Marokko: Abgeschnitten von Algeriens Gas, wird eine autonome Energieversorgung angestrebt
Reportage Wegen des Streits um die Westsahara – größtenteils von Marokko annektiert – sind die Beziehungen zwischen Algier und Rabat schlecht. Mohammed VI. regiert das Land äußerst flexibel und zugunsten einer wachsenden Mittelschicht. Ein Besuch
Djemaa el Fna, der „Platz der Vernichtung“ in Marrakesch
Foto: Fadel Senna/AFP via Getty Images
Irritierend, in Marokko sieht man überall die rote Fahne. Sie ist Staatsflagge schon seit dem 15. Jahrhundert. Erst wenn der Wind sie ausbreitet, entdeckt man in der Mitte einen dunkelgrünen fünfzackigen Stern, der neben dem Hexagramm als „Siegel Salomons“ gilt. Sultan Mulay Yusuf fügte ihn 1915 auf Veranlassung der französischen Besatzungsmacht hinzu. Im Unterschied zu vielen anderen islamischen Staaten erfreut sich Marokko dank enger Beziehungen zu den USA und des Wohlwollens der Europäischen Union seit Jahrzehnten einer beneidenswerten Stabilität. Und das, obwohl niemand den autoritären Charakter des Königreichs bestreiten kann.
Seit 1992 war ich nicht mehr in Marokko. Ich mied das Land, weil ich nicht ständig den unabläs
ablässigen Betteleien und undurchsichtigen Angeboten sehr armer Menschen ausgesetzt sein wollte. Da dieses Verhalten der Untertanen letztlich dem Tourismus höchst abträglich war, wurde es inzwischen von der Regierung untersagt, doch hätte das Verbot nicht funktioniert, wäre es nicht mit sozialen Fortschritten einhergegangen. Vom Schrumpfen der Armut und Anwachsen einer Mittelschicht kann ich mich jetzt als Begleiterin einer Gruppe von deutschen, französischen wie algerischen Spezialisten überzeugen, die in Marokko mit Kollegen zusammentreffen. Was sie vereint, ist ein von der EU kofinanziertes Projekt, das die Vernetzung einer alternativen Energieerzeugung in kleinen und mittleren Agrarbetrieben erforscht. Das seit 2019 betriebene Vorhaben gehört zu den wenigen Episoden, die Marokkaner und Algerier noch zusammenführen. Beide Länder haben wegen des Westsaharakonflikts (s. Glossar) sämtliche Beziehungen einschließlich des Flugverkehrs abgebrochen.Folgen für den FußballDie 2022 bei der Fußballweltmeisterschaft in Katar nur knapp am Finale vorbeigeschrammte marokkanische Nationalmannschaft nahm nicht an den afrikanischen Meisterschaften teil, weil sie die Austragungsorte in Algerien nur mit einem Gabelflug über Paris erreicht hätte. Umso sympathischer, dass Marokko einseitig die Visafreiheit bewahrte. So werden bei der Grenzkontrolle auf dem Flugplatz von Marrakesch die algerischen Pässe anstandslos durchgewunken. Geradezu euphorisch ist dann die Stimmung im Taxi, dessen Fahrer sich unbändig über selten gewordene Gäste aus dem Nachbarland freut, mit dem ja enge kulturelle, oft auch familiäre Beziehungen bestehen. Ich staune über ausgedehnte neue Wohnviertel. Erbaut in einer harmonischen Melange aus berberischer Tradition und Moderne, erlaubt man sich keine für westliche Neubauten typische Gleichförmigkeit. Das Grün einer gut gepflegten Pflanzenwelt sticht herrlich ab von dem für Marrakesch typischen rotbraunen Putz, ein lokales Material, das widerstandsfähiger ist als importierte Farben, die im nordafrikanischen Klima schnell fleckig werden.Schon auf der Fahrt zu der in das EU-Projekt eingebundenen Versuchsfarm Oulad Sbih zeigt sich, dass Sonnenpaneele zur privaten und gewerblichen Stromerzeugung weit verbreitet sind. Ein Grund dafür ist sicher, dass Marokko seit anderthalb Jahren kein Gas mehr aus Algerien erhält. Sonnenpaneele machen vom noch nicht überall installierten nationalen Stromnetz unabhängig. Auf der auch als Lehranstalt dienenden Farm werden per Tröpfchenbewässerung