Bodo kommt und man lässt ihn

Mi-Prä Rot regiert in Thüringen. Jetzt scheint die Welt aus den Fugen. Die Ossis wollen wieder links - wie verrückt ist das denn?

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Kaum ist Bodo Ramelow als Ministerpräsident Thüringens bestimmt, geht er schon als Gespenst um. Konservative Politiker, aber auch die dazugehörigen Medien überschlagen sich in schlimmer Vorahnung. Wieder einmal fällt es schwer, demokratischen Prinzipien zu folgen, nach denen freie Wahlen und deren Ergebnisse etwas Unantastbares sind. Die schiefen Mäuler sind entsetzt geöffnet, und man mag nicht begreifen, dass diejenigen, die das Unrechts-Regime DDR 1989 abschafften, nun auch das jetzige am liebsten zum Teufel wünschten. Dazu gehört viel Begriffsstutzigkeit, die reichlich unterfüttert ist – durch permanente Verzerrung des DDR-Bildes hier im Westen und Unkenntnis über den Osten. Natürlich wollte die Mehrheit der DDR-Bürger die Schrecknisse des damaligen Systems abstreifen. Sie rechnete aber keinesfalls mit den neuen Bedrohungen – dem gnadenlosen Überrollen der DDR-Wirtschaft, der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit, die bis auf 20 % aufstieg und so fröhlichen Kollateralschäden wie Zwangsräumungen, Stromabschaltungen und permanenter Dummhaltung, die armen, bildungsfernen Bürgern und Migranten heute immer mal zu Teil werden. Dass in der EX-DDR jeder ein Dach über dem Kopf und Arbeit hatte, dass allen Bürgern auch vermittelt wurde, welche Sozialleistungen ihnen zustanden, ja ihn diese geradezu angedient wurden, haben auch die Thüringer nicht vergessen.

Es war verdammt schwer, sich auf eine neue, anderswie üble Welt einzustellen, in der nur Leistung zählt, in der prekäre Arbeit zu extremer Ausbeutung und Altersarmut führt, in der 7 Millionen Menschen von Hartz IV leben, in der es andererseits aber über 200.000 Menschen aus Scham nicht wagen, Hartz IV einzufordern. In der jeder schlau sein muss, wenn er die ihm zustehenden Sozialleistungen abgreifen will (was oft genug daneben geht) und in der sich der Staat über jede nicht in Anspruch genommene Leistung diebisch freut (ich denke nur an das verkorkste Bildungspaket von van der Leyen ).

Kein Wunder, wenn in dieser Gemengelage Kritik aufkommt. Wenn die Bürger plötzlich nicht mehr mit bunten Büchsen, Billigreisen und Bürgerdemos abzuspeisen sind. Sprich: All das eine neue Färbung bekommt, was ihnen in der DDR vorenthalten wurde. Möglich, dass man sich in diesen Tagen vor der Wahl ganz plötzlich auf die anderen Werte besonnen hat und noch mal Rückschau hält. Nicht, weil es eine falsch verstandene Nostalgie so will. Nein! Weil viel Wahrheit ans Licht möchte. Weil man plötzlich erkennt, dass zwei Ex-DDRler an der Spitze des deutschen Staates – Leute, die die Bürger von VORMALS so gar nicht repräsentieren - das brutale Abräumen von Potentialen und Lebensleistungen nie und nirgendwie kompensieren können. Ja, schon der unausgesprochene Wunsch, hier eine Ost-West-Waagschale zu installieren, muss den Ossis wie pure Verarschung (man verzeihe mir die Wortwahl) vorkommen. 80% der Westdeutschen waren noch nie in der Ex-DDR. Was sie von dort wissen, stammt mehrheitlich aus den Massenmedien, die drei Großbuchstaben in immer währendem Verriss auf Stasi, Unrechtsstaat und marode verkürzen. Niemand von denen weiß, dass z.B. die DDR-Metallurgie höchst modern ausgerüstet war, weil sie über 30 sogenannte Kompensationsvorhaben (Bartergeschäfte) über viele Jahre hinweg neue Technik eingekauft hatte. Und wer vermutet schon, dass die größte EUROPÄISCHE Werkzeugmaschinenfabrik „Fritz Heckert“ ausschließlich mit westlichen Werkzeugmaschinen ausgestattet und auf Export gen Westen programmiert war? Ähnliches trifft auf die Möbel- und Weiße-Ware-Produktion (Zeulenroda, Privileg) zu. Diese Subjekte offensichtlicher Abweichung von marode sind nach der Wende entweder schnell an westliche Interessenten verkauft oder aus Wettbewerbsgründen vernichtet/abgewickelt worden.

Ja … und das sonstige Leben in der DDR? Es fand natürlich auch statt, und es machte sehr viel mehr Freude als westliche Beobachter heute wahrhaben wollen. Denn die Stasi war natürlich nicht allgegenwärtig – „nur“ dort, wo offensichtliche Dissidenten/Feinde agierten und BND/NSA keine brauchbaren Daten lieferten. Niemand will Überwachung und Bespitzelung schön reden, geschweige denn rechtfertigen. Das alles war schlimm! Auch unter den Thüringern dürfte das Konsens sein.

Folglich sollte man die Thüringer nicht für verblödet halten, wenn sie sich jetzt vornehmlich der Partei folgen, die für mehr Gerechtigkeit im Kapitalismus eintritt. Bleibt abzuwarten, ob Ramelow & Co. diesem Anspruch gerecht werden und vor allem: ob die Finanzierung für die versprochenen „Wohltaten“ auf die Beine kommt. Dabei ist es Zufall, dass Deutschland - und so auch die deutschen Länder - momentan gut ausgestattet sind. Und ein Irrwitz der Geschichte, dass Rot-Rot-Grün gerade jetzt vom (mehrheitlich bekämpften) Egoismus der Deutschen profitiert, von einer wirtschaftlichen Lage also, die ihre Wurzeln in der verhängnisvollen Sparpolitik Merkels/Schäubles, dem Absaugen von Fachkräften aus armen Ländern und der prekären Lohnpolitik hat. Hier dürfte nun ein unfair erworbener Wettbewerbsvorteil gegenüber Rest-Europa auch von Mitte-Links genutzt werden.

Dr.-Ing. Ulrich Scharfenorth

wwwstoerfall-zukunft.de

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Geschrieben von

Scharfenorth

Bis 1990 fuer die DDR-Stahlindustrie tätig. Danach Journalist/ Autor in Duesseldorf. 2008: "Stoerfall Zukunft"; 2011: "abgebloggt" und Weiteres

https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Scharfenorth

Scharfenorth

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