Kongo – Rendezvous mit dem Verrat

Carnet de voyage Vor drei Jahren bin ich in den Kongo gereist. Ich fand mich in einem Land von launischer Schönheit und Grausamkeit wieder. Ein Ort, dem ich mich nur vorsichtig annäherte

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Kongo – Rendezvous mit dem Verrat

Foto: Uriel Sinai/AFP/Getty Images

Nach einem unerwartet langen Flug habe ich mein Zimmer in Kinshasa bezogen. Von meinem Balkon blicke ich in die scheidende Dämmerung über den Hafen zu den Lichtern Brazzavilles. Von dort aus ist die Aussicht sicher nicht so aufhellend. Allnächtlich verschwindet die kongolesische Hauptstadt während der Trockenzeit in der Finsternis. Die wenigen noch funktionierenden Turbinen der beiden Wasserkraftwerke sind ohnmächtig gegenüber dem niedrigen Wasserstand. Stahlgitter versperren meine Sicht auf das Kongobecken.

Die Wohnung, die ich mit einem französischen Ingenieur, seiner Frau und einem Menschenrechtsbeobachter der UN-Mission teile, befindet sich in einem alten, runtergekommenen Hochhaus, das von zwei schlaksigen Wachmännern behütet wird. Beim letzten großen Aufstand gegen Kabila haben die Regierungsgegner Hausbewohner als Geiseln genommen. Auch auf meinem Balkon sind Einschusslöcher an der Hauswand als Spuren davon geblieben und warnen vor der aufgeladenen Stimmung im Land, die jederzeit in Chaos und Gewaltexzesse auszubrechen droht. Ich verfolge den Kurs verrosteter Frachtschiffe, die durch Dunst und Dunkelheit illegal gefälltes Tropenholz aus dem Land schleppen, an Bug und Heck bevölkert von den geduckten Silhouetten ihrer bewaffneten Besatzung.

Als sich das Zwielicht in Nacht auflöst, füllt sich der Hof hinter unserem Haus mit hartnäckigen Anhängern des kongolesischen Nationaltanzes. Leise ist der süßliche Gleichklang der Kongorumba ideale Hintergrundmusik für einen romantischen Mitternachtscocktail auf einem Kreuzfahrtschiff. Doch schon bei mittlerer Lautstärke ist ihre Monotonie dieser erträglichen Einfalt beraubt. Die Hawaiguitarre wiederholt quälgeistig acht Stunden unablässig zwei gebrochene Akkorde und verwandelt sich in ein schlafraubendes Folterinstrument. Ein ähnlich traumatisierendes Erlebnis hatte ich vor vier Jahren am Stuttgarter Flughafen, wo ich neben einem Karussell übernachtete.

Wir haben immer noch keinen Strom. Ich dusche mich mit zwei Schüsseln kaltem Trinkwasser, bevor ich von einem Sicherheitsmann mit dem Jeep zur Zentrale gefahren werde. Die Sicherheitslage erlaubt auch tagsüber nicht, sich frei auf den Straßen zu bewegen. Mein Ex-Pat-Alltag gliedert sich im prison-hopping von einem geschlossenen Raum zum nächsten. Vom Bürogefängnis zum Restaurantgefängnis, zum Schlafgefängnis usw. Ein Lichtblick im Moloch von Kinshasa ist da Jean-Pierre*, der sich um unsere Wohnung kümmert und meine etwas anhängliche Mitbewohnerin, eine Fledermaus, aus meinem Zimmer vertreibt, als ich das Haus verlasse.

Auf der Arbeit freunde ich mich mit Mme Nguyen* an, einer älteren, freundlich schielende Dame aus Togo, die mir gegenüber sitzt und die Buchhaltung macht. Sie schwärmt vom Lavasee im Krater des Vulkans in Goma, von dem sie schon viel gehört habe und den sie unbedingt einmal in ihrem Leben sehen möchte. Ich will mehr über diesen Vulkan erfahren und verabrede mich mit ihr zum Mittagessen.

Maman Sabine* kocht für die Belegschaft Fufu, einen traditionellen Maniokbrei, und Meeresfrüchtematsch. Wer früh genug kommt, kann noch einen abgemagerten Hähnchenflügel ergattern. Mme Nguyen erzählt mir, dass beim großen Ausbruch des Nyiragongo 1977 über 600 Menschen ums Leben kamen und Goma vor zwölf Jahren wieder von einem Lavastrom heimgesucht wurde.

Diese Nacht tanzen die Mäuse in meinem Zimmer Rumba. Eine kongolesische Maus hat in etwa die Größe einer deutschen Wasserratte. Der Krach scheint aus der Klimaanlage zu kommen. Meine Jagd nach der Maus geht im Zickzack quer durch den Raum. Über das Bett, unter das Bett, vom Schrank zur Tür. Ich donnere dagegen, die Tür schnappt zu, das darf sie nicht, denn das Schloss ist kaputt. Ich bin eingesperrt. Auch durch das vergitterte Fenster kann ich nicht nach draußen. Ich klopfe meine Mitbewohner aus dem Schlaf, lasse mir einen Schraubenzieher durch den Spalt am Boden schieben und studiere damit vergeblich die Anatomie eines Türschlosses. Türgriff und die Einzelteile des Schlüssellochs liegen auf dem Boden, doch stur verweigert das verriegelte Ding auch nur die geringste Öffnung. Der Lärm meines missglückten Demontageversuchs hat inzwischen zwei Wachmänner auf den Plan gerufen. Mit einem Brecheisen bezwingen sie den Trotz der Pforte, die mir augenblicklich die peinigende Sicht auf die beiden grinsenden Retter aus der Not freigibt. Bemüht, das Ausmaß meiner Erleichterung zu verbergen, richte ich mich auf und presse ein kurzes, neokolonialistisch beherrschtes „merci, Monsieurs“ hervor.

