Aufbegehren für eine bessere Zukunft

Rezension Wir leben in einer Zeit multipler Krisen. Klimakatastrophe, neue Krankheiten wie Covid-19, Krieg in der Ukraine – alles spielt zusammen, aber lässt sich nur schwer auf einen Nenner bringen. Wie bleiben wir in dieser Lage handlungsfähig?

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Von einer «Zeitenwende» hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz gesprochen, nur wenige Tage nach dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine. Der Krieg am Rande Europas zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, zumindest in der westlichen Welt. Aufrüstung und Wirtschaftssanktionen sollen die Antwort sein auf den brutalen Bruch des Völkerrechts durch Russland. Dabei zeichnet jetzt ab, dass auch der Westen schwerwiegende ökonomische und soziale Folgen eines Wirtschaftskrieges gegen den Aggressor tragen muss. Die Gefahr ist gross, dass besonders die Menschen mit geringen Einkommen darunter zu leiden haben.

Der Krieg und dessen Auswirkungen scheinen gegenwärtig die Wahrnehmung anderer Krisen zu trüben. So ist der durch die Sanktionen erzwungene Abschied von russischem Gas und Öl gewiss sinnvoll. Wenn diese aber durch andere fossile Energieträger wie das durch Fracking gewonnene Gas ersetzt werden sollen, tritt – bildlich gesprochen – an die Stelle des Teufels lediglich der Beelzebub. Solche vermeintlichen Notlösungen reagieren auf aktuelle Probleme und schaffen zugleich in der näheren Zukunft noch grössere Probleme.

Kein Aufstand in Sicht

So stellt sich also immer drängender die Frage, was getan werden soll, um passende Antworten auf die Mehrfachkrisen unserer Zeit zu finden. So viel ist schon klar: Das kann nur das Ergebnis kollektiver Suchprozesse sein. Doch mit der Kollektivität hapert es heute gewaltig. Da mögen, wie im französischen Herbst 2018, Hunderttausende «Gelbwesten» aus den Peripherien des Landes die Strassenkreuzungen besetzen, um auf das Schicksal der Abgehängten in der Provinz aufmerksam zu machen. Und was geschieht? Das politische Zentrum schickt die Polizei und macht leere Versprechungen – doch den Protestierenden gelingt es nicht, aus dieser Bewegung eine gesellschaftliche Kraft zu formen, die tatsächlich etwas bewegen könnte. In Deutschland versuchten einige, unter ihnen die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht, aus den französischen Fehlern zu lernen. Sie glaubten, eine Widerstandsbewegung des Prekariats von oben herab organisieren zu können. Diese trug den Namen «Aufstehen», doch zu einem Aufstand kam es ganz augenscheinlich nicht.

Eine kleine Gruppe von vorwiegend älteren Intellektuellen, die sich am Projekt beteiligt hatten, initiierte nach dessen Scheitern eine Debatte, die sich vor allem an die Jüngeren richten und einen Neubeginn generationenübergreifender sozialer Bewegungen ermöglichen sollte. Einige Beiträge dieser Debatte sind jetzt in einer Flugschrift zugänglich gemacht worden, die im Frühjahr erschienen ist. Das Manuskript des Buches war bereits abgeschlossen, als russische Truppen am 24. Februar die Ukraine angriffen. In einem «Geleitwort» gehen die Herausgeber*innen auf die neue Situation ein: Putins Krieg habe keine reale Begründung und sei «ein zynisches Spiel mit dem Weltfrieden». Er gefährde nicht nur die Ukraine und Europa, sondern verdüstere auch «die Zukunft seines eigenen Volkes». Jetzt komme es darauf an, dass «die Waffen sofort schweigen».

Freiheit contra Gleichheit?

Die Waffen, sie schweigen noch lange nicht, und der Ausgang des Krieges ist ungewiss. Die Herausgeber*innen des Buches glauben, nach dem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen müssten wieder «Wege gefunden werden», um gemeinsame Lösungen für die zentralen Fragen unserer Zeit zu entwickeln. Gegenwärtig sieht es eher nach einer neuen globalen Blockbildung und verschärfter Konkurrenz aus: Hier die «Demokratien», dort die «autokratischen Herrscher». Es gibt allerdings gute Gründe, diese Zweiteilung der Welt in Zweifel zu ziehen. Antje Vollmer, einst eine prominente Vertreterin der deutschen Grünen, weist in der Flugschrift darauf hin, dass «ein autoritär geführtes Land wie die VR China» manche Daseinsprobleme, beispielsweise die Bekämpfung der absoluten Armut, wesentlich besser zu bewältigen scheine als der hoch gelobte Westen. Ralf Fücks, auch er in den vergangenen Jahrzehnten eine bekannte Führungsperson der Grünen, gibt in seinem Debattenbeitrag zu, in den Demokratien des Westens sei seit dem Sieg im Kalten Krieg vor 30 Jahren «vieles aus dem Ruder gelaufen». Zugleich scheint er vollkommen davon überzeugt zu sein, dass «die Idee der Freiheit» ihre «Anziehungskraft» keineswegs verloren habe.

Der Philosoph Michael Brie vermutet hinter einer solchen Aussage westliche «Hybris» – die Selbstüberschätzung der eigenen Stellung in der Welt. Er zitiert den Schriftsteller Thomas Mann, der nach der Machtübernahme der Nazis 1933 erkannt habe, dass Freiheit und Gleichheit «ein neues Gleichgewicht» finden müssten. Manns «Epochenerfahrung» sei in der Erkenntnis gemündet: Wenn die Freiheit sich nicht mit der Gleichheit verbünde, bereite sie den Feinden der Freiheit den Boden. Eine andere Epochenerfahrung – jene des Stalinismus – sollte gleichfalls nicht in Vergessenheit geraten: «Auch die Gleichheit kann nicht ohne Freiheit zukunftsfähig sein, sonst mündet sie in Verbrechen und Stagnation», so Brie, der Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist.

Existenzielle Fragen

Nach dem russischen Völkerrechtsbruch und den ihm folgenden Aufrüstungsmassnahmen der NATO- und EU-Staaten verdüstern sich die Aussichten für eine zukunftsfähige Politik, die an den existenziellen Fragen der Menschheit orientiert ist: das Abwenden einer globalen Klimakatastrophe, das Überwinden materieller Not und das Ermöglichen eines friedlichen Zusammenlebens. Trotz alledem darf nicht in Vergessenheit geraten, dass die Forderung nicht nur der Klimajugend nach einem «system change», einem grundlegenden Systemwechsel, notwendig bleibt. Die vorliegende Flugschrift erinnert daran, dass es auf unser Handeln ankommt und wir die Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft nicht in die Hände mehr oder weniger wohlmeinender Eliten legen dürfen.

Antje Vollmer u.a.: Neubeginn. Aufbegehren gegen Krise und Krieg, VSA Hamburg 2022, 126 Seiten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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