Tafeln in Deutschland: ein Armutszeugnis

Armut Die Anzahl der Menschen, die auf Tafel-Leistungen angewiesen sind, steigt mit jedem Jahr. Und das in Deutschland, der größten Volkswirtschaft Europas. Ein Armutszeugnis

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Im Jahr 2021 ist es nicht mehr selbstverständlich, an eine erfolgreiche Zukunft der SPD zu glauben. Wahlergebnisse von unter 15 Prozent sind mittlerweile ein fester Bestandteil der ältesten Partei Deutschlands; und in diesem Jahr, bei den Bundestagswahlen im Herbst, droht der stolzen Volkspartei laut aktuellen Umfragen ein Absturz auf den dritten Rang bundesweit. Hinter Grünen und CDU. Die Sozialdemokraten steuern auf einen neuen Negativrekord zu.

Eine Persönlichkeit, die sich mit allen politischen Mitteln gegen einen Absturz ihrer Genossen wehren würde, wäre die im August 2020 verstorbene Ingrid Stahmer gewesen.

Ingrid Stahmer war nicht nur Mitglied der SPD in Berlin, sondern galt auch als deren „soziales Gewissen“. Als Sozialsenatorin und Stadträtin fürs Sozialwesen der Hauptstadt setzte sie sich für Obdachlose und deren Belange ein.

Wenn man so will, war Stahmer indirekt mitverantwortlich dafür, dass Lebensmitteltafeln in Deutschland ihren Weg fanden.

Gründungsgeschichte der Tafeln

Eine Rede der Sozialsenatorin Anfang der 90er Jahre inspirierte Mitglieder der Initiativgruppe Berliner Frauen e.V. 1993 dazu, Lebensmitteltafeln zu gründen. Dabei diente „(…) das Konzept der New Yorker City Harvest (...)“ als Vorbild.

Bei der „City Harvest“ handelt es sich um eine Organisation der Stadt New York City, die übriggebliebene Lebensmittel in der Stadt einsammelt und diese dann an Bedürftige verteilt.

Seit der Gründung der ersten Tafel in Berlin sind laut Domradio.de mittlerweile über 900 in ganz Deutschland gegründet worden. Die Statistik-Seite statista.com zeigt sogar eine Anzahl von 948 Tafeln bundesweit an.

Nun ist es sicherlich nichts Schlechtes, wenn überschüssige Lebensmittel, anstatt in den Müll zu wandern, die Tragetaschen von Arbeitslosen, Alleinerziehenden, Studenten oder Flüchtlingen füllen.

Grundsätzlich werden in Deutschland immer noch zu viele Lebensmittel weggeworfen. Laut Verbraucherzentrale2020 sind das jedes Jahr rund 12 Millionen Tonnen an Nahrungsmitteln.

Doch die Grundsatzfrage, warum Lebensmitteltafeln in unseren Wohlstandsgesellschaften überhaupt notwendig sind, wird gar nicht gestellt.

Deutschland- Exportweltmeister und größte Wirtschaftsnation der EU

Die deutsche Bundesregierung rühmt sich gerne, wenn es um die Wirtschaftsmacht der eigenen Nation geht. Deutschland war lange Zeit nicht nur Exportweltmeister, und das noch vor der aufstrebenden Weltmacht, der Volksrepublik China, sondern ist überdies die größte Wirtschaftsnation der Europäischen Union (EU), wie eine Grafik aus dem Jahr 2019 zeigt.

Die CDU spricht sogar davon, die „Schere zwischen Arm und Reich“ zu schließen.

Dabei zeigen die absoluten Zahlen etwas anderes.

Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) aus dem Jahr 2020 belegt: „Die oberen zehn Prozent besitzen demnach gut zwei Drittel des Nettovermögens, zuvor war man von knapp 59 Prozent ausgegangen.“

Die Vermögenskonzentrationen legen demnach zu. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung besitzt nur 1,3 Prozent am gesamten Vermögen. Von einer Bekämpfung der Ungleichheit kann keine Rede sein.

In den vergangenen Jahren stieg zudem die Anzahl an Menschen, die von Altersarmut betroffen sind (2006: 12,5 Prozent, 2018: 18,2 Prozent), rasant an, wie Daten des Europäischen Statistikamtes Eurostat aus dem Jahr 2020 zeigen. Kein Wunder, dass die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi von einer „tickenden [sozialen, d. R.] Zeitbombe“ der Zukunft spricht.

Zahl der Tafelnutzer wächst

Warum gibt es also Tafeln in Deutschland? Schlicht und ergreifend aus dem Grund, da der Bedarf an kostenlosen bzw. vergünstigten Lebensmitteln in der Gesellschaft immer größer wird.

