Ich baue mir eine Höhle

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Ich lese ein Buch, in dem römische Kaiser mit Rosen Menschen töten. Außerdem schreibt mir eine Freundin aus dem Krankenhaus SMS über die nervige Bettnachbarin.

Ich gestehe. Ich habe ein Buch gelesen. Mein Heimcomputer streikte, die Diskothek öffnete erst um Neun. Was hätte ich denn tun sollen?

Das Buch heißt „Stefan George“. Es ist eine Biografie über Stefan George, einen deutschen Dichter. Wie so viele deutsche Dichter kenne ich auch Stefan George nicht. Frank Schirrmacher findet das Buch so gut, dass er überall erzählt, wie gut er es findet. Deshalb habe ich es gekauft.

Auf Seite 102ff stieg mein Interesse. Der Autor Thomas Karlauf beschreibt dort Georges Gedicht „Algabal“. Es handelt vom Leben des römischen Kaisers Heliogabalus. George dichtet, dass der Kaiser seine Herrschaft in ein unterirdisches Reich verlegt, wo er vor Regen und hohen und niedrigen Temperaturen geschützt ist.

Ich zitiere: „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme, Der garten den ich mir selber erbaut Und seiner vögel leblose schwärme Haben noch nie einen Frühling geschaut.“

Gelegentlich sterben in diesem Disneyland Menschen. Einmal lässt der Kaiser Rosen auf eine Festgesellschaft regnen. Alle ersticken.

Eine Freundin von mir liegt im Krankenhaus. Sie berichtet mir regelmäßig in SMS von Tina. Tina liegt im Bett neben ihr und reist von Krankenhaus zu Krankenhaus. Sie fühlt sich häufig schlapp. Niemand weiß, was sie hat.

Wenn meine Freundin ein Buch aufschlägt, legt Tina los. Sie erzählt, in welchem Krankenhaus das Essen am besten ist und wo die Ärzte und wo die Zimmer. Sie erzählt, dass sie sich auf den elektrischen Stuhl freut. Meine Freundin denkt, dass der elektrische Stuhl ein medizinischer Apparat ist. Außerdem liest Tina ihr jede Liebes-SMS vor, die sie von ihrer Freundin bekommt. Nachts schnarcht sie. Meine Freundin schreibt, dass Tina außerhalb des Krankenhauses viele Probleme mit anderen Menschen hat.

Ich bin die einzige Person auf der Welt, die Tina kennt und das Gedicht von Stefan George über den römischen Kaiser. Ich habe deshalb entdeckt, was die beiden verbindet. Und mich mit den beiden. Der römische Kaiser fühlte sich nicht wohl in einer Welt, in der das Wetter ständig umschlug, und er baute eine Höhle, in der er vor Regen und Blitz und Donner geschützt war. Tina fühlte sich nicht wohl in einer Welt, in der ihr ständig etwas zustieß. Also machte sie die Krankenhauszimmer zu ihrer Höhle.

Meine Mutter sagt: „Du kannst nicht überall mit deiner Regenjacke hingehen. Wie sieht denn das aus?“ Die Regenjacke ist orange und ich gehe überall mit ihr hin. Ich habe lange Zeit gedacht, dass ich mir die Regenjacke gekauft habe, um mich gegen Regen zu schützen. Das ist Unsinn. Die Regenjacke ist meine Höhle. Die Höhle gegen alles. Wenn ich die Regenjacke trage, passiert mir nichts. Ich höre nicht, wie Menschen sich beschimpfen. Ich sehe nicht, wie Menschen noch größeren Mist machen.

Der römische Kaiser wird nach vier Jahren in der Höhle von seiner Garde ermordet. Ich muss meine Regenjacke irgendwann in die Waschmaschine stecken. Meine Freundin hat geschrieben, dass Tina entlassen wird. Sie habe nichts, sagen die Ärzte. Ich glaube, sie meinen „niemanden“.

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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