Mein durchgeknallter Nachbar aus Nordkorea

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Ich leihe Kim Jong-il jeden Tag meine Zeitung aus. Außerdem erkläre ich, warum ich am Sonntag die Europawahlen ignoriere.

Mein Nachbar Kim Jong-il hatte die Angewohnheit, immer dreimal hintereinander auf die Klingel zu drücken.
„Komm herein“, sagte ich, „aber es reicht, wenn du einmal klingelst. Ich bin nicht taub.“
„Ich aber“, sagte er, „was schreibt die Zeitung heute über mich?“

Kim war zu geizig für ein Abo. Da ich eines hatte, kam er jeden Tag in meine Wohnung. „Na ja, da steht, dass du deine eigenen Leute für die Atombombe hungern lässt.“
„Du redest ja heute gar nicht in Metaphern, wie du es sonst in deinen Kolumnen machst. Damit die Leute, die die Metaphern durchschauen, sich klüger fühlen.“
„Heute ist mir nichts eingefallen. Außerdem müssen die Leute die Wahrheit auch mal unverhüllt ertragen.“
„Gut. Es ist wahr, dass ich mein Volk für die Bombe hungern lasse. Wie gut, dass die anderen Länder, die eine Atombombe besitzen, ein hoch entwickeltes Sozialsystem haben, das jeden versorgt.“

„Nun wirst du wieder polemisch, Kim. In den USA oder in England verhungern die Menschen aber nicht.“
„Demokratien sollten ja auch einen höheren Anspruch haben, als dass die eigenen Leute nicht verhungern. Wenn sich eure Demokratien nur dadurch von uns Diktaturen abgrenzen wollen, dann gute Nacht.“

Ich seufzte.
„Kim, warum lässt du das mit der Atombombe nicht einfach? Du hast doch die ganze Welt gegen dich aufgebraucht. Und meine Freunde sagen schon, ich solle dir die Zeitung nicht mehr geben. Davon hast du doch nichts.“
„Das denkst du. Gehst du am Sonntag wählen?“
„Was hat das damit zu tun?“
„Gehst du am Sonntag wählen?“
„Nein, gehe ich nicht.“
„Warum?“
„Weil es mich nicht interessiert und weil ich am Sonntag eine sehr attraktive Person am anderen Ende Deutschlands besuche.“
„Na siehst du.“
„Was?“

„Eigentlich müsstest du wählen gehen, weil alle in den Medien sagen, wie wichtig das sei und weil sich ja niemand beschweren darf, der nicht wählen geht. Aber der Nutzen ist für dich größer, wenn du nicht wählen gehst.“
„Der Nutzen ist sogar sehr groß. Aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit deiner Atombombe zu tun hat.“
„Eigentlich müsste ich aufhören, die Atombombe zu bauen, weil die Welt dann angeblich friedlicher ist. Aber mein Nutzen ist größer, wenn ich die Atombombe baue.“
„Das sollst du noch mal sagen, wenn dich die USA zerpflügt haben.“
„Ach ja, welche Länder haben den in den vergangenen Jahrzehnten einen abgekriegt? Irak, keine Atombombe. Afghanistan, keine Atombombe. Irak, keine Atombombe. Grenada, keine Atombombe. Vietnam, keine Atombombe. Mein Freund Mahmud und ich wissen schon, warum wir so schnell wie möglich die Bombe wollen. Nur so werden wir respektiert.“

„Aber die Welt wird noch unsicherer durch deine Atombomben. Vergiss nicht, dass du völlig durchgeknallt bist.“
„Ich würde mir lieber Sorgen machen um die zehntausend Atombomben in den Händen der anderen Durchgeknallten.“
„Du weißt, dass ich dir nicht zustimmen darf. Ich bin Demokrat.“
„Ich weiß.“
„Denn wer durchgeknallt ist, hat niemals Recht.“
„Ist das auf dem Foto da die sehr attraktive Person, die du am Sonntag besuchst?“
„Ja.“
„Sie ist wirklich sehr attraktiv. Da stimmst du mir doch zu, oder?“

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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