Achso, ich bin ein Alpha-Tier

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Ich werde von einer Zeugin Jehovas angesprochen. Danach gehe ich kegeln und treffe attraktive Frauen. Außerdem erzähle ich, warum ich mich anziehe wie ein Priester.

Ich lustwandelte durch die Fußgängerzone einer deutschen Kleinstadt, als mich eine Frau ansprach.
„Einmal den Wachtturm mitnehmen?“, fragte sie und hielt mir ein Heft hin, auf dem „Der Wachtturm“ stand. Ich machte eine Bewegung wie ein Skifahrer beim Abfahrtslauf und entkam.

Dieser Zwischenfall verstörte mich nachhaltig. Ich weiß, dass die Zeugen Jehovas stundenlang reden, wenn man sie ins Haus lässt, aber in der Fußgängerzone hatte ich sie stets schweigen gesehen. Als sei ihr Produkt so überzeugend, dass sie es gar nicht anpreisen müssten.

Nun aber sprach mich diese Frau an. Was hatte das zu bedeuten? Oh nein, dachte ich, sie hält mich für ein williges Opfer, ein Lamm, das schwach genug ist, den Zeugen Jehovas beizutreten und sich der Gemeinschaft zu unterwerfen. Und wahrscheinlich hatte sie Recht damit. Tief in meinem Inneren wollte ich genau das. Geführt werden.

Einige Tage nach dieser Erkenntnis besuchte ich eine gesellige Kegelveranstaltung. Ich warf alle Neune um und sprach mit attraktiven Frauen. Nach zwei Stunden betrat ein Mann mit roten Haaren den Raum. Er redete laut und guckte lässig. Dann legte er ganz selbstverständlich seinen Arm um eine der attraktiven Frauen. Er hatte sie vorher nie gesehen.

Ich musste mir nicht viel Mühe geben, ihn zu hassen.

Am nächsten Tag sagte ich zu der Frau: „Was für ein Arsch war das denn bitte?“
Sie antwortete: „Das sagst du ja bloß, weil du genau so ein Alpha-Tier bist wie er und du dich von ihm bedroht fühlst.“
„Ich bin aber doch gar kein Alpha-Tier.“
„Natürlich bist du ein Alpha-Tier.“

Ihre Worte brachten mein Gehirn zum Klingen. Dann erkannte ich, dass sie Recht hatte.

Ich war ein Alpha-Tier.

Ich erinnerte mich daran, dass ich in der Schule bei Gruppenarbeit immer das Kommando übernommen hatte. Ich erinnerte mich daran, dass ich bei der Miniplaybackshow im Ferienlager immer der Sänger gewesen war, niemals Schlagzeuger oder gar Bassist. Und ich erinnerte mich daran, dass ich einmal mit schwarzer Hose und schwarzem Pullover, aus dem nur ein weißer Kragen ragte, in die Redaktion gekommen war und aussah wie ein Geistlicher. Sogar der Chefredakteur hatte sich leicht verbeugt, und mir kam das angemessen vor. Die Leute sehnten sich danach, von mir geistig geführt zu werden.

Nun verstand ich auch, warum die Zeugin Jehovas mich angesprochen hatte. Sie wollten mich nicht als Schaf, sie wollten mich als Führungsperson, die neue Mitglieder rekrutierte und die alten straff organisierte. Das machte Sinn: Führungspersonen mussten diesen Blödsinn durchschauen, aber gleichzeitig andere davon überzeugen, diesen Blödsinn zu glauben. Dafür war ich genau der richtige.

Im Internet fand ich heraus, dass das Zentrum des deutschen Zweiges der Zeugen Jehovas in der hessischen Gemeinde Selters lag. Dort arbeiteten und lebten über 1000 Zeugen Jehovas zusammen. Sicherlich sollte ich die geistig führen oder auch mal tyrannisch unterdrücken, damit alle davon überzeugt waren, dass es nirgendwo schöner war als bei den Zeugen Jehovas im Taunus.

Endlich hatte ich eine Zukunftsperspektive.

Neulich habe ich die Zeugin Jehovas wiedergesehen. Sie stand wie immer in der Fußgängerzone. Schon von weitem sah ich sie schweigen. Natürlich, sie sprach ja nur mit ihrem geistigen Führer. Dann aber kam eine Passantin auf sie zu und grüßte: „Guten Morgen, Irmgard.“ Die Zeugin lachte und grüßte freundlich zurück. „Na, wie geht es dir?“

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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