Varianten von Oliven- und Obstbäumen sowie andere Pflanzen aus verschiedenen afrikanischen Ländern, aber auch aus Spanien angebaut. Erforscht werden die Bedingungen, unter denen optimale Erträge dank eines durch Sonnenenergie betriebenen Mikrostromnetzes zu erzielen sind. Da immer wieder Wolken über den Himmel ziehen, ist am Wasserbecken zu beobachten, dass aus dem Boden gepumptes Wasser viel reichlicher sprudelt, sobald Sonnenstrahlen ungehindert auf das Paneel treffen. Wegen der starken Verdunstung ist Tröpfchenbewässerung nur am frühen Morgen und abends sinnvoll. Freilich wird tagsüber die meiste Energie erzeugt, ein Widerspruch, der sich durch den Gebrauch der Tagesenergie etwa für Kühlzwecke lösen ließe. Ob letztlich doch umweltschädliche Speicherbatterien zwischengeschaltet werden müssen, ist noch ungewiss. Ein Ausweg könnte ein Energieaustausch zwischen mehreren Farmen sein oder der Anschluss an das nationale Stromnetz. Die mit der Anlage gewonnenen betriebswirtschaftlichen Daten fließen in eine interaktive App, die – so der Stolz des Leiters – „300.000 Nutzer hat, davon sind 70.000 unsere algerischen Brüder“.Die Farm Oulad Sbih liefert auch Daten an die nach dem aktuellen Monarchen Mohammed VI. benannte Universität von Benguerir, die man nicht anders als ein marokkanisches Wunder bezeichnen kann. Laut einigen Projektteilnehmern existierte der riesige Campus noch 2019 nur als Plan. Er wurde in der Coronazeit, als Europa fast in Schockstarre versank, komplett aufgebaut und ist bereits voll in Betrieb als ambitionierte Forschungsstätte und Lernort für Studenten aus vielen afrikanischen Ländern. Wem Fußwege zu lang sind, kann sich auf kleinen, selbst zu lenkenden Wägelchen zwischen den kühn gestalteten Gebäuden bewegen. Wir besuchen die Abteilungen, denen es aufgetragen ist, das Land vom größten Phosphatexporteur zum größten Exporteur von Phosphatdünger zu machen. In Laboren und kleineren Gewächshäusern wird hier der Wirkungsgrad künftiger Phosphatprodukte auf Tausende, vor allem afrikanische Pflanzen erforscht. Untersucht wird, wie der Boden beschaffen sein sollte und welcher Bedarf an Wasser in Betracht kommt. In Sichtweite der Universität liegt ein Phosphat-Tagebau, der allerdings davon ablenkt, dass der Großteil des heute von Marokko verwerteten Phosphats aus der annektierten Westsahara stammt.Placeholder infobox-1Am Abend steht die Djemaa el Fna auf dem Programm – der berühmte „Platz der Vernichtung“, auf dem früher Hinrichtungen stattfanden und jetzt Gaukler, Märchenerzähler und Schlangenbeschwörer ihre Spektakel darbieten. Mit Einbruch der Dunkelheit beginnt hier eine weltberühmte kulinarische Orgie: Ich erinnere mich, während meines Besuchs vor mehr als 30 Jahren ein herrlich chaotisches Angebot von Streetfood genossen zu haben.Ein Sohn, zwei MütterEs reichte von der mit frischem Koriander gewürzten Gemüsesuppe Hrira über die berüchtigten Schafsköpfe bis zu einfachen gekochten Eiern. Alles spottbillig. Seinerzeit flehten immer wieder arme Marokkaner, ihnen etwas von den Speisen abzugeben. Mittlerweile sieht man in der fürTouristen klimatisch erträglichen Sommersaison auf der Djemaa el Fna vor allem marokkanische Mittelklasse flanieren und essen. Um Besucher vor den hier sehr aktiven Taschendieben zu schützen, halten die königlichen Ordnungskräfte den Platz in Schach. Wer hier Essbares anbietet, muss einen regulären Stand mieten. Überall sind Überwachungskameras platziert. Nachts können in dieser Gegend auch Frauen zu zweit oder in Gruppen spazieren gehen, was in Algerien undenkbar wäre. Da die Monarchie nicht nur Linke, sondern auch Islamisten in einer Art Fassadendemokratie einzuhegen versteht, müssen Frauen kaum