Über Leben oder Tod entscheiden

Corona Die Italienische Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin hat Empfehlungen veröffentlicht, die das brutale Ausmaß der Pandemie klar vor Augen führen
Das Corona-Virus
Das Corona-Virus

Foto: CDC/Getty Images

Schon im Titel dieses Dokuments kommt die Drastik der Lage zum Ausdruck: „Raccomandazioni di etica clinica per l'ammissione a trattamenti intensivi e per la loro sospensione, in condizioni eccezionaldi di squilibrio tra necessita e risorse disponibli“, heißt es im Italienischen: „Empfehlungen zur klinischen Ethik und für die Zulassung zur Intensivbehandlung beziehungsweise ihre Aussetzung unter den außergewöhnlichen Bedingungen des Ungleichgewichts zwischen Notwendigkeit und verfügbaren Ressourcen“.

Was dieses Dokument sagt: In Italien müssen Ärzte infolge der Überlastung des Gesundheitssystems durch den Coronavirus derzeit entscheiden, wer behandelt wird und wer nicht. Wen sie leben lassen können und wen sie sterben lassen müssen.

Veröffentlicht hat diese Empfehlungen die Italienische Gesellschaft für Anästhesie Reanimation und Intensivmedizin.

Die Kurve abflachen

Der Autor und Associate Professor of the Practice of International Affairs an der Johns Hopkins University, Yascha Mounk, hat Auszüge aus dem Italienischen ins Englische übersetzt und über die sozialen Medien verbreitet – „um den Menschen von Deutschland bis Amerika zu helfen, zu verstehen, was uns bevorsteht“. Bevorstehen kann – wenn es nicht gelingt, einen exponentiellen Anstieg der Ansteckungen zu verhindern und durch Befolgung der empfohlenen Verhaltensweisen und Maßnahmen deren Kurve abzuflachen und über die Zeit zu strecken.

Wir dokumentieren im Folgenden die Empfehlungen der Italienische Gesellschaft für Anästhesie Reanimation und Intensivmedizin im Deutschen, basierende auf der Übersetzung Yascha Mounks ins Englische:

„Möglicherweise ist es notwendig, Kriterien für den Zugang zur Intensivmedizin nicht nur auf der Grundlage dessen, was klinisch angemessen ist, festzulegen, sondern sich an den einvernehmlichsten Kriterien hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit und der angemessenen Zuteilung der begrenzten Gesundheitsressourcen zu orientieren.“

„Dieses Szenario ist im Wesentlichen vergleichbar mit dem Bereich der 'Katastrophenmedizin', für den die ethische Reflexion im Laufe der Zeit viele konkrete Richtlinien für Ärzte und Krankenschwestern festgelegt hat, die vor schwierigen Entscheidungen stehen.“

„Angesichts des gravierenden Mangels an medizinischen Ressourcen müssen die Zuweisungskriterien gewährleisten, dass die Patienten mit den höchsten Chancen auf therapeutischen Erfolg Zugang zu Intensivmedizin erhalten. Es geht darum, 'die höchste Hoffnung auf Leben und Überleben' in den Vordergrund zu stellen.“

Vier Empfehlungen

1.

Die außerordentlichen Kriterien für die Aufnahme und die Entlassung sind flexibel und können je nach lokaler Verfügbarkeit von Ressourcen angepasst werden. Diese Kriterien gelten für alle Patienten auf der Intensivstation, nicht nur für diejenigen, die mit CoVid-19 infiziert sind.

2.

Die Zuteilung ist eine sehr komplexe und heikle Entscheidung. […] Der vorhersehbare Anstieg der Sterblichkeit bei klinischen Erkrankungen, die nicht mit der aktuellen Epidemie in Verbindung stehen, aufgrund der Verringerung der chirurgischen Aktivität und der Knappheit der Ressourcen muss berücksichtigt werden.

3.

Es könnte notwendig werden, eine Altersgrenze für den Zugang zur Intensivpflege festzulegen. Dies ist kein Werturteil, sondern eine Möglichkeit, extrem knappe Ressourcen für diejenigen bereitzustellen, die die höchste Überlebenswahrscheinlichkeit haben und die größte Anzahl von geretteten Lebensjahren genießen könnten. Dabei gilt das Prinzip der Nutzenmaximierung für die größte Zahl von Menschen. Im Falle einer völligen Erschöpfung der Ressourcen würde die Beibehaltung des Kriteriums 'wer zuerst kommt, malt zuerst' auf eine Entscheidung hinauslaufen, spät ankommende Patienten vom Zugang zu Intensivpflege auszuschließen.

4.

Neben dem Alter muss auch das Vorhandensein von Begleiterkrankungen sorgfältig bewertet werden. Es ist denkbar, dass eine möglicherweise relativ kurze Behandlungsdauer bei gesünderen Menschen länger und ressourcenintensiver sein könnte, wenn es sich um ältere oder empfindlichere Patienten handelt."

„Bei Patienten, bei denen der Zugang zur Intensivpflege als unangemessen beurteilt wird, muss die Entscheidung, eine Obergrenze für die Pflege festzulegen, erklärt, kommuniziert und dokumentiert werden.“

Auch der Bundestags-Abgeordnete der LInkspartei, Fabio De Masi, hat eine Übersetzung ins Deutsche via Twitter zugänglich gemacht.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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