Ein bisschen matschig von der kurzen Nacht spaziere ich entlang der Uferpromenade beim Präsidentenpalast im Botschaftsviertel. Wer hier wohnt ist reich und sicher. Ich bin zum Essen eingeladen in einer portugiesischen Einwandererfamilie, die mit dem Handel von Frachtern und klugen politische Kontakten im Kongo zu großem Wohlstand gekommen ist. In einem Monat sind Parlamentswahlen und außer mir ist noch ein hohes Tier aus Kabilas Parti du Peuple zu Gast. Es ist ein riesiges Anwesen in mediterranem Stil, zu dessen Eingang man einen ausgedehnten Slalom um den privaten Fuhrpark zurücklegen muss.

Der Patriarch sitzt am Kopfende der Tafel im Speisezimmer, dessen mit Stofftapeten verkleideten Wände eine von Fotos abgemalte Ahnengalerie schmückt. Es gibt viel Fleisch, das gemeinsam von den Hausangestellten und weiblichen Familienmitgliedern serviert wird. Zum Ausdruck der Wertschätzung füllt man den Teller so oft es geht nach. Wie es mir in Kinshasa gefalle, fragt mich die Volkspartei mit gespielter Höflichkeit. Ich antworte, dass die Stadt sehr unsicher, die Strom- und Wasserversorgung schlecht seien. Die Volkspartei reagiert mit Unverständnis. „Es ist absolut sicher hier“, schallt es mir in eindringlichem Tonfall entgegen. „Hier, im Radius von zweihundert Metern“, ergänze ich halb im Flüsterton. Es herrscht regungslose Stille. Die Augen eines Greifvogels fixieren mich. Ich merke, dass ich noch nicht genug gegessen habe, um widersprechen zu dürfen und dass meine Ergänzung völlig zutreffend als Entgegnung aufgefasst wurde. Für einen kurzen Moment gefriert der Raum. Dann lacht der Patriarch auf und reicht mir ein Tablett, auf dem sich ein Berg aus saftigen Hähnchenkeulen erhebt. „Die Jugend sollte sich besser mehr mit Sport, als mit Politik befassen“. Ich greife zu und stopfe so viel in mich rein, wie ich kann.

Mit Eimern gewappnet jagen meine Mitbewohner und ich die Maus. Klack, klack, klack, jeder von uns glaubt sie gefangen zu haben. Doch jedes Mal, wenn wir den Bottich neigen, um uns einander der Insassin zu vergewissern, verspottet uns die Leere. Schließlich streuen wir Gift hinter meinen Kleiderschrank. Die Unruhestifterin lässt sich davon aber nicht beeindrucken. Sie verschmäht unser liebevoll zubereitetes Mitternachtsmahl und reißt mich Stunden später, an meinen Haaren nagend, aus dem Schlaf. Plötzlich poltert es gegen die Eingangstür unserer Wohnung. „Wenn Du nicht sofort aufmachst, brech’ ich Dir’s Genick“ brüllt eine bedrohliche Männerstimme auf Französisch mit kongolesischem Akzent. Die Scheibe der Vordertür ist schon eingeschlagen, als mein Mitbewohner in mein Zimmer stürmt, mich in einen der hinteren Räume zerrt und per Funk die Notfallzentrale der MONUSCO verständigt.

Zahlreiche Einbrüche in Kinshasa enden für die Bewohner tödlich. Wir beschließen, einen Teil unserer Wertsachen herauszugeben und den Rest zu verstecken. Da hören wir Geschrei und den Schall eilender Schritte im Treppenhaus. Unsere Wachmänner stellen den vermeintlichen Einbrecher, der sich im Suff in der Etage geirrt hatte und glaubte, von seiner Frau Zutritt in seine Wohnung zu verlangen. Wild und aufgebracht gestikuliert der Dicke in Uniform mit einer blinkenden Nikolausmütze auf dem Kopf. Erlöst atme ich auf und kehre zurück in mein Zimmer. Mein Schrank keucht jämmerlich in hohem Ton. Ich mach ihn auf. Vor ihr liegt eine Pfütze aus Blut und Eiter. Elle est morte.

Mit dem Humanitären Flugdienst der Vereinten Nationen fliege ich nach Goma, um mir ein Bild von den Flüchtlingslagern und der logistischen Unterstützung für die Rückführung von Vertriebenen zu machen. Der dritte Kongokrieg hat 2008 und in den Folgejahren Millionen Menschen im Ostkongo in die Flucht getrieben. Noch heute kommen Zivilisten bei den immer wieder aufflammenden Gefechten zwischen die Fronten von Regierungstruppen und Rebellenarmeen. Wir geraten in ein tropisches Gewitter. Aus den Kabinenfenstern unserer Propellermaschine ist nichts mehr zu erkennen. Vom Hagel ausgepeitscht wird unsere kleine Kiste zum Spielball sich rasch ablösender Luftdruckgürtel und schleudert paralysiert durch den Äther.

Fliegen fordert im Kongo eine entkrampfte Gesinnung gegenüber Risiken. Die Rate der Flugzeugunglücke ist hoch, die gesamte Familie kongolesischer Fluggesellschaften steht auf der Schwarzen Liste der EU. Auf einem Inlandflug von Kinshasa nach Bandundu kroch einmal ein Krokodil aus einer Reisetasche und löste Panik unter den Passagieren aus. Die Maschine verlor die Balance und stürzte ab. Ortsansässige liefen zum Unglücksort, fanden das Krokodil lebend zwischen den Trümmern und töteten es mit einer Machete.

