die viele nervte. Saïd Chengriha, der neue Armeechef, verzichtet auf eine derartige Machtdemonstration. Institutionen würden sich nicht ruckartig ändern, meint Djilali, wohl aber durch permanenten Druck von der Straße. Den müsse der Hirak aufrechterhalten.

Gebetshaus für 35.000

Neben etlichen Verbänden und Vereinen hat auch Djilalis Junge Generation das Dialogangebot des Präsidenten gebilligt. Dass die in der Wählergunst stark abgesunkenen Kaderparteien der FLN und des Rassemblement National Démocratique (RND) dies hinnehmen, verwundert nicht. Auch die islamistischen Parteien Mouvement pour la Paix et la Societé (Bewegung für Frieden und die Gesellschaft) und Front de la Justice et du Développement (Front für Gerechtigkeit und Entwicklung) nehmen am Dialog teil.

Dass beim Hirak seit kurzem Fahnen islamistischer Gruppierungen auftauchen, dämpft die Hoffnung der Laizisten, dass eine neue Magna Charta Staat und Religion entflechten wird. Man erinnert sich plötzlich, dass Tebboune als Minister den Bau der größten Moschee Afrikas befeuerte, ein Projekt, das Abd al-Aziz Bouteflika, als er noch den Staat führte, sehr am Herzen lag. Der 75 Meter hohe Turm dominiert La baie d’Alger. Der Gebetsraum bietet 35.000 Menschen Platz. Gekostet hat das noch nicht eröffnete Gebetshaus zwei Milliarden Dollar. Für die Projektierung kam die Darmstädter Firma Krebs & Kiefer auf. Mit Stahlwasserbau vertraut, war sie prädestiniert, die Konstruktion auf dem von unterirdischen Quellen durchzogenen Erdreich Algiers verlässlich zu planen.

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