Es geschah in Berlin. Am Anfang des Jahres 1950. Das ist eine Zahl. Sagt sie Dir was? Sagt sie Dir, dass der Krieg die letzten fünf Sommer nicht mehr erlebt hat? Dass fast alles noch in Schutt und Asche lag?“ So versucht der damals 14-jährige Ralph Christian Möbius, der später als Rio Reiser bekannt wurde, 1964 in seinem ersten Tagebuch einen Anfang zu finden. Auszüge daraus sind nun in der Biografie Halt dich an deiner Liebe fest zu lesen, die sein älterer Bruder Gert verfasst hat.
1950 ist das Jahr, in dem Ralph Christian als dritter Sohn des Verpackungsingenieurs Herbert Möbius in Berlin zur Welt kommt. Seine Kindheit ist durch die ständigen Umzüge der Familie bestimmt. Von Berlin geht es nach Oberbayern. Es folgen Jahre in Nürnberg, Brühl bei Mannheim, Stuttgart und Rodgau. Für den Jungen ist es nahezu unmöglich, sich an einem dieser Orte zu Hause zu fühlen. Generell ist es für den jungen Rio so ein Thema mit der Schule. Er kann nicht verstehen, wie der Staat jemanden zwingen kann, den ganzen Tag in ein Gebäude eingesperrt zu sein. Irgendwann beschließt er, nicht mehr hinzugehen, und muss von Bruder und Mutter in die Schule gezerrt werden. Ebenso empfand er es später als Zwang, dass er als getaufter Christ Kirchensteuer zahlen muss, und überlegte, zusammen mit dem Rechtsanwalt Gregor Gysi die Kirche zu verklagen (wovon ihm dieser aufgrund geringer Erfolgsaussichten abriet).
1967 folgt Rio seinen beiden älteren Brüdern zunächst wenig begeistert nach Berlin. „Als aber Gert und Peter gesagt haben, Rio, komm!, habe ich gesagt, gut, dann müsst ihr euch um mich kümmern. Auf jeden Fall bin ich nicht nach Berlin gegangen, um zu bleiben.“ Drei Jahre später gründet er mit R.P.S. Lanrue, Kai Sichtermann und Wolfgang Seidel die Band Ton Steine Scherben. Auf die erste LP Warum geht es mir so dreckig (1971) folgt ein Jahr später Keine Macht für Niemand. Rio schreibt Songtexte, die zu Slogans der linken Hausbesetzerszene werden.
Mitte der 80er Jahre startet Reiser seine Solokarriere. Seine Musik ist auf einmal für eine breite Masse interessant, König von Deutschland kennt bis heute jeder. Linke Kreise werfen ihm vor, sich an die Musikindustrie verkauft zu haben, dabei stammt der Großteil seiner Hits aus Ton-Steine-Scherben-Zeiten. Am 20. August 1996 stirbt Rio Reiser mit gerade einmal 46 Jahren an Herz-Kreislauf-Versagen.
Gert Möbius, der als Archivar den Nachlass seines Bruders verwaltet, hat sich lange gesträubt, Rios Tagebücher zu lesen. „Als ich 15 Jahre nach dem Tod meines Bruders seine Tagebücher geöffnet habe, war ich sehr überrascht. Zum einen darüber, wie akkurat er, und ohne etwas durchzustreichen, diese Tagebücher geführt hat. Und zum anderen, in welcher seelischer Not er sich zuweilen in den Jahren 1972 bis 1974 befunden hat. Das haben weder ich noch seine Mitmusiker mitbekommen. Seine Tagebücher waren so etwas wie sein einziger Ansprechpartner“, sagt Möbius. In einem Eintrag vom 25. Dezember 1972 heißt es: „Abraxas ist ein Kater, er kann nicht sprechen, aber er versteht mich eher, als mich viele Menschen verstehen, und mehr, als ich die meisten Menschen verstehe. Wer mit den Augen spricht, ist ehrlicher. Die Sünde kommt aus dem Mund.“
Verletzlich, manchmal traurig und vor allem sehr ehrlich erscheint der Rio Reiser, den wir hier kennenlernen. Immer wieder lesen wir in diesem Buch, wie problematisch für ihn der Umgang mit der Homosexualität und den eigenen Gefühlen war, wie sehr er trotz der musikalischen Erfolge von Selbstzweifeln geplagt war und nach Bestätigung und Liebe suchte. Im Sommer 1973 notiert er: „Warum schreibe ich das Buch hier, Baby. Ich versuche die Zeit festzuhalten. Oder? Das ist eine Sache, die andere ist, dass ich hier reinschreibe, meinen Blues, meine Leere, meine Hoffnungslosigkeit. Nicht meine Hoffnungen, nicht meine Wünsche.“ Die Hoffnungen, fügt er hinzu, die fänden sich in seinen Liedern.