Beim Landeanflug auf Goma erklärt mir mein belgischer Sitznachbar, dass Deutschland die Wiederherstellung der durch den Vulkanausbruch zerstörten Landebahn finanziert hat. Ich sehe Leute, die darauf herumspazieren, darunter Kinder. Es sieht so aus, als würden sie hier wohnen. Sogar ein paar Hütten stehen auf dem Flugfeld, neben einem mit Tarnnetz zugedeckten Panzer. Unser Pilot reißt die Maschine kurz vor dem Aufsetzen noch mal hoch. Eine Mutter hatte ihre Kinder nicht rechtzeitig zur Seite gerufen. Beim zweiten Versuch ist die Bahn frei.

Vor den Warteraumcontainern des Militärflughafens empfängt mich mein Fahrer Coco super gelaunt und fährt mich über die von tiefen Löchern und Beulen vernarbte Sandpiste in Richtung Flüchtlingslager. Wir ziehen vorbei an den Ruinen der geschäftigen Innenstadt, aus deren Häuser und Seitengassen sich noch immer die versteinerten, pechschwarzen Lavazungen in das Menschengetümmel strecken. Jede Stadt hat eine Farbe. New York ist gelb, Mannheim türkis. Die Farbe Gomas ist schwarz.

Einige Kilometer hinter dem Stadtausgang versperren Söldner mit Maschinengewehren die Straße und kassieren Wegzoll. Wir biegen vorher ab und nähern uns der Zelt- und Barackensiedlung des Lagers. Es soll über 30 000 Flüchtlingen Schutz bieten, darunter viele aus dem Urwald vertriebene Pygmäen. Pygmäen sind ein Jäger- und Sammlervolk und werden auch im Erwachsenenalter gerade mal kindsgroß. Die Zustände im Flüchtlingslager, das ursprünglich von Norwegian People’s Aid errichtet wurde, inzwischen aber von niemandem mehr verantwortet wird, sind katastrophal. Es stinkt nach Kot und die einzige Wasserquelle befindet sich weit außerhalb. In der sengenden Hitze verbreiten sich in den Zeltbehausungen unter den Plastikplanen binnen kurzem Infektions- und Durchfallerkrankungen. Neben dem Lager treffe ich auf Eric*, einen Agronomen, der Maniokstauden für Flüchtlinge zieht, die an einem Programm zur Integration in die lokale Dorfgemeinschaft teilnehmen. Mit ihm und seinen Kollegen fahre ich weitere Flüchtlingsprojekte ab.

Von Goma aus fliege ich weiter nach Kindu. Die Stadt liegt direkt am Kongofluss, mitten im Urwald, und ist außer mit dem Boot oder Flugzeug nur mühsam zu erreichen. Ihre Einwohner sind schwer traumatisiert vom Bürgerkrieg, in dem Mai-Mai Rebellengruppen gegen unterschiedliche Armeen kämpften. Die Mai-Mai sehen sich als Widerstandsbewegung und knüpfen ihre Tradition an die Aufstände in Deutsch-Ostafrika am Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Ihre Kämpfer glauben daran, dass sie unverwundbar sind, wenn sie mit dem Zauberwasser Lingala geweiht werden und sich an ein strenges Regelregime halten. Dieser Wahn und der Konsum von Rauschmitteln haben den Krieg unheimlich brutalisiert. Halbwüchsige Milizen mit rot unterlaufenen Augen, von Drogen betäubte Kindersoldaten, überfielen Dörfer und meuchelten bestialisch ihre Verwandten. Zeugen berichten von in Eimern zerstampften Babys und Massenvergewaltigungen mit Glassplittern. Oft wurden den geschundenen Frauen danach die Brüste abgeschnitten.

Aberglaube und magisches Denken sind in den Köpfen der Bewohner Kindus tief verwurzelt. Menschen verwandeln sich hier in Raubtiere oder Reptilien. Begegnet man einer giftigen Schlange, hängt der Ausgang dieser Zusammenkunft von der Art der persönlichen Beziehung ab, die man zu der verzauberten Person hat. Wer viele Feinde hat, lebt im Tierreich gefährlich. Gefährlicher lebt wahrscheinlich, wer glaubt keine zu haben. Aber auch auf dem Gebiet des homo sapiens lauern die Gefahren undurchschaubarer Bräuche im Umgang mit Konflikten. Dazu gehört die mittelalterliche Gepflogenheit, Rivalen und Racheadressaten zu vergiften. Eine beliebte Praktik ist dabei, die Ränder von Trinkgefäßen mit Gift zu versetzen.

In dem Projekt dessentwegen ich hier bin, wurden bereits zwei Mitarbeiter lebensgefährlich vergiftet. Es besteht der Verdacht, dass die Mittel für das Programm zur Förderung von benachteiligten jungen Menschen aus ländlichen Gebieten in großem Umfang von Angestellten veruntreut wurden und abtrünnige Mitwisser unschädlich gemacht werden sollten. Ich bin hier, um mit zwei kongolesischen Vertrauten des Projektleiters an einer Revisionsmission teilzunehmen, die uns den Fluss entlang in die abgelegenen Dörfer führt.

