Werdet endlich vernünftig

Helmpflicht! 2019 war fast jeder siebte Tote und jeder vierte Verletzte im Straßenverkehr ein Radler
Ausgabe 05/2021

Zu Weihnachten habe ich einen neuen Radhelm bekommen; wenn ich ihn zur Hand nehme, die glatte, matt-schwarze Oberfläche betaste und seine schützende Härte spüre, dann steigt meine Vorfreude auf die gesunde, schnelle und sicherere Fahrt, die vor mir liegt.

Seit bald einem Jahr gilt die Pflicht zum Tragen eines Mund-und-Nasen-Schutzes, was weithin befolgt wird, um die Gefahr einer Corona-Ansteckung zu mindern. Dem Gebot der viralen Prävention ist es auch zu verdanken, dass zu Silvester vielerorts erstmals Einschränkungen für Feuerwerke galten, was auch die direkte Opferzahl dieses Selbstverstümmelungskults gesenkt haben dürfte. Bis hierzulande ähnliche Vernunft einzieht, was die Prävention schwerer Kopfverletzungen bei Fahrradfahrern angeht, und endlich die Pflicht zum Tragen eines Helms gilt, dürfte es aber ein weiter Weg sein.

Denn noch rechnet etwa der Leiter der Unfallforschung der Versicherer vor, dass sich 100 von 400 tödlichen Radunfällen und viele Verletzungen mit Helm verhindern ließen, verteidigt zugleich aber die „Freiheit des Individuums“ gegen eine Pflicht. Der Präsident des Deutschen Verkehrsgerichtstags pflichtet bei: „Wir erlauben jedem, sich selbst zu gefährden.“ Die beiden sind bei Tempolimit-Gegner und Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt sicher schon als Gastkommentatoren vorgemerkt, sollte es mit der Helmpflicht eines Tages ernst werden.

Dabei ist ja nicht einmal die Poschardt-Klientel der rücksichtslosen Autofahrer primärer Anlass für ein staatliches Helm-Gebot – es gilt, Radfahrer vor allem vor sich selbst zu schützen: Jeden sechsten der 355.084 Fahrfehler, die 2019 im Straßenverkehr zu einem Unfall mit Personenschaden führten, beging ein Radler. Der Drahtesel-Boom in den Städten spült viele Ungeübte und sich selbst Überschätzende auf die Straßen. Insgesamt war 2019 jeder vierte Verkehrsverletzte und fast jeder siebte Verkehrstote ein Radler.

Dies sind die Kollateralschäden einer jahrelangen Dominanz vulgärliberaler Parolen und des Rückzugs des Staates aus der Verantwortung. Während Helmpflichtgegner mit ihren Sirenengesängen von individueller Entmündigung und staatlicher Regulierungswut an die Hysterie vor Einführung der Gurtpflicht erinnern (Spiegel-Titel 1975: „Gefesselt ans Auto“), sterben Jahr für Jahr Kinder ohne Helm auf dem Kopf, weil in Deutschland nicht einmal für sie eine Tragepflicht gilt. Die am häufigsten an Radunfällen beteiligte Altersgruppe ist die der Unter-15-Jährigen; und wenn diese Altersgruppe auf der Straße verunglückt, dann am häufigsten auf dem Rad.

Eine Unfallärztin, täglich mit äußerlich und innerlich blutenden Radlerköpfen, Gehirnerschütterungen und Schädel-Hirn-Traumata konfrontiert, sagt auf der Verkehrssicherheitsseite runtervomgas.de: „Ich verstehe nicht, warum Menschen die Gefahren so ausblenden. Bei jedem zweiten getöteten Radfahrer sind Kopfverletzungen die Ursache. Mit einem Helm kann ich das Risiko extrem minimieren. Und es muss ja nicht immer der Tod sein.“

In fünf Jahren ist der Anteil der Radler mit Helm von 12 auf 20 Prozent gestiegen. Viel zu wenig. Es braucht eine Pflicht. Halten sich Kinder nicht an diese, nehmen sie an Verkehrssicherheitsseminaren teil, samt der Eltern, die zugleich empfindliche Bußgelder treffen. Für Erwachsene bleibt das helmfreie Fahren vorerst sanktionsbefreit – der Staat macht klare Vorgaben, ohne zu strafen. So lässt sich das einzig stichhaltige Argument der Pflichtgegner entkräften: In einer so lange schon auf die Mär von privater Selbstverantwortung getrimmten Gesellschaft würde eine baldige, strenge Helmpflicht zu viele davon abhalten, vom Auto auf das Rad umzusteigen. Die Helm-Anschaffungskosten sind selbstverständlich in die Hartz-IV-Sätze zu integrieren und vom Staat zu tragen.

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Lesen Sie hier das Contra-Argument von Nik Afanasjew zu diesem Artikel

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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