Ein ganz eigenartiger Frühling

Rezension Prag 1968 bot eine Chance zur Erneuerung eines humanen Sozialismus. Die sowjetischen Panzer zerstörten diesen unwiederbringlichen Moment der Geschichte

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Prag im Jahr 1968
Prag im Jahr 1968

Foto: AFP/Getty Images

Unter der Chiffre «1968» verbirgt sich weit mehr als eine Revolte der westlichen Jugend. Es war so etwas wie ein Schicksalsjahr, dessen Ausgang den weiteren Verlauf der Geschichte bis heute entscheidend bestimmt hat. Das zeigt das Beispiel der Tschechoslowakei: Wäre es dort gelungen, den im Frühjahr 1968 propagierten und ansatzweise auch gelebten «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» auf Dauer politisch und gesellschaftlich zu verankern, dann sähe unser Kontinent, ich behaupte sogar: die ganze Welt, heute ziemlich anders aus!

In der aktuellen Erinnerungskultur der Tschechischen Republik und der Slowakei, aber auch in den Reminiszenzen an 1968 nimmt der Prager Frühling nur eine randständige Rolle ein. Hierzulande sprechen wir bestenfalls vom Aufbrechen verkrusteter Strukturen, dem antiautoritären Impuls von aufmüpfigen jungen Menschen. Dass in diesem Jahr auch der Versuch gestartet worden war, mit breiter Unterstützung aus dem Volk eine ganze Gesellschaft zu erneuern – davon ist kaum noch die Rede. Der gegenwärtig vorherrschende Diskurs in Prag und Bratislava nimmt die Ereignisse von 1968 als blossen Streit zwischen Strömungen der verhassten Kommunistischen Partei wahr. Es gibt in beiden Ländern offenbar keine politische Kraft, die sich positiv auf den 68er-Reformkommunismus beziehen möchte. Im westlichen Europa sieht es nicht viel anders aus.

Rehabilitation und Reform

Umso verdienstvoller ist es, dass Martin Schulze Wessel – als Osteuropa-Historiker ein ausgewiesener Experte – einen Band vorlegt, in dem Vorgeschichte, Verlauf und Vergänglichkeit des Prager Frühlings sehr verständlich dargestellt und analysiert werden. Dabei beleuchtet der Autor auch in der interessierten Öffentlichkeit kaum bekannte Seiten der Entwicklung. Das betrifft beispielsweise die Rolle der Demoskopie.

Der Reformprozess in der Tschechoslowakei hatte seine Vorgeschichte. Diese bestand im zunächst sehr vorsichtigen Versuch, die (post-)stalinistische Repression der Fünfzigerjahre aufzuarbeiten. Als einziger kommunistischer Partei im östlichen Europa war es der KP der Tschechoslowakei gelungen, nach 1945 in relativ freien Wahlen als stärkste Kraft hervorzugehen. Sie schien von allen politischen Parteien am wenigsten korrumpiert zu sein. Dieser Kredit wurde durch die von der sowjetischen Führung aufgezwungenen Schauprozesse gegen vermeintliche Partei- und Staatsfeinde verspielt. Die Rehabilitation der Justizopfer ging nur ganz allmählich vonstatten. So blieb gerade 1968 die Bewältigung der dunklen Vergangenheit ein «Katalysator des Wandels», wie Schulze Wessel schreibt.

Kafka und der «dritte Weg»

Im Vorfeld des Prager Frühlings fand auch eine intensive Auseinandersetzung mit der modernen Zivilisation statt, die sowohl in ihrer kapitalistischen wie in ihrer real-sozialistischen Variante eine starke Tendenz zur Entmenschlichung aufweist. Der Marx’sche Begriff der «Entfremdung» erhielt so eine neue Bedeutung. Der Germanist Eduard Goldstücker (1913–2000) trug anlässlich einer berühmt gewordenen Kafka-Konferenz 1963 wesentlich zu dieser neuen Sicht bei: Mit Kafka konnte die Bürokratisierung einer angeblich sozialistischen Gesellschaft angeprangert werden. Das prägte auch den Ökonomen Ota Šik (1919–2004), der eine Blaupause für die notwendigen Reformen der tschechoslowakischen Wirtschaft lieferte. Ihr Kern bestand darin, die bisherige Planwirtschaft durch die Einführung von Marktmechanismen umzugestalten. Das ist es, was eine Zeit lang als «dritter Weg» bezeichnet wurde.

Weitere Reformkonzepte, die bereits am Vorabend des Prager Frühlings entstanden waren, stammten beispielsweise vom Juristen Zdeněk Mlynář (1930–1997). Er forderte ein «pluralistisches Konzept der sozialistischen Demokratie». Das politische Monopol der KP solle gebrochen werden und die Unterordnung der staatlichen Institutionen unter die Parteiorgane sei zu beenden. Solche Ideen mussten die Machthaber auf dem vermeintlich sozialistischen Weg, unter ihnen den KP-Vorsitzenden Antonín Novotný (1904–1975), aufs Äusserste alarmieren. Bei seinem Sturz im Januar 1968 sah es zunächst mehr nach einer Wachablösung als nach einem Richtungswechsel aus. Aus seinem Nachfolger, dem Slowaken Alexander Dubček (1921–1992), wurde dann allerdings der Repräsentant einer ganz neuen Politik.

Ein schwerer Schlag

Ein erstes Zeichen dieses anderen Umgangs mit den Fragen und Problemen des Gemeinwesens zeigte sich Anfang März 1968 mit der Abschaffung der Zensur. Martin Schulze Wessel hält fest: «Die explosionsartige Entfaltung von Öffentlichkeit schuf ganz neue Bedingungen für die Politik.» Vor allem die Printmedien prägten den Prager Frühling. In den grossen Städten entwickelte sich zudem ein neues Phänomen: «Massenversammlungen, in denen Politiker dem Volk Rede und Antwort standen.» Umfragen ergaben, dass im April 1968 zwei Drittel der Bürger und Bürgerinnen der Tschechoslowakei glaubten, der Wandel werde dauerhaft sein. In diesem Zusammenhang betont der Autor, dass die tschechoslowakische Demoskopie jener Zeit sich auf einem hohen wissenschaftlichen Standard befunden habe. Kein Wunder, dass das Prager «Institut für die Erforschung der öffentlichen Meinung» gleich nach der Okkupation geschlossen wurde.

Wir wissen: Die Geschichte ging nicht gut aus. Das Unbehagen der Sowjetführung und insbesondere auch ihrer Vasallen in Warschau und Ostberlin wuchs in jenen Frühlings- und Sommerwochen von Tag zu Tag. Dubček und seine Leute versuchten, die Reformen zu vertiefen und zugleich die Verbündeten zu beruhigen. Die liessen sich allerdings nicht aufhalten und setzten ihr Militär ein, um den Prager Frühling im August 1968 gewaltsam zu beenden. Das war auch ein schwerer Schlag gegen all jene, die an eine Erneuerung des Sozialismus geglaubt hatten. Von ihm haben wir uns auch 50 Jahre danach noch nicht richtig erholt.

Martin Schulze Wessel: Der Prager Frühling. Aufbruch in eine neue Welt. Ditzingen: Verlag Philipp Reclam Jun. 2018, 323 Seiten

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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