Golden und majestätisch zieht der Kongo durch die Abenddämmerung. Auf seinem Rücken schwimmen die mit unzähligen Passagieren gepfropften Piroggen, die aus langen ausgehöhlten Baumstämmen gebaut werden. Monsieur Klaus* und ich sitzen draußen an der Beach-Bar am Ufer und lassen uns zwei Colaflaschen vor unseren Augen öffnen. Beim sicheren Genuss unserer Erfrischung berichtet mir Klaus, dass in der Woche vor meiner Ankunft ein Mann an einer Kreuzung in der Innenstadt ermordet und ihm das Herz herausgeschnitten wurde. Ein einflussreicher Geschäftsmann aus Kinshasa wird für den Mord verantwortlich gemacht. Er hat sich das menschliche Herz bestellt, um Überkräfte daraus zu zehren. Kannibalismus ist im Kongo kein Privileg der Wilden. Klaus erzählt mir, wie er Jonathan* und Ricky*, mit denen ich morgen flussabwärts aufbreche, nach einer brenzligen Verfolgungsjagd durch einen von einem tödlichen Motorradunglück aufgewühlten und nach Vergeltung dürstenden Mob kennen gelernt hat.

Auf Jonathans Glatze spiegelt sich die weiße Morgensonne. Seine tiefschwarzen Augen blicken mich durchdringend an, als ich mich ihm vorstelle. Ricky hievt die beiden Motorräder in die Pirogge. Er trägt einen Dreitagebart, ist groß, verschwiegen und deutlich jünger. Zwei Bootsjungen lösen das Seil und werfen den Motor an. Die Reise kann beginnen. Es geht um nichts weniger, als den Armen das zu geben, was ihnen gebührt und was man ihnen zu Unrecht genommen hatte. Ich fühle mich wie Robin Hood. Unsere Route umfasst neun Dörfer im Umkreis von siebzig Kilometern.

Wir erreichen Lucando, unser erstes Ziel. Auf einer Bank im Schatten einer Lehmhütte warten wir auf den Dorfvorsteher, einen vormaligen Mai-Mai-Kommandanten. Geduld ist die Währung, mit der man Würdenträgern Respekt zollt. Die Audienz beim Dorfvorsteher erweist sich als ein besonders hochpreisiges Unternehmen. Schließlich taucht er auf, der Mann mit dem unglaublich breiten Kopf. Sein Gesicht ist flach, Augen, Nase und Mund pressen sich in der Mitte dicht zusammen, als würden sie von einer geheimnisvollen Schwerkraft aufgesogen. Während wir mit ihm sprechen rührt sich kein Muskel seines dämonischen Antlitzes. Immer wieder verschwindet er jäh ohne Angabe von Gründen. Dauert eine der unverhofften Unterbrechungen länger, lässt er es uns vorab durch ein hintergründiges „je reviens“ wissen. Jonathan grübelt, dass er sich in seiner Abwesenheit möglicherweise verwandelt.

Bei der nächsten Rückkehr wird das Gespräch in die Lehmhütte verlagert. Seitlich hinter dem Breitschädel sitzt nun seine Frau mit zwei scharlachroten Löchern über der Nase, als hätte eine Schlange sie gebissen. Nachdem wir mit unseren Erläuterungen fertig sind, stellt er bedächtig fest, dass wir unter seinem Schutz in der Ruine eines ehemaligen Magazins aus der Kolonialzeit am Rande des Dorfes übernachten und morgen unsere Inspektion beginnen können. Es ist bereits dunkel. Zwei Knechte bringen uns Strohmatten für die Nacht. Unten im Dorf brennt ein großes Feuer, die Einwohner versammeln sich im Trommelschlag zum Totentanz. Ich gucke zum sternenklaren Himmel.

Ich habe kaum ein Auge zugemacht. Über meinem Schlafplatz schwebte eine große pelzige Spinne und mit ihr die beiden leuchtenden roten Löcher. Zum Frühstück bringen uns Kinder aus dem Dorf frisch gefangene Termiten. An Körperbeherrschung mangelt es dem Kongorumbanachwuchs nicht. Putzmunter klettern sie um den Termitenhügel herum und schnappen nach den eiweißhaltigen Insekten. Jonathan erzählt mir, dass er in der Nacht einen Leoparden vorbeistreifen gehört hat. Die Angst in meinen Augen versucht er damit zu beschwichtigen, dass ich hier ja keine Feinde hätte. Doch meine Augen werden nur noch größer. Wie soll ich jemandem vertrauen, dessen Bedrohungsassessment die Grundfeste okzidentaler Weltanschauung völlig missachtet?

Jonathan und Ricky holen die Motorräder. Ich schwinge mich hinter Ricky auf den Sitz, fasse seine Hüfte und los geht’s. Zwischen Farn und Lianen brettern wir durch den Dschungel in die benachbarten Dörfer. Dort befragen wir Bauern, Schreiner, Fischer, Tischler, Maurer, Schüler und Lehrer, die von dem Ausbildungsprogramm hätten profitieren sollen. Für die Teilnahme wurde ihnen ein kleines Salär, das nötige Material und Verpflegung versprochen. Von den Mitteln ist so gut wie nichts bei seinen Adressaten angekommen. Stattdessen hat man von ihnen eine Gebühr für die Aushändigung des Diploms verlangt und das Geld zusätzlich eingesteckt. Wir halten in unseren Händen die Auszahlungsbelege und Rechnungen für die Einkäufe, zum Teil mit farbigen Stempeln und abgedruckten Firmenlogos. Sämtliche Unterschriften sind gefälscht, die Adressen der Zahlungsempfänger erschwindelt und niemand der Befragten hat je irgendetwas von diesen Personen gehört. Sie existieren nicht, alle sind sie fiktiv.

In jedem der Dörfer, die wir passieren, enden unsere Befragungen mit dem gleichen Ergebnis. Der Betrug hat System. Auf dem Rückweg nach Lucando winken die Leute, die wir tagsüber getroffen haben, laufen streckenweise neben den Motorrädern her, stecken Bananen in die Tragetaschen und rufen uns zu, dass wir die Gauner stellen und rausschmeißen sollen. Die Wut ist groß und der lehmige Pfad, auf dem wir durch das Urwaldgestrüpp rollen, leuchtet grell in rot, rosa, ocker, gelb, beige und karamell.

