Am Anfang war die Apfelsine (Lindberg 5)

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Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel aus seiner Biografie. Diesmal entlarvt er ein Internetunternehmen, das die Menschheit kontrollieren will.

Kapitel 4 (November 2010)

Ich habe mich nie für Apfelsinen interessiert. Sie waren einfach nur die Dinger, für die ich eine halbe Stunde brauchte, um sie zu schälen. Und dann hatte ich sie völlig zermatscht. Das änderte sich, als ich herausfand, dass die Apfelsinen den Niedergang der Welt einläuteten. Einfache, saftige Apfelsinen. Das verblüffte selbst mich.

Nachdem sich Giovanni di Lorenzo tatsächlich nicht gemeldet hatte, um mich als Reporter bei der „Zeit“ einzustellen, setzte ich meinen Plan, Blogger zu werden, in die Tat um. In meinem Blog wollte ich über alles schreiben, was in der Welt schief lief. So brauchte ich mich wenigstens nicht sorgen, dass mir die Themen ausgingen.

An einem Tag im November 2010 begann ich mein Werk. Weil niemand in unserer Wohngemeinschaft das Geld für einen Internetanschluss und einen Laptop hatte, suchte ich einen Computer in einer Bücherei auf, um zu recherchieren. Mein Mitbewohner Frank, der erfolgloseste Musiker aller Zeiten, begleitete mich, weil er hoffte, neue Inspiration für einen Song zu finden. Ich habe das Stück über die Liebe zwischen dem Buch von Sarrazin und Hitlers „Mein Kampf“ fast gemocht. Frank gehörte zu jenen Menschen, die mich nicht sogleich abstießen, wenn ich sie sah. Also ließ ich ihn mitgehen. Das heißt nicht, dass ich ihn mochte.

Das Internet in all seiner Widerwärtigkeit enttäuschte mich nicht.
„Frank“, rief ich nach zehn Minuten, „Frank, kommt doch mal her. Das glaubst du nicht. Die Welt ist doch völlig bescheuert geworden.“
„Pssssssssst“, fingerzischte es von allen Seiten durch den Lesesaal. Das ignorierte ich.
„Frank, jetzt komm doch mal.“
„Er setzte sich neben mich.
„Frank, siehst du, was das ist?“
„Apfelsinen.“
„Na und?“
„Na und was? Das sind eben Apfelsinen.“
„Frank, das sind nicht einfach Apfelsinen, das ist das krankeste Geschäftsmodell, das ich kenne.“

Die Sache war die: Ein paar junge Geschäftsleute hatten sich gedacht, dass die Leute nicht in der Lage waren, sich selbst ihre Apfelsinen für ihren Orangensaft zu kaufen. Also boten sie auf der Website ihres Unternehmens „Oh! Saft“ ein Apfelsinensaft-Abonnement an. Alle zwei Wochen bekam man Apfelsinen geschickt, die dafür ausreichten, für die kommenden zwei Wochen täglich ein Glas Saft zu pressen.

„Was regst du dich denn so auf?“, fragte Frank.
„Frank, ich hätte selbst dich für klüger gehalten. Denk doch mal nach: Mit diesem Apfelsinenabonnement wird der Mensch weiter entmündigt. Bald wird er vergessen haben, wie man Apfelsinen im Supermarkt kauft und dass es sie dort überhaupt gibt. Und das ist nicht das Ende. Eines Tages wird es das Toilettenpapier-Abonnement geben und alle dürfen nur noch einmal pro Tag, weil die Lieferung nicht mehr Papier vorsieht.“
„Deine größte Sorge ist es, nicht genügend Klopapier zu haben?“
„Klar, ich bin heavy user. Und irgendwann werden es alle Produkte sein, die man für Geld kaufen kann. Nur dieses Unternehmen wird sie noch zur Verfügung stellen.“
„Sollten wir uns nicht lieber sorgen, ob unser Land sicher ist? Dass wir eines Tages auch eine Briefbombe in der Post haben?“
Damals hielten die Menschen den internationalen Terrorismus für die größte Gefahr auf Erden. Das war, bevor sie sich vor radioaktiv verstrahlten Fruchtfliegen aus dem Weltall zu fürchten begannen.
„Was hilft mir eine Welt ohne Terroristen, wenn mir auf der Toilette das Toilettenpapier fehlt?“, sagte ich. „So, und nun lass mich schreiben.“

