Zerreißprobe UKRAINE

Keine Heuchelei Nur wenn alle für die Ukraine relevanten "Völkerschaften" an einenTIsch kommen, können die Probleme des Landes gelöst werden.

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6. März 2014: Da will eine Mehrheit von russlandfreundlichen Bürgern, dass die Krim – bis 1954 Teil der RSFSR, dann aber von Chruschtschow an die Ukraine verschenkt – nach Russland zurück kehrt. Eben das wird im Westen als manipuliert missdeutet und quasi in Lichtgeschwindigkeit zur Putinschen Machenschaft erklärt. Als ob es auf der Krim niemanden gäbe, der zu denken und vor allem … zu fühlen vermag.

Wenn man heute die Vorgänge auf der Krim als Staatsstreich bezeichnet und Verständnis für die in der Ost- und Südukraine lebende Bevölkerung – dabei insbesondere für die prorussische Mehrheit – äußert, wird man hier zu Lande schnell mal geköpft, zumindest aber in die Diktatoren-Ecke zu Putin gestellt. Als ob man persönlich mit dabei wäre, wenn auf der Krim schwere Technik bewegt wird.

Aber hallo: Gibt es denn in Deutschland niemand mehr, der den Blick dahinter versucht? Und zumindest auf Ausgewogenheit besteht? Folgt man BILD, Express, Rheinischer Post oder der WELT, dann ist der kalte Krieg neuerlich im Gange. Alles schreit nach Sanktionen, weil ein Mann, der die Dinge sachlich zurecht rückt, es dann aber nicht drauf hat, die russisch stämmigen Ukrainer zu mäßigen, erst mal Prügel beziehen muss. Schließlich besitzt allein der Westen die Deutungshoheit über die Geschehnisse. Und nicht nur das. Der Westen ist auch überall präsent. In Kiew geben sich die Außenminister der USA und der EU die Klinke in die Hand. Als ob der Boden schon erobert wäre. Putin spricht dann auch von einem Staatstreich, davon, dass die Leute vom Maidan den mit Janukowitsch ausgehandelten Kompromiss vom 21. Februar 2014 einfach durchkreuzt und sich selbst auf den Thron gehievt haben. Nichts mit einer Regierung der nationalen Einheit, nichts mit vorgezogenen Neuwahlen und nichts mit Vertretern der russlandfreundlichen Ukraine in Schlüsselpositionen. Im Gegenteil: Es hieß sofort, dass russisch als zweite Amtssprachen liquidiert werde. Dabei hatte Putin auf Präsident Janukowitsch massiven Druck ausgeübt. Der war schnell bereit, bei den geplanten Neuwahlen nicht mehr zu kandidieren. Mehr noch: Dieser Mann war einst als Sieger aus regulären Wahlen hervorgegangen, hatte den Nerv, wochenlange Proteste ohne massive Gewaltanwendung durchzustehen (wo auf der Welt gibt es so etwas?) und wird jetzt sogar – was den Einsatz von Scharfschützen und die darauf folgenden Toten angeht – erheblich entlastet. Im entstandenen Vakuum tummeln sich jetzt die Wiedergänger von Julia Timoshenko, Faschisten aller Couleur und der kleine Rest an Freiheitskämpfern und Menschenrechtsaktivisten. Aus Mangel an gestandenen Politikern sitzen jetzt vor allem unerfahrene No-Names auf den Regierungsbänken, Menschen, denen der Westen alles verkaufen kann. Freilich nicht aus edlen, helferischen Motiven heraus, sondern eher aus fiesen. Denn ähnlich wie in Rumänien, Bulgarien und 2007 in Georgien geht es vor allem darum, eine massive Front gegen die potentielle Wirtschaftsmacht Russland aufzubauen, neue Absatzmärkte zu erschließen und den Zulauf billiger Arbeitskräfte und Prostituierter nach Zentraleuropa zu beschleunigen. Denn nichts anderes wird geschehen, wenn sich die Ukraine dem vom Westen vorgelegten Assoziierungsvertrag unterwirft. Der nämlich unterstellt ein Freihandelsabkommen, dass der EU den vollen Zugriff auf bestehende Absatzstrukturen erlaubt, Steuervorteile beschert und das Lohndumping auf Jahrzehnte befestigt. Die Ukraine dürfte dann in etwa dasselbe erleben, was Rumänien, Bulgarien und z.T. auch Ungarn widerfahren ist. Nämliche eine gnadenlose Privatisierungswelle (bei Totalabwicklung der alten, unrentablen Unternehmen) mit hoher Arbeitslosigkeit, wobei sich – ähnlich wie in Ungarn – nahezu keines der neu entstehenden Unternehmen in ukrainischer Hand befinden wird. Stattdessen werden die Dependenzen westeuropäischer und US-amerikanischer Global Player wie Pilze aus dem Boden schießen. Und ähnlich wie in der EX-DDR dürften alle bis vor kurzem noch intakten Handelsverbindungen Richtung Osten – wenn nicht gekappt – so doch erheblich ausgedünnt werden. Raum für eine eigene kleine und mittelständische Industrie wird da kaum bleiben, denn praktisch alle Waren stehen in guter Qualität und zu günstigen Kosten aus den in der Ukraine befindlichen Westablegern, der Europäischen Union oder aus den USA zur Verfügung.