Wir ziehen mit dem Strom des Kongo weiter nach Norden. Überall zeichnet sich das gleiche Bild der Hinterlist. Ungläubige Kinderaugen, tobende Eltern, reumütige und selbst um ihren Lohn betrogene Handlanger, sich enttäuscht abwendende oder bereitwillig berichtende junge Auszubildende. Nach drei Tagen machen wir uns auf den Heimweg.

Auf unserer letzten Station begegnen wir zwei der involvierten Mitarbeiter, Claire* und Lucas*. Misstrauisch schauen sie zu uns herüber, senden uns ihren knappen Gruß aus der Ferne und verschwinden diskret. Rund um die Anlegestelle des Dorfes herrscht reger Trubel. Auf den Booten werden Früchte und Fleisch für den morgigen Markt in Kindu herangekarrt. Hektisch tragen Dorfbewohner die Ware, von der Bananenstaude bis zum Federvieh in die weiter hinten am Ufer gelegenen Holzschuppen zum zwischenlagern.

Der Himmel färbt sich violett und allmählich türmen sich in der Schwüle riesige Gewitterwolken über dem Regenwald auf. Wir beziehen unseren Schlafplatz in einer Lehmhütte, als das Unwetter ausbricht. Auf einen Schlag verdunkelt sich die aufgequollene Wolkendecke und wird rabenschwarz. Mit einem tiefen, donnernden Gegröle entlädt sich die geballte Energie, die den ganzen Tag lang in Dunst und Wasserdampf gespeichert von der Sonne in die Luft gesaugt und zusammen gedrückt wurde. Wie ein rauschender Wasserfall klatscht es auf unser Blechdach. Der Himmel ist vom Blitzlicht taghell erleuchtet. In Sekundenabständen schlagen die Donnerkeile ein und lassen es krachen. Aus den benachbarten Lehmhütten halten Trommeln in ruhigem Schlag dagegen und versuchen das Gewitter zu zähmen.

Ihr Klopfen war nicht umsonst. Im Vogelgezwitscher zeigt sich das Dorf am nächsten Morgen in durchnässtem, aber wohlbehaltenen Zustand. Nur das Dach der Lehmhütte gegenüber ist halb eingestürzt. Vor dem Haus stehen zwei Kinder aneinandergeklammert und starren mich beim Zähneputzen an. Zwischen uns stelzen zwei Hühner durch die Pfützen. Über uns spannt sich ein gigantischer Regenbogen. Wir packen unsere Sachen, tragen sie zum Boot und brechen auf. Ich bin etwas darüber besorgt, wie viele Krokodile unter dem trüben braunen Wasser unsichtbar an uns vorbei schwimmen und wie es wohl um ihr persönliches Verhältnis zu mir bestellt sein mag.

In Kindu beziehe ich eine Kammer bei den Frères, die in einem kleinen Missionskloster leben. Es ist einer der wenigen ruhigen und einigermaßen sauberen Orte in der Stadtmitte. Ich brauche ein bisschen Erholung und die wirre, jedoch tröstliche Gesellschaft eines Buchs von Hannah Arendt. Genau dafür scheint mir die Procure Catholique, die ausgewählten Leuten auf der Durchreise Obdach gewährt, bestens geeignet.

Den halben Tag über sitze ich mit Hannah im Garten in einem etwas aus der Mode gekommenen, dafür aber umso bequemeren Fauteuil. Er ist gut gefedert und bloß ein wenig wackelig. Vertieft in die Lektüre über das Böse höre ich kaum die Glocke zum Mittagessen das Ende dieses besinnlichen Tagesabschnitts einläuten. Im Speisezimmer haben bereits zwei Frères und der Bischof Platz und Mahlzeit eingenommen. Während ich esse ereifert sich der Bischof in einem energischen politischen Monolog, den er kunstvoll mit kurzen Pausen auflockert, die von seinem frommen Publikum pflichtbewusst mit einem Raunen der Zustimmung gefüllt werden. Ein bischöflicher Faustschlag auf den Tisch gibt dabei den verlässlichen Einsatz für das lobende Echo. „C’est vrai, ce qu’il dit, c’est vrai“ murmelt es hernach immerzu. Auch der Bischof gedenkt, für die anstehenden Parlamentswahlen zu kandidieren und ist zu diesem Zwecke auf dem Weg in die Hauptstadt.

Die Wahl Obamas zum Präsidenten der Vereinigten Staaten läute eine Zeitenwende in der Geschichte des schwarzen Mannes ein. Afrika sei das neue Machtzentrum des Erdballs, Europa dem Untergang geweiht. Der Bischof beschwört die Macht der Demographie und prophezeit die Überschwemmung des alten Kontinents durch die wachsenden afrikanischen Völker. Letztere hätten Anspruch auf mehr Lebensraum, der von den verweichlichten Europäern bloß verschwendet werde. Dort in Europa sei noch massig Platz. Ob ich an Verwandlung glaube, unterbricht er sich unverhofft selbst in seinem größenwahnsinnigen Hirnerguss. Noch ganz beduselt von seiner Lebensraumtheorie regt sich in mir langsam und träge, eben wie es sich für einen Angehörigen des greisen europäischen Volkes gehört, allmählich ein Gefühl der Beklemmung. Ich versuche ihn auf eine Lücke in seinem Theoriegebäude aufmerksam zu machen und gebe ihm zu bedenken, dass abgesehen von Regionen wie dem Massif central und Brandenburg die Bevölkerungsdichte in Europa deutlich über der afrikanischen liegt. Begriffsstutzig ziehen sich seine Augenbrauen zusammen. Offenbar entziehen sich die einzig sinnvollen Destinationen der nahenden afrikanischen Invasion seiner Kenntnis.