Info
Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser Gert Möbius Aufbau 2016, 351 S., 22,95 €
Kommentare 6
Danke für diesen sensiblen "Einblick" in das Leben eines Menschen, der das Lesen empfiehlt.
Um es unbeschönigend zu sagen: Von allen Büchern, die bislang über Rio Reiser beziehungsweise seine Ex-Band Ton Steine Scherben erschienen sind, ist das von Moebius das mit Abstand schlechteste.
Inhaltlich krankt dieses Buch durchweg am mangelnden Abstand des Bruders – beziehungsweise Moebius’ Bemühen, Rio als gottähnliche Gestalt hinzustellen. Hinzu kommt das ellenlange Breitwalzen völlig bedeutungsloser Episödchen, Kneipen-Heldengeschichten und ähnlichem. Wer erwartet, ein Buch (wegen mir: ein subjektives Buch) über Rio Reiser / Scherben zu lesen, wird darüber hinaus in einem weiteren Part enttäuscht: In Wirklichkeit ist das – mit langen Tagebuchpassagen voluminös aufgepeppte – Werk weniger ein Buch über Rio als vielmehr eine verkappte Autobiografie des im Schatten des berühmten Sängers stehenden Bruders. – Zu allen Überfluss ist zu vermerken, dass ein roter Faden, eine Struktur nicht wirklich erkennbar sind und es offensichtlich auch der Aufbau-Verlag nicht für nötig befunden hat, wenigstens in dem Punkt einzugreifen und zu retten, was (vielleicht) noch zu retten ist.
Fazit: Wer sich für die im Artikel anskizzierte Geschichte interessiert, ist mit der Rio-Biografie von Hollow Skai, dem Scherben-Buch von Scherben-Mitglied Kai Sichtermann oder der Text-Anthologie von Scherben-Mitglied Wolfgang Seidel weitaus besser bedient.
Ich weiß, warum ich zweien meiner engsten Menschen das Versprechen abgenommen habe, nach meinem Ableben als erstes meine Festplatte zu löschen. Den "Tipp", mein TB auszudrucken, schlage ich bis dato in den Wind - falls ich das mache, kommt "Feuer" noch dazu bei den beiden.
Schade, dass von dem Lebensbereich der Band und danach von Rio Reiser so wenig fassbares geblieben ist. Das gemeinsame Haus in Fresenhagen hätte ein Kristallisationspunkt für diejenigen werden sollen, die er inspiriert hat. Mit seinem Grab in Sichtweite.
Schade, dass dies alles so schnell an der ökonomischen Realität gescheitert ist: Wer macht das? Wer bezahlt das?
Was bleibt: Die Platten. (Oder, wie Maurenbrecher sang: Die unsterblichen Platten.)
Du druckst nicht aus? Du druckst nur rum, wa? :-)
Vor allem weiß man nicht, was der Reiser selbst dazu sagen würde.
Danke. diese Rezension ist leider absolut zutreffend. Auch ich dachte beim Lesen, hier schreibt Möbius eine Biografie über Möbius, dessen Bruder zufällig Rio Reiser ist. Dass der Aufbau-Verlag sowas durchgehen lässt. macht nachdenklich.