Sorge vor dummen Zurufen oder gar Angriffen haben.Geblieben sind aggressive Marktschreier, deren herzzerreißendes Herunterbeten von Speisekarten Ankommende zu den Garküchen ihrer Chefs locken soll. Die algerischen Projektteilnehmer finden das unwürdig, bestellen aber begeistert gekochte Schafsköpfe. Beim Zerlegen der urtümlichen Speise stellt sich heraus, dass sie zwar Sehnen und Knorpel, jedoch kaum Fleisch enthält. Der zur Rede gestellte Kellner erntet Lachen, als er auf die wegen ihres Erdöls prinzipiell für wohlhabender gehaltene Heimat der Klienten anspielt: „Meint ihr etwa, wir hätten genauso dicke Schafe wir ihr?“ Dass die marokkanischen Schafe nicht so mager sind, wie er suggeriert, zeigt sich beim Ordern einer Portion Schafsfleisch, die enthält, was dem Kopf gefehlt hat. Freilich kosten die Schafe für das Opferfest zwischen 70 und 100 Prozent mehr als im Vorjahr. Das sei eine Folge der Covidpandemie, die den Tourismus einbrechen ließ und, wie immer wieder zu hören ist, auch des Ukrainekrieges. 300 Euro sind zu viel für die meisten Familien – sie sind unerschwinglich für verhärmte Frauen, die einzelne Päckchen Papiertaschentücher zum Verkauf anbieten, und für die sich zwischen Touristen hindurcharbeitenden Karrenzieher, die für Nachschub an den Ständen sorgen. Dass die Armut zurückgedrängt, aber nicht verschwunden ist, zeigt sich auch am Tierelend. Nicht selten sieht man unterernährte Zugpferde und Maultiere.Bei einer auf Mikrokredite für kleinere Solarprojekte spezialisierten Bank in Fes ist zu erfahren, dass der Staat dem merklich flauen Tourismus aufhelfen will. Viele Marokkaner würden der Branche ihren Lebensunterhalt verdanken. Ein Grund sei der Niedergang des hochwertigen eigenen Handwerks, weil täuschend echt imitierte Töpfer- und Lederwaren, sogar traditionelle Bekleidung in Größenordnungen aus China eingeführt würden. Die berühmten Freiluftfärbereien von Fes seien fast verschwunden, seit mit Industriefarben gearbeitet werde statt mit dem Saft von Granatäpfeln, mit Lapislazuli und Henna oder teurem Safran. Sofort fallen mir einige Auslagen von allzu leuchtend blauen und grünen Töpferwaren auf der Djemaa el Fna ein. Und die vor 30 Jahren noch häufigen Ateliers, in denen die feinsten Stoffe per Hand bestickt wurden, fehlen ganz. Um das Handwerk wiederzubeleben, müssten konkurrierende Importe verringert und Menschen wieder zum Handwerk ermutigt werden. Mittelfristig scheinen Mikrokredite dafür das geeignete Instrument. Und warum sollten Werkstätten ihre Energie nicht preiswert mit Sonnenpaneelen erzeugen?Da Marokko bisher nicht wie Algerien über Öl und Erdgas verfügt, hat es findige und flexible Verwaltungsstrukturen hervorgebracht. Doch bleiben auch Reste feudaler Kultur erhalten, wie im Zug von Rabat nach Fes zu erleben ist. Der Zugang zum Sechsercoupé gestaltet sich schwierig, weil es vollgestellt ist mit Fluggepäck zweier hochgestylter, aber todmüder junger Damen. Eine sitzt schlafend am Fenster, die andere, eine Schwarzafrikanerin, auf meinem reservierten Platz und hält ihre Arme schützend über einen kräftigen, etwa dreijährigen Jungen, der tief schläft. Der Vorschlag, bei der Neuordnung des Gepäcks zu helfen und Platz für alle zu schaffen, wird akzeptiert.Es stellt sich heraus, dass die Frau am Fenster die Mutter des Jungen und die Schwarzafrikanerin seine Nanny ist, die sich – anders als ihre Arbeitgeberin – nur hin und wieder ein Einnicken erlaubt. Rührend, wie das munter werdende Kind Orientierung, Trost und Zärtlichkeit bei beiden Müttern sucht. Aber es ist die Dienerin, die ihm eine Mahlzeit mit Milchpulver und Wasser mixt. Ein solches Bild, meinen die Algerier, bekäme man in ihrem Land nicht zu sehen.