Von seinem realpolitischen Stumpfsinn ein wenig beruhigt, hake ich sicherheitshalber nochmal nach. „Zeichnen Sie Postkarten?“. „Nein“ brummelt es etwas verdutzt und verschämt von der anderen Tischseite. Scheinbar habe ich ihn aus dem Konzept gebracht. „Aber ich esse gern Schimpansenhirn“, eröffnet er mir, wie als Entschädigung für sein enttäuschendes Zeichentalent, stolz eine andere seiner Vorlieben. Ob ich schon einmal Schimpansenhirn probiert hätte?

Auf der Flucht vor dem Unfug und Durcheinander im Speisesaal, lockt mich der satte Klang eines Chors in die Kirche schräg gegenüber der Procure. Unter ihrem von der Mittagssonne erhitzten Wellblechdach will ich die Kraft der himmlischen Ordnung das Chaos in meinem Kopf vertreiben lassen. Die Gemeinde versammelt sich zum Gottesdienst und das Gotteshaus platzt zu dieser Begebenheit aus allen Nähten. Vor den Türen staut sich eine verschwitzte Menschentraube, die mich ins Tempelinnere hineinsickern lässt. Drinnen zieren verstaubte und zerfetzte Glitzergirlanden die blecherne Decke. Darunter brodelnde Stimmung. Das Fest des Herrn lädt hier nicht zur Besinnung, sondern, wie der Name eben sagt, zum Feiern ein. Und gefeiert wird im Kongo bis zur Ekstase.

Die Luft ist stickig und bullenheiß von der dampfenden Herde der Gläubigen. Nur wenig Licht dringt durch die zum Teil zerschlagenen bunten Fenster. Zwei tapfere Glühbirnen bieten der drückenden Dunkelheit die Stirn. Die Christenschar im Kirchenschiff ist zweigeteilt, rechts die Männer in dunklen Anzügen, links die Frauen, deren schwarze Köpfe aus einem Stoffmeer aus opulenten bunten Kleidern und Turbanen herauslugen. Jetzt erkenne ich, dass es auch zwei Chöre sind, die mehr aus der Kehle denn aus dem Zwerchfell singen. Und alle singen und tanzen mit. Eigentlich ist es gar kein Gesang, sondern mehr ein Geplärre. Aber es macht Spaß und so lasse ich mich vom Groove der Rumba mitreißen in die schäumenden Wogen der Masse. Süß und lieblich begleitet die Hawaiigitarre unser jauchzendes Geträller, da erhebt der Priester den Zeigefinger und bringt das aufwallende Menschenbad zur Ruh.

Auf sein Kommando hin lässt sich die eben noch in die Höhe wiegende Gemeinde friedvoll auf den Kirchenbänken nieder. Ich hätte ablehnen sollen, als mir mein Sitznachbar offerierte, die auf Swahili gehaltene Predigt des Versbrüllers ins Französische zu übersetzen. Wie in einer Kapsel eingeschlossen höre ich die gedämpfte Stimme meines Übersetzers den Inhalt der priesterlichen Hasstiraden gegen Homosexuelle rezitieren. Ausgenüchtert sehe ich dem pinken Pharisäer dabei zu, wie er seinen gegen Andersdenkende und Andersfühlende gerichteten Wortschwall über die Gemeinde erbricht. Als die Musik wieder einsetzt, sitze ich zwar noch da. Betäubt und verstummt bin ich ihrem Resonanzraum aber schon längst entschwunden.

Ich treffe Klaus an der Beach-Bar, um mit ihm das weitere Vorgehen nach den ernüchternden Ergebnissen unserer Revision zu besprechen. Der Kellner bringt uns zwei Primus Biere und öffnet sie vor unseren Augen. Zunächst will Klaus Claire und Lucas zur Rede stellen. Ich berichte von unserer Reise und so driften wir in eine Unterhaltung über die Abgründe und Katastrophen, über Naturgewalten und Naturreligionen, über die Schönheit und die Magie des Kongos. Klaus war fasziniert von diesem Hort menschlicher Niedertracht. Folglich hat es ihn hierher gezogen. Seit mehreren Jahrzehnten lebt er nun schon in Afrika und kann sich an Vergleichbares nicht erinnern. Er ist eigentlich Lehrer. Um so zu leben, denke ich, muss man in eine Wolke eingehüllt sein, in der die Angst verpufft und der Kontakt zur Außenwelt wie durch Watte eingedämmt wird. Inzwischen ist Klaus schwer enttäuscht von der grassierenden Korruption und sieht unter diesen Bedingungen keinen Nährboden für eine fruchtbare Entwicklung. Ihn lockt jetzt Libyen, das neue Refugium des Abenteuers.

Vier Jungs aus dem Libanon gesellen sich zu uns an die Beach-Bar. Sofort verbindet uns das heimelige Gefühl der Zusammengehörigkeit und kulturellen Bruderschaft. Ihre Namen habe ich vergessen. Ein bisschen erinnern sie mich an d’Artagnan und die drei Musketiere. Die extreme Jugendarbeitslosigkeit zuhause hat die Burschen in den Kongo gespült. Hier arbeiten sie für Western Union und wickeln den Geldverkehr für den libanesisch-kongolesischen Handel ab. Wir verstehen uns auf Anhieb blendend. Nachdem sich Klaus verabschiedet hat, verabreden wir uns bei ihnen zum Abendessen.

