Die Pandemie - ein Weckruf?

Rezension Der Krieg in der Ukraine fordert gegenwärtig alle Aufmerksamkeit. Dabei kann rasch in Vergessenheit geraten, was wir in den vergangenen zwei Jahren erlebt haben. Was macht eine Krise mit Menschen - und was machen Menschen daraus?

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Viele Menschen wünschen sich, es möge wieder alles so «normal» werden wie zuvor – vor der Zeit der Pandemie. Vor Beginn des
Krieges, den die russische Führung unter Präsident Putin gegen die Ukraine entfesselt hat, sah es kurz so aus, als seien wir gerade auf dem besten Weg dahin: Ich schreibe aus der Schweiz, wo die meisten Massnahmen zum Schutz vor dem Virus und zur Einschränkung seiner Verbreitung aufgehoben worden sind. In der Eidgenossenschaft stand eine Zero-Covid-Strategie nie ernsthaft zur Debatte. Die deutlich mehr als zwölftausend an und mit Covid-19 Verstorbenen sowie die unzähligen an Long-Covid Erkrankten gelten vermutlich als Kollateralschäden einer mehrheitlich als «erfolgreich» verstandenen Politik.

Der Blick müsse jetzt nach vorne gerichtet werden: So scheint die Stimmung im Lande zu lauten. Da stören Bilanzen zu den Ereignissen der letzten Monate doch nur – vor allem dann, wenn sie sich kritisch mit dem Vergangenen auseinandersetzen und die Frage aufwerfen, was denn diese Geschichte für uns bedeuten könnte. Samuel Geiser und Alexander Egger haben es zum zweiten Mal gewagt, ein «Journal in Zeiten von Corona» vorzulegen, um die laufenden Ereignisse zu dokumentieren und zu reflektieren. Beide leben in Bern: Egger als Fotograf, Geiser als Journalist. Und so gehen sie vom Geschehen in der Bundeshauptstadt aus. Die Perspektive ihrer Betrachtungen bleibt aber nicht auf Bern beschränkt, denn Bern könnte (fast) überall sein.

Vorsicht: Sprengstoff!

Im ersten Journal über die Frühjahrs- und Sommermonate des Jahres 2020 stellte Samuel Geiser die Frage, wie wir als Menschen «nach der Krise» sein würden: «Mutiger, solidarischer, wissender? Oder ängstlicher, egoistischer, komplexitätsscheuer?» In der Zeit, die das zweite Journal umfasst, also zwischen Spätherbst 2020 und Frühsommer 2021, haben sich äusserst divergierende Antworten abgezeichnet. Da war die Krise noch keineswegs vorbei, sondern steuerte gerade in der beginnenden Herbst- und Winterkälte auf einen Höhepunkt zu. Die statistisch belegte Übersterblichkeit bei den älteren Menschen werde «ohne Wimpernzucken» in Kauf genommen, notiert Geiser am 24. November. Die Corona-Leugner halten das vielleicht sogar für wünschenswert. Und die anderen setzen auf «Eigenverantwortung».

Am 7. Januar zitiert Geiser den Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt: «Man darf nie aufhören, sich die Welt vorzustellen, wie sie am vernünftigsten wäre.» Aufgepasst: In einer solchen Vernunft könnte Sprengstoff stecken. Was wäre denn, wenn viele Menschen erkennen würden, dass sich das System bremsen lässt, ohne dass es gleich in sich zusammenkracht? Wenige Tage später: «Gegroundete Flugzeuge, geschlossene Läden, leere Stadien. Starke Bilder, die Fantasien wecken. Warum nicht die gleiche Übung für Klima- und Umweltschutz? Ja, ein Wirtschaftsstopp hat schlimme soziale und psychische Folgen. Aber hat das Vernichten der Basis aller Ökonomie nicht viel schlimmere», fragt der Autor.

Zur Kenntlichkeit entstellt

Die einen, wie «B., ein Nachbar», wollen wissen: «Wenn einer an dieser Krankheit leidet, warum müssen dann alle andern auch mitleiden?», und halten die Schutzmassnahmen für «eine Schweinerei, das ist Faschismus». Die anderen, wie «Marie-Louise, eine Freundin», können nicht verstehen, «wie jemand so leichtsinnig daherplappern kann. Ich verabscheue solches Gerede.» Samuel Geiser kommentiert: «Der Coronaleugner ist der Hyperindividualist unter Individualisten. Er treibt auf die Spitze, was er zünftig gelernt hat – die Grundlektion der freien Marktwirtschaft: jeder für sich und alle gegen alle.» Das gesellschaftliche System – unter den Bedingungen der Pandemie entstellt bis zur Kenntlichkeit?

Doch es gibt auch Zeichen der Hoffnung. Der Autor berichtet am 26. Februar von einer Frau, die seit Corona-Beginn Tagebuch führt. Das Notizheft trägt den Titel: «Begegnungen in der Stadt». Geiser zitiert daraus: «Ich bin offener, empathischer geworden in diesem Jahr und merke, dass dies auch die Leute sind, die ich in der Stadt antreffe. Das will ich festhalten.» Menschen nehmen sich den öffentlichen Raum, wie die Frau und der Mann, «die am Abend auf dem Casinoplatz in Bern ihr Boxtraining durchführen». Der Berichterstatter schreibt am 10. März: «Sie erregen Aufsehen, stören aber nicht, nehmen niemand was weg. Im Gegenteil. Sie schenken Fantasien, was alles hier auch noch Platz haben könnte.»

Ohne Druck kommt nichts voran

Das Buch von Samuel Geiser und Alexander Egger ist nicht nur ein schriftliches und fotografisches Protokoll der Corona-Zeit. Im zweiten Teil öffnet es den Blick für das, was kommt – oder kommen könnte. 25 Menschen sind eingeladen worden, ihre Erfahrungen zu schildern und ihre Ansichten zu äussern. Jeder Text ist mit einem Bild der interviewten Person verbunden: Männer und Frauen, Junge und Alte, Berner*innen und andere, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Zum Beispiel die Pflegefachfrau Laura Ramseyer, die auf den dringenden Handlungsbedarf in ihrem Berufsfeld hinweist. «Nach Corona erst recht. Aber ohne Druck von uns Pflegerinnen und Pflegern wird sich wohl kaum was zum Besseren wenden.»

Oder der emeritierte Kunstgeschichtsprofessor Beat Schneider. Er analysiert, die jahrhundertealte Hegemonie des Westens schwinde. China habe die Pandemie weit besser als Europa und die USA bewältigt. Und jetzt lanciere der Westen einen Kalten Krieg «gegen den missliebigen Konkurrenten». In dieser Situation bleibe die Linke weitgehend stumm und müsse nun endlich erwachen. «Aber leider habe ich meine Zweifel, ob Corona zum Weckruf wird.» Zum Dritten die Autorin und Musikerin Melinda Nadj Abonji, die im Dezember 2020 den Aufruf «Gegen die Gleichgültigkeit!» initiiert hatte. Sie sagt: «Wer in einer Gesundheitskrise Eigenverantwortung propagiert, sucht nicht den Dialog. Er will seine Verantwortung auf die Bevölkerung abschieben.»

Samuel Geiser, Alexander Egger: Sauerstoff. Corona – Was war. Was kommt. Bern (Sinwel Verlag) 2021, 244 Seiten

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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