In einer Pressemitteilung vom 17. September 2019 konstatierte die Tafel Deutschland auf Ihrer Website: „Innerhalb eines Jahres ist die Anzahl der Menschen, die die Angebote der Tafeln nutzen, um zehn Prozent gestiegen. Aktuell kommen 1,65 Millionen Menschen regelmäßig zu den Tafeln.“

Die Bekämpfung der Ungleichheit, die sich die schwarz-rote Bundesregierung auf die Fahnen geschrieben hat, sie mutet im Angesicht dieser Realitäten wie blanker Hohn an.

Im Koalitionsvertrag (Seite 92) von CDU/CSU und SPD aus dem Jahr 2018 steht unter Kapitel VII „Soziale Sicherheit gerecht und verlässlich gestalten“: „Die Rente muss für alle Generationen gerecht und zuverlässig sein. Dazu gehören die Anerkennung der Lebensleistung und ein wirksamer Schutz vor Altersarmut.“

Von einer Bekämpfung der Altersarmut kann jedoch keine Rede sein, wie der Blick auf die Statistiken zeigt.

Da nützen auch die ganzen Rekordsteuerüberschüsse nichts, die Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) vor Beginn der Corona-Pandemie Jahr für Jahr stolz verkünden durfte.

Besonders dramatisch, so die Tafel in ihrer Pressemitteilung weiter, sei der Anstieg bei Senioren, die auf ihre Angebote angewiesen seien. Doch eine andere Gruppe belegt den traurigen Spitzenplatz: Langzeitarbeitslosigkeit sei der häufigste Grund für den Besuch der Tafeln.

Anstatt also die Frage zu stellen, wieso immer mehr Menschen die Tafeln aufsuchen, sollten wir uns stattdessen fragen, wieso es überhaupt solche Einrichtungen in einem der reichsten Länder der Welt geben muss.

Diese Frage sollte also direkt an die politisch Verantwortlichen gestellt werden. Sowohl im Bund als auch in den einzelnen Ländern. Jeden Tag, bis Antworten erfolgen.

Denn nur so können endlich Veränderungen im sozialen Bereich erfolgen.

Die Lösungen liegen auf der Hand

Die Ausgabe von Lebensmitteln, die ansonsten im Müll landen würden, ist im Grundsatz eine großartige Errungenschaft der Neuzeit. Denn wir wissen heute, dass Produkte dank modernster Kühl- und Lagertechniken länger haltbar sind und damit den Geldbeutel schonen können.

Das ist besonders für sozial Abgehängte Menschen wichtig.

Doch wir müssen uns als Gesellschaft den unbequemen Fragen stellen, die solche Zustände der ungleichen Verteilung zu verantworten haben.

In einem Land wie Deutschland, in dem die Anzahl der Einkommensmillionäre immer weiter wächst, sollte kein Mensch auf die subventionierte Unterstützung von Lebensmitteltafeln angewiesen sein, um seine Grundbedürfnisse zu befriedigen.

Die Lösungen für diese Zustände, sie liegen uns förmlich vor der Nase:

Die Altersarmut endlich bekämpfen, indem zum einen die gesetzliche Rente gestärkt und eine armutsfeste Grundrente eingeführt werden.

Die Langzeitarbeitslosigkeit bekämpfen, indem der öffentliche Beschäftigungssektor (ÖBS) ausgebaut und subventioniert wird, damit Menschen auch in Krisenzeiten einer Beschäftigung nachgehen können.

Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf den Weg bringen, damit Menschen von ihrer Erwerbstätigkeit leben können, ohne aufstocken zu müssen. Für alle Sparfüchse da draußen: Der Staat spart sich dadurch bis zu 10 Milliarden Euro, die er Geringverdienern an Subventionen in Form von Wohngeld bzw. Arbeitslosengeld II zuschießen muss, damit diese über die Runden kommen.

Zudem muss - ergänzend dazu- endlich eine Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes angegangen werden, um endlich ein Leben in Würde für Arbeitslose zu gewährleisten. Der Paritätische Gesamtverband hat analog mit anderen Verbänden und Gewerkschaften eine Aktion unter dem Hashtag #Mindestens600 ins Leben gerufen, die auch auf Twitter einen Trend ausgelöst hat. Die Forderung: Eine Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes auf mindestens 600 Euro- nicht zuletzt durch die gestiegenen Lebenshaltungskosten durch Corona.

Ingrid Stahmer hat in ihren politischen Funktionen für mehr soziale Gerechtigkeit gekämpft, insbesondere für Menschen ohne Zuhause.

Ihr „soziales Gewisssen“ in Berlin sollte endlich auch wieder Einzug bei der SPD halten.

Lebensmitteltafeln in Deutschland sind eine Schande.

Ein Armutszeugnis.

Stellen wir endlich die unbequeme Frage nach dem Wieso: Wieso sind Menschen im Herzen Europas, mitten unter uns, auf Tafeln angewiesen?

Dann können wir auch die Antworten formulieren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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