Um punkt neun holen mich zwei Mitglieder des Vierergespanns in einem Jeep von der Procure ab. D’Artagnan sitzt am Steuer und ermuntert Porthos dazu, das Radio lauter zu drehen. Mit offenen Fenstern und herausgelehnten Armen brettern wir über die Sandhauptstraße Kindus in Richtung Fluss. Sie wohnen im Geschäftsviertel, unweit der Beach-Bar, in einem Apartment direkt über der Bank. Dort warten schon ungeduldig Athos und Aramis. Denn sie haben Hunger und bereits alle Vorkehrungen für unser Festmahl getroffen. Aus der Küche strömt der Geruch von Hähnchenspießen, Olivenöl und frischer Minze. In den Pfannen bruzzeln Falafel und Auberginen. Auf dem Tisch breiten sich haufenweise gehackte Petersilien, Tomaten und Zwiebeln aus. Die Musketiere lassen sich nicht lumpen und warten mit allem auf, was die libanesische Küche zu bieten hat. Die Anrichte ist gedeckt mit Schüsseln voll Taboulé, Kraut- und Fatouschsalaten und mit Hummus und Sesampasten gefüllten Schälchen. Weiß der Teufel, wie sie in diesem Dschungelnest an das ganze Zeug rangekommen sind.

Porthos füllt die Shishah auf und zündet die Kohletablette an. Wir sitzen auf der Couch und plaudern im Apfeldampf über unsere Arbeit. Gegensätzlicher könnte unser Auftrag im Kongo nicht sein. Die Musketiere führen die Transaktionen für den Export von Rohdiamanten durch. Es ist kaum auszuschließen, dass damit auch Warlords und Rebellen finanziert werden, die viele der Minen kontrollieren. Ich frage mich, ob ich ihre Gastfreundschaft weiter annehmen kann und denke an meinen Kollegen im Bundestag, der für internationale soziale Gerechtigkeit zuständig ist und Schuhe von kik trägt.

Aber ich habe Kohldampf und mir hängt der ewige Fufufraß zum Hals raus. Vor meinem Gewissen mache ich den guten Geschmack meiner Sünde geltend. Athos schaltet den Fernseher ein und holt uns das Gaumenglück aus der Küche. Gierig hauen wir rein. Es schmeckt köstlich. Wir schmatzen und lachen. Die zur Wahl stehenden Gesprächsthemen sind Autos, Fußball und Frauen. Ob ich die kleinen Italienerinnen von der Caritas nicht auch heiß fände. Ich switche mit einem „alors“ zum FC Kaiserslautern, der Legende meiner Heimat und dem einzigen Verein, über den ich ein dreigliedriges Name-dropping zustande bringe. Es ist mir ein Herzensanliegen, mich in Kindu desnachts nicht alleine zu Fuß auf den Heimweg zu begeben und so will ich an diesem Abend die Sympathie der Musketiere nicht verspielen.

Auf dem Militärflughafen stelle ich mich vor meinem Abflug nach Goma dem vertrauten Parcours der verfilzen kongolesischen Bürokratie. Bis ich an mein Ticket für den Humanitären Flugdienst der Europäischen Union komme, begebe ich mich auf die obligatorische und kostspielige Schnitzeljagd nach den erforderlichen Papieren. Von der Reservierungs- und Buchungsbestätigung, über die Beglaubigung meiner Ordre de Mission, bis zum Go-Pass - bei jeder Etappe füttere ich den zerfallenen Verwaltungsapparat der Demokratischen Republik, der sich bestens daran angepasst hat, seinen Wirt, die Vereinten Nationen und internationalen Hilfsorganisationen, maximal auszusaugen.

Am Ticketschalter werde ich von einer mir bislang unbekannten Hürde überrascht. Auf meinen Namen sei keine Buchung erfolgt, der einzige Passagier meiner Organisation eine gewisse Mme Cecilia. Ich versuche der gleichgültigen Frau in der Ticketbox zu erklären, dass so die Sekretärin heißt, die den Flug für mich gebucht hat. Doch rede ich gegen eine Wand und scheine nicht der geringsten Regung ihrer Aufmerksamkeit würdig. Skeptisch liest sie meine Ordre de Mission. Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen studiert sie dabei meinen Namen und kommt nach längerem Innehalten zum Schluss, dass Cecilia die französische Übersetzung von Sascha sein muss.

Demgemäß beginnt sie, mein Ticket mit meinem neuen Vornamen auszufüllen und setzt das Procedere behördengeschult kühl mit der Frage nach meinem Nachnamen fort. „Monsieur Asch“, bemühe ich mich freundlich zu antworten und schiebe rasch die Buchstabierung hinterher. „Asch - a - cé- asch.“ Wie eine Schildkröte schiebt sie langsam ihren Kopf fragend nach vorne. Zur Vermeidung weiterer Irritationen fasse ich den Beschluss, ihr rasch meinen Reisepass in die Hand zu drücken und zeige mit dem Finger auf meinen Nachnamen. Daraufhin notiert sie auf dem Ticket in das Feld für den Nachnamen das einzige in Großbuchstaben abgedruckte Wort auf meinem Pass. Unter meinem Agentennamen Cecilia DEUTSCH eile ich durch den Security-check zum Gate und hoffe, dass niemand ein Krokodil in seine Reisetasche eingepackt hat.

