Wer die Zukunft der Geschlechterverhältnisse kennenlernen will, kann nach Norwegen blicken: Paritätisch geteilte Erziehungsarbeit ist dort ebenso Realität wie gute Kinderbetreuung, einer der niedrigsten Gender Pay Gaps und eine der höchsten Geburtenraten in Europa. Jetzt aber kommt’s: Die Zahl kinderloser Männer ist dort in knapp drei Jahrzehnten von 14 auf 23 Prozent gestiegen, die kinderloser Frauen von 10 auf 12 Prozent. Zugleich ist der Anteil von Vätern, die mehrere Kinder mit verschiedenen Frauen haben, gewachsen.
Willkommen in einer Welt, die sich auf dem Weg zurück zu einem basalen evolutionären Prinzip befindet, welches Männer vor 10.000 Jahren erfolgreich zu unterdrücken begonnen haben: der Female Choice. Im Untertitel des gleichnamigen Buches der Biologin Meike Stoverock klingt an, was das bedeutet, er kündet Vom Anfang und Ende der männlichen Zivilisation. Female Choice, das heißt: Frauen entscheiden, welche Männer Sex haben und sich fortpflanzen. Gängiges Procedere im von balzenden Männchen vollen Tierreich, ebenso unter Menschen – bis diese die Landwirtschaft entwickelten, sesshaft wurden, das Konzept von Besitz schufen. Damit begann die Verdrängung der Frauen in den privaten Haushalt, die Kontrolle weiblicher Sexualität und Reproduktion durch Männer, gestützt auf die Etablierung der Ehe, auf die krude Sexualmoral der monotheistischen Weltreligionen vom „Weib, dem Mann nicht trauen kann“, auf Abtreibungsverbot und unermesslich viel Gewalt. Das Patriarchat unterdrückte und mordete, um einem Zustand den Garaus zu machen, demnach sich etwa 70 Prozent der Frauen mit nur 35 Prozent der Männer fortpflanzten und derer restliche 65 Prozent zusehen mussten, wo sie blieben.
Die Frauenbewegung und die Pille haben das Ende des Patriarchats an den sichtbaren Horizont gemalt, die mörderische männliche Gewalt geht derweil nicht nur weiter – 69.000 einfache und 12.000 gefährliche Körperverletzungen, 29.000 Bedrohungen, 1.500 Freiheitsberaubungen und 301 Morde oder Totschläge allein 2019 in Deutschland, ohne Dunkelziffer. Vielmehr verbreitet sich eine der Spielarten männlicher Gewalt immer stärker – vom anti-feministischen Massenmörder Anders Breivik in Norwegen über den kalifornischen Amokläufer Elliot Rodger bis zum Attentäter von Halle, Stephan Balliet. Unfreiwillig oder freiwillig zölibatäre Hassmänner treten aus ihren dunklen Winkeln des Internets heraus, bedrohen Frauen sowie männliche Konkurrenten, verletzen und töten. Um dies zu beenden, werden Polizei und Geheimdienste nicht reichen.
Man muss selbst kein solcher zölibatärer „Incel“ sein, um die Wurzeln dieser Wut, die sich auch vermehrt im Wahlverhalten zeigt, verstehen zu lernen. Sie verstehen zu wollen, das heißt nicht einmal im Ansatz, diese Wut zu entschuldigen. Es heißt aber, nicht nur den zweiten Teil des folgenden Margaret-Atwood-Satzes ernst zu nehmen: „Männer haben Angst, von Frauen ausgelacht zu werden, Frauen davor, von Männern getötet zu werden.“
Mädchen machen heute bessere Schulabschlüsse als Jungen. Sogar Deutschland hat sich – wenngleich viel zu langsam – auf den Weg zu einer Frauenquote gemacht. Bei der Dating-App Tinder müssen Männer 150 der ihnen angezeigten Frauen-Profile mit „Gefällt mir“ markieren, bevor ein solches „Like“ auf sie entfällt. Das gerade von der Boeckler-Stiftung angezeigte – geringe und fragile – Abschmelzen des Gender Pay Gap hierzulande liegt darin begründet, „dass in der ersten Welle der Pandemie mehr Männer als Frauen arbeitslos geworden sind und in Kurzarbeit arbeiten mussten“. Die Pandemie führt die existenzielle und wachsende Bedeutung der noch vor allem von Frauen erledigten Arbeit „am Menschen“, etwa in der Pflege, vor Augen. Derweil sind männerdominierte Industriebranchen im Umbruch, wenn nicht vor dem Aus. All das sind Bilder aus einer Welt, die Abschied nimmt vom Patriarchat, und die deswegen für die allermeisten Männer schmerzvoll ist.
So gut Männer diesen Schmerz unter T-Shirts mit dem Aufdruck „Feminist“ oder hinter Lobgesängen auf Frauenquoten verstecken: in fast jedem Mann pocht er, meist lange sehr, sehr unbewusst, beim einen leiser, beim anderen lauter. Am lautesten bei jenen „Incels“, die den männlichen Machtverlust nicht nur benennen, sondern erkennen, was er bedeutet: dass Frauen, die sich befreien, zum evolutionären Prinzip der Female Choice zurückkehren, die wenigen – in welcher Bedeutung auch immer – attraktivsten Männer auswählen, und dass in logischer Folge viele Männer ohne Partnerin bleiben werden. Siehe Norwegen.
Ja, all das hat viel mit Biologie zu tun, mit – böses Wort! – „Trieben“, aber Erstere zu verleugnen und Letztere allein in die individuelle Verantwortung zu übertragen, ist nicht hilfreich. Offenere Beziehungsmodelle abseits der Ehe können es hingegen sein, faire Pornografie und Prostitution, digitale Sexpuppen, auch Therapie. In erster Linie müssen sich Männer mit ihren Rollen in einer neuen Welt befassen, den Bedarf an politischer Rahmensetzung löscht das aber nicht aus. Die kann ja einigermaßen asexuell bei Arbeit und Familie beginnen: Warum nicht etwa einen Teil des Kurzarbeitergeldes als Elterngeld auszahlbar machen, um mehr Männer für die Erziehungsarbeit zu gewinnen und so für die Arbeit „am Menschen“ überhaupt zu begeistern? Dem ein oder anderen könnte das helfen, seinen Platz zu finden.
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