Befreiung aus dem Opferkult

Rezension Die scheinbar so glänzend daherkommende Gegenwart wird begleitet von einem mörderischen Schatten. Dies aufzudecken, stand im Zentrum des Werks von Ingeborg Bachmann.

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Vor 50 Jahren, am 17. Oktober 1973, starb Ingeborg Bachmann an den Folgen schwerer Brandverletzungen. Sie gilt als eine der Protagonistinnen modernen feministischen Schreibens. Weil ihr Tod in einem ursächlichen Zusammenhang mit der unglücklich verlaufenen Beziehung zu Max Frisch gesehen werden muss, sind Bachmanns Schriften oft als Ausdruck der Unmöglichkeit glückender Verbindung zwischen Mann und Frau verstanden worden. Bekanntlich nährt sich aus diesem Geschlechterdurcheinander ein Großteil heutiger Beziehungsliteratur.

Das Werk der Schriftstellerin weist aber weit darüber hinaus. In Bachmanns Arbeiten, insbesondere im einzigen zu ihren Lebzeiten veröffentlichten Roman, Malina, komme der «Widerspruch eines weiblichen Ich» gegen eine «destruktive Moderne» zum Ausdruck, schrieb die Germanistin Gudrun Kohn-Waechter in ihrer Dissertation. Das Patriarchat offenbare sich nicht nur in der unmittelbaren Mann-Frau-Beziehung, sondern trete insbesondere in der «Infrastruktur der vorhandenen Gesellschaft» in Erscheinung. Es genüge also nicht, nur das Private zu erfassen. So ist in der von Michael Jäger verfassten Einleitung eines Buches mit Aufsätzen der 2013 Verstorbenen zu lesen. Jäger arbeitet als Publizist und war langjähriger Lebensgefährte von Gudrun Kohn-Waechter.

Faszination des Opfers

Das System des Kapitalismus ermöglicht eine gewaltige Entfesselung von Produktivkräften, doch diese Entwicklung wird von ebenso ungeheuren Destruktivkräften begleitet, die in der politischen Sphäre als Kolonialismus, Imperialismus, Faschismus – und leider auch Stalinismus – Gestalt angenommen haben. Wie wirken diese Kräfte bis in die Individuen hinein und lassen sie selbst am Werk der Zerstörung teilhaben? Gudrun Kohn-Waechter arbeitet heraus, wie Frauen und Männer sich vom gewaltgeprägten Handeln von Tätern begeistern lassen – einem Handeln, das gegen ihre eigenen Lebensinteressen gerichtet ist und sie zu Opfern macht. So werden sie Teil eines «Opferkults» und erleben das Opfern als «Faszinosum». Beispiele dafür liefern die Nazi-Bewegung einst in Deutschland und rechtspopulistische Formationen heute weltweit. Die Schlussfolgerung von Kohn-Waechter lautet: Das Opfer müsse sich nicht bloß von der Gewalt des «Opferers» befreien, sondern zuerst von der Faszination, «wenn es der Opferung entkommen will». Sie fragt «nach einer Politik gegen das Opfern», der es gelingt, die eigenen Verwicklungen zu analysieren, «das heißt aufzulösen versucht».

«Auf das Opfer darf keiner sich berufen. Es ist Missbrauch. Kein Land und keine Gruppe, keine Idee, darf sich auf ihre Toten berufen», schreibt Ingeborg Bachmann. Deshalb dürfe es keine Opfer geben, «weil der geopferte Mensch nichts ergibt». Als wichtiges Element eines Denkens, «das zum Sterben» führt, benenne Bachmann den «Versuch, Leiden und Unterwerfung den mythischen Sinn eines Opfers zu verleihen», formuliert Kohn-Waechter. Sie habe den Opferdiskurs jedoch nicht «‹von außen›» kritisiert, «sondern seine innere Brüchigkeit und selbstzerstörerische Dynamik aus der Perspektive derjenigen analysiert, die sich in ihm bewegen».

Die Erde verlassen?

Die Auseinandersetzung mit der «destruktiven Moderne» hat die Autorin des hier vorgestellten Buches weit über die Arbeiten von Ingeborg Bachmann hinausgeführt – aber immer im Blick auf die Krise des Geschlechterverhältnisses, welche die Schriftstellerin in ihren Texten zu reflektieren versuchte. Diese Krise kommt auch in zentralen Technik- sowie künstlerischen Diskursen der Neuzeit zum Ausdruck. So gingen die Futuristen des frühen 20. Jahrhunderts davon aus, dass der Mensch «Mutter Erde» entkommen und sich zur unsterblichen Mensch-Maschine weiterentwickeln müsse. Gudrun Kohn-Waechter schreibt: «Die futuristische Kunst ist der Versuch, Frau und Tod, das Andere, zu vernichten und durch das Gleiche zu ersetzen, durch Frau = Mann, Tod = Leben.» Zu ergänzen wäre: Die Träume der heutigen Transhumanisten laufen genau auf diesen Versuch hinaus.

Ähnliche Tendenzen wie bei den Futuristen entdeckt Gudrun Kohn-Waechter in den Arbeiten von wichtigen Künstlern des 20. Jahrhunderts. Die Vorstellung vom Verlassen der Erde findet sich sowohl beim Komponisten Arnold Schönberg als auch beim Schriftsteller Thomas Mann, der sonst gegen alles Faschistische gefeit schien. Das «Vorvernünftige» war für Mann mit Begriffen wie «Erde, Volk, Blut, Vergangenheit und Tod» verbunden. Wie wir jetzt wissen, kann der Kampf um die Vernunft aber leicht umschlagen in die Zerstörung dessen, was menschliche Existenz eigentlich ausmacht.

Das Resümee von Gudrun Kohn-Waechter lautet: Das dichterische Werk von Ingeborg Bachmann kommt als Flaschenpost zu uns und will entschlüsselt werden. Es geht darin um die Hoffnung auf eine humane Rationalität jenseits der destruktiven Moderne.

Gudrun Kohn-Wächter: Dichtung als Flaschenpost. Destruktive Moderne bei Ingeborg Bachmann und Paul Celan, Thomas Mann und Arnold Schönberg. Aufsätze 1985–2000. KANN Verlag Frankfurt/M. 2022, 320 Seiten

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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