Der Start unserer Maschine wird unverhofft auf unbestimmte Zeit verschoben. Im Südmaniema sind plötzlich Kämpfe ausgebrochen. Schwerbewaffnete MONUSCO-Soldaten stürmen ins Gate und steigen im Laufschritt und mit konzentriertem Gesichtsausdruck in die Helikopter. Einer nach dem anderen hebt in steiler Kurve in Richtung Kabambare ab, wo ruandische Milizen gerade dabei sind, die Dörfer zu überfallen. Als in unserem Gate wieder Ruhe eingekehrt ist, können nunmehr auch die Krieger der Humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit ihre Reise antreten.

In Goma werde ich wieder von Coco abgeholt. Coco ist wie immer super gelaunt. Sein Kopf kreist im Rhythmus zur aus dem Autoradio dudelnden Hawaiigitarre. Wenn man Coco heißt, denke ich, kann man nur gut gelaunt sein. Ich überlege, welche Konsequenzen der Name Cecilia DEUTSCH auf die Gemütslage des bedauernswerten Täuflings haben mag.

Unser Fahrziel ist diesmal gar nicht weit. Gemächlich hoppeln wir im Jeep über Schlaglöcher durch die direkt am Flughafen gelegenen Slums. Dort ist vor zwei Monaten Momo* nach einem längeren Klinikaufenthalt notdürftig untergekommen. Momo ist einer der beiden kongolesischen Mitarbeiter aus Kindu, die von Kollegen vergiftet wurden. Er war gleich zwei Mal Opfer einer Giftattacke. Der erste Versuch scheiterte. Beim zweiten Mal hat das Gift seine Wirkung nicht verfehlt, griff auf der Stelle seine Organe an und lähmte sein Nervensystem. Nur knapp entkam er dem Tod, dank Monsieur Klaus, der ihn sofort ins Krankhaus nach Goma einfliegen ließ. Im dunklen Treppenhaus der Baracke treffen wir aufeinander. Momo ist völlig abgemagert, seine Haut gescheckt von schwarzen Flecken. Doch sein Blick ist klar und bestimmt. Ich stehe vor einem zwanzigjährigen Mann, der viel erlebt hat.

Die Baracke ist voller Unruhe. Unentwegt kommen und gehen Gestalten. In der Dunkelheit kann ich nur die Umrisse der Personen erkennen, die an uns vorbei die Treppe auf- und absteigen. „Gibt es hier einen Ort, wo wir ungestört reden können?“ „Ich teile mein Zimmer mit achtzehn Männern, das ist hoffnungslos“, antwortet er mit einem verschmitzten Lächeln. Nestor spricht reinstes Französisch. Ich habe noch keinen Kongolesen so makellos französisch reden hören. Ich schlage ihm vor, bei mir im Hotel zusammen zu Abend zu essen. „Je suis absolument d’accord“, nickt er sichtlich erfreut und verströmt dabei die zwanglose menschliche Wärme, in der man sich willkommen fühlt und der Abschied nicht weh tut. Wie verabredet, sehen wir uns am Abend auf der Restaurantterrasse meines Hotels wieder.

Vor uns breitet sich der Kivusee aus. Behutsam beginnt Momo, mir seine Geschichte zu erzählen. Wie ihn seine Kollegen verdächtigt hatten, sie zu verraten, weil er mit Klaus befreundet war. Vom Neid auf seine Stellung im Projekt, die sie ihm, dem ehemaligen Kindersoldaten, missgönnten. Während des Krieges, im Alter von vierzehn Jahren, war Momo persönlicher Adjutant eines Mai-Mai-Generals, dem er jeden Morgen ein zwölf- bis dreizehnjähriges Mädchen bringen musste. Der Rebellenführer vergewaltigte die Mädchen und ließ sie anschließend von den Kindersoldaten lynchen. Momos Familie wurde bei einem Überfall der Armee auf sein Dorf ermordet. Eine überlebende Tante drängte ihn dazu, sich dem Widerstand der Mai-Mai anzuschließen. Er ist flink und klug und wurde deshalb vor allem als Späher eingesetzt.

Nach Sonnenuntergang überquerte er in einer Pirogge den Fluss und hielt auf der anderen Seite Ausschau nach den vorrückenden Regierungstruppen. In den Städten kundschaftete er als Bote getarnt Händler und Fuhrunternehmer nach den jüngsten Kampfhandlungen aus. Als der Krieg vorbei war, versteckte er sich zwei Jahre lang in der Hütte eines Onkels in Kindu, die er bei Tageslicht nicht verließ und sprach mit niemandem. Bis sein Onkel ihn dazu überredete, am Reintegrationsprogramm der Organisation teilzunehmen. Er machte eine Ausbildung zum Tischler und später zur Bürokraft. Schließlich bot sich ihm selbst eine Anstellung bei der Organisation. Es muss wie ein Sechser im Lotto gewesen sein. Doch seine Loyalität wurde ihm abermals zum Verhängnis.

In der Abendsonne schwimmen wir im glitzernden Kivusee, umschlossen von den sanften Ausläufern des Nyiragongos. Das muss es sein, was Kant als Bewegung des Gemüts beschreibt, die uns unsere Ohnmacht und Übermacht spüren lässt, wenn wir in uns dem Erhabenen begegnen. Der Blick in den feuerspuckenden Schlund des Nyiragongo. Die Vorstellung seiner grenzenlosen Macht und Willkür erlischt jede Regung menschlicher Stärke. Und doch fliehen ihn die Menschen nicht, sondern sind, erinnert an unsere Bestimmung, von seiner Gewalt unwiderstehlich angezogen. Ich habe ihn nicht bestiegen. Nur aus der Ferne gesehen, wie er rot in die Nacht hineinleuchtet. Ich fühlte nichts Erhabenes, ich dachte an Mme Nguyen.

* Die Namen dieser Personen wurden geändert.

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