All das sind Überlegungen, die der ukrainische Normalbürger in Lwiw oder Kiew kaum anstellt. Er glaubt, dass für ihn mit Annäherung an die EU ein neues, besseres Leben beginnt. Theoretisch wäre das möglich, nur die Praxis dürfte – zumindest kurz- und mittelfristig – anders aussehen. Vor allem für die Ukrainer im Osten und Süden des Landes. Die nämlich misstrauen den Lockungen des Westens, der alles andere als die sichere Heimstatt suggeriert – Griechenland, Spanien, Portugal, Slowenien, Rumänien, Bulgarien etc. lassen grüßen. Kein Wunder, wenn dann viele Menschen lieber den einstigen Weggenossen – die Sowjetunion und in der Nachfolge: Russland – an ihrer Seite wissen. Die Massenproteste in den Kohle- und Stahlregionen, vor allem aber auf der Krim, haben das zweifelsfrei bewiesen. Hier von Einzelfällen, von bus-transportierten Berufsprotestierern zu faseln – wie das verschiedene westliche Medien draufhaben – ist zutiefst lächerlich. Wahr ist: Die Ukraine ist zutiefst gespalten, und wer dem nicht Rechnung trägt, wird zur Politikunfähigkeit verdammt sein. Eine moderne Ukraine erfordert, dass alle an einen Tisch kommen und fair partizipieren.

Zum Glück gibt es auch im Westen vernunftbegabte Akteure, die vor Schnellschüssen warnen. Und zumindest wichtige, wenn auch unpopuläre – weil nicht ins Kalkül passende – Teilwahrheiten preisgeben http://www.rp-online.de/politik/wladimir-wladimirowitsch-putin-fuehlt-sich-vom-westen-betrogen-aid-1.4085334. So wird die Befindlichkeit Putins zumindest in Ansätzen richtig wiedergegeben. Dieser Mann wurde in den zurückliegenden Monaten und Jahren vom Westen immer wieder vorgeführt und betrogen – mal in Ex-Jugoslawien (das die USA ohne UN-Mandat bombadierten), in Libyen (wo er dem UN-Mandat zur Schaffung einer luftwaffenfreien Zone, nicht aber der Auslöschung Gaddhafis zugestimmt hatte) oder mal, was die angeblichen polnischen und tschechischen Raketenschutzschilde gegen iranische Atomraketen angeht. Ganz zu schweigen von der herablassenden Behandlung im Nato-Russland-Rat, bei der Münchener Sicherheitskonferenz oder den Winterspielen in Sotschi. Putin ist keineswegs mein Freund. Er hat viele Fehlstellen und Blößen, und er gibt sich schwergängig, wenn Oppositionelle mehr Meinungsfreiheit und Menschenrechte einfordern. Ja, er lässt auch einkerkern und Leute in Arbeitslager verfrachten. Was von hier aus oft nicht beurteilt, in Einzelfällen aber sicher verurteilt werden kann und muss. Ich gebe allerdings zu bedenken: Auch im Westen ist Freiheit nur relativ und in vollem Maße nur für diejenigen zugänglich, die in Wohlstand leben. Und gewiss: Hier herrscht Meinungsfreiheit – wenngleich Meinung, so sie denn öffentlich geäußert wird, in der Regel wenig bewegt (Stichworte: Zweiklassengesellschaft, Gerechtigkeit und Ungleichheit, Stuttgart21 etc.). Bei Menschenrechten ist das sehr unterschiedlich. Dort, wo besonders getönt wird, glaubt man sie einzuhalten (Verstößt Hartz IV gegen ein Menschenrecht? Ist das von der NSA ausgehöhlte Persönlichkeitsrecht nicht ein Menschenrecht?).Gibt es Folter bei der CIA? Sind Menschen ohne Sozial- und Haftpflichtversicherung, sind 5.000 Obdachlose in L.A. menschenrechtsverletzt?

Wir müssen uns hüten, den Heucheleien und allgemeinen Worthülsen aufzusitzen. Wir sollten Politikern und Medien misstrauen, wenn sie irgendwo auf der Welt Pflänzchen der Demokratie ausmachen und diese als Speerspitze multinationaler Konzerne und Finanzinteressen aufblasen. Spätestens die heutige Bedeutungslosigkeit der DDR-Bürgerrechtler, spätestens die Chaos-Früchte des arabischen Frühlings sollten uns gezeigt haben, wie Irreführung, Fehlinterpretation und Scharlantanerie aussehen. Von der EU- und USA-gerechten "Aufbereitung" der Ukraine dürften vor allem die dazugehörigen Interessengruppen – und hier insbesondere die deutschen – profitieren. Weil die derzeit Regierenden extrem von den Euro- und Dollarspritzen aus Brüssel und New York abhängig sind und im Gegenzug nicht nur die bereit sein werden, die in der Ukraine ansässigen West-Firmen zu schützen, sondern auch günstige Bedingungen für weitere Investitionen zu gewähren. Das gibt für die Multis rund um die Uhr preiswerte Produkte auf Basis von Billiglöhnen. Und wer dann nicht für den Westen schuftet, kommt vielleicht als gut ausgebildeter Billigarbeiter nach Deutschland und verdrängt kostspieligere deutsche und spanische (soeben eingewanderte Brain-Drain-)Ingenieure und Wissenschaftler. Übrigens kommen die für die Folgejahre versprochenen 11 Milliarden Euro aus denselben Brüsseler Töpfen, die auch für Griechenland, Spanien, Portugal etc. ausgeschöpft werden sollten. Fragt sich, wer hier erfolgreicher um die Euros buhlt – die verarmten Südländer oder die bankrotte Ukraine.

Dr. Ulrich scharfenorth, Ratingen

www.stoerfall-zukunft.de

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Geschrieben von

Scharfenorth

Bis 1990 fuer die DDR-Stahlindustrie tätig. Danach Journalist/ Autor in Duesseldorf. 2008: "Stoerfall Zukunft"; 2011: "abgebloggt" und Weiteres

https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Scharfenorth

Scharfenorth

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