Zehn Minuten später stand mein Text im Internet. Überschrift „Am Anfang waren die Apfelsinen“. 5000 Zeichen voller klarer, scharfer Gedanken. Ein Schuss vor den Bug des Web 2.0. Und dann passierte – nichts. Kein Kommentar, keine Beschwerde. Die Berliner Republik übte sich darin, mich zu ignorieren. Zu unbequem und originell waren meine Gedanken. Zu gefährlich waren meine Ideen für die oberen Zehntausend.

Weil ich aber nicht hundertprozentig ausschließen konnte, dass den Text bloß keiner gelesen hatte, half ich ein wenig nach. Ich schrieb den Machern von Oh! Saft eine anonyme E-Mail und wies sie darauf hin, dass irgend so ein Spinner sich abfällig zu ihrem Projekt geäußert habe. Eine Unverschämtheit sei das. Am Ende verlinkte ich meinen Text.

Zehn Minuten später bekam ich, der Blogger, eine E-Mail von einem Typen von „Oh! Saft“. Ob wir nicht mal telefonieren könnten?

„Herr Lindberg, was haben Sie eigentlich gegen uns?“
Er rief mich auf meinem Handy an, als wir gerade die Bücherei verlassen hatten.
„Das habe ich doch schon geschrieben“, sagte ich.
„Aber Sie müssten auch mal die Gegenseite zu Wort kommen lassen.“
„Und die wäre?“
„Dass das eine total gute Idee ist. Denken Sie an all die Leute, die nun jeden Morgen frischen O-Saft haben.“
„Sagen Sie nicht O-Saft. Niemand hält die Leute davon ab, zum Supermarkt zu gehen.“
„Manche haben es da sehr weit.“
„Aber andere Lebensmittel kaufen sie doch auch dort. Merken Sie nicht, wie Sie die Leute entmündigen?“
„Wir nehmen Ihnen bloß Dinge ab. Was Ihre Idee mit dem Klopapier-Abo betrifft…“
„Das war keine Idee, sondern eine Warnung.“
„Was Ihre Idee mit dem Klopapier-Abo betrifft – wir denken darüber nach. Schließlich ersparen wir den Leuten so die Peinlichkeit beim Klopapierkauf. Jeder im Geschäft weiß ja genau, was Sie damit machen. Das ist wie Kondome kaufen.“
„Meine Verachtung für Sie wächst sekündlich.“
„Herr Lindberg, warum sind Sie so negativ? Denken Sie nicht, dass Sie sich mit den wirklichen Problemen beschäftigen sollten? Zum Beispiel mit der Frage, ob wir nicht auch bald eine Briefbombe in der Post haben.“

Plötzlich dämmerte es in meinem Schädel. Aber gewaltig.

„Moment mal – Sie stecken hinter der Sache mit der Briefbombe. Sie wollten bloß von Ihrem teuflischen Plan ablenken, die ganze Menschheit zu entmündigen, so dass diese völlig auf ihre Produkte angewiesen ist. Ich habe Sie ertappt. Das ist Ihr Ende.“
„Herr Lindberg, Herr Lindberg? Die Verbindung ist gerade ganz schlecht. Lassen Sie uns ein anderes Mal weiter telefonieren.“
„Ich verstehe Sie klar und deutlich.“
„Herr Lindberg? Ich versuche es dann später noch mal, aber ich stecke gerade in einem Funkloch.“
Dann legte er auf.

Wir standen vor einem Supermarkt.
„Frank, wir gehen da jetzt rein und kaufen das gesamte Klopapier auf.“
„Auch das recycelte?“
„Auch das recycelte. Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.“

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