Was tun in Zeiten des Krieges?

Rezension Der Krieg stellt viele Fragen – nach dem Verhältnis zwischen West und Ost, Nord und Süd, nach der Zukunft unseres Planeten. Zwei aktuelle Publikationen - eine aus der Schweiz, die andere aus Deutschland - versuchen Antworten zu geben.

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Es scheint wieder en vogue zu sein, den russischen Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin zu zitieren. Sogar der Co-Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, Cédric Wermuth, greift gelegentlich zum kommunistischen Klassiker. Deshalb soll hier an dessen Frage «Was tun?» erinnert werden. Das ist nicht nur der Titel einer 1902 erschienenen Schrift, die als eines von Lenins Hauptwerken gilt, sondern sie drückt auch ein erkenntnisleitendes Prinzip aus: Welche Praxis soll aus der Analyse einer konkreten Situation heraus entwickelt werden?

Im Buch aus jener Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging es um die Lage der russischen Arbeiter*innen und deren Formierung zu einer sich selbst und ihrer eigenen Möglichkeiten bewussten Klasse. Die konkrete Situation der Gegenwart: das ist das Zusammenspiel von Krisen und Kriegen. Deren Wechselwirkungen haben die jüngere Geschichte immer wieder aufs Neue geprägt. Nun treten sie aber mit einer Heftigkeit in Erscheinung, die vielen der heute Lebenden bislang unbekannt war.

Gerade für die westliche politische Linke stellt sich drängend die Frage, worum es in diesem Krieg eigentlich geht – und wie sie Partei ergreifen soll: an der Seite ihrer jeweiligen Regierungen zur Verteidigung der «Demokratie», als Partner Putins im Kampf gegen den «Faschismus» oder unabhängig von allen Mächten, auf scheinbar verlorenem Posten stehend?

Deutlich divergierende Perspektiven

Die rund um den Krieg in der Ukraine geführten Debatten politischer, ökonomischer, militärischer, kultureller und manchmal bloß ideologisch geprägter Natur sind vielfältig, in ihren Kernaussagen aber oft sehr einfältig. Sie lassen sich auf Ausdrücke eines Denkens in Gegensätzen reduzieren – mit anderen Worten: auf eine binäre Weltsicht, die mit «gut / böse», «schwarz / weiß» oder «Waffenlieferungen: ja oder nein?» argumentiert.

Zwei Publikationen sollen hier vorgestellt werden, die den Anspruch erheben, der komplexen Wirklichkeit eines Krieges gerecht zu werden. Eine davon, die neueste Ausgabe der schweizerischen Theoriezeitschrift Widerspruch, die den Untertitel «Beiträge zu sozialistischer Politik» trägt, ist von den Kontroversen um den Ukrainekrieg zutiefst geprägt. Im Editorial legt die Redaktion die Auseinandersetzungen offen: Weil ein Beitrag abgelehnt werden sollte, wollten zwei andere Autor*innen ihre Texte ebenfalls zurückziehen. Danach mussten die Redakteur*innen ihren Entscheid überdenken und so konnten die betreffenden Artikel doch noch erscheinen – denn der «Widerspruch» will «eine Plattform für ein breites Meinungsspektrum in der Linken sein».

Dieses Spektrum ist so breit, dass beim Lesen die Orientierung manchmal schwerfällt: Wie bringe ich die Perspektiven von «unten», von den vom Krieg unmittelbar Betroffenen, mit jenen von «oben» zusammen, durch die globale Zusammenhänge und Verstrickungen deutlich gemacht werden sollen? Auch wenn es so scheinen mag: Das Volk der Ukraine ist keine homogene Einheit. Zumindest vor dem russischen Angriff vom 24. Februar 2022 war dies nicht der Fall. So schreibt der heute im Exil in Los Angeles lebende ukrainische Medienschaffende Anatoli Uljanov über «Die überflüssigen Menschen aus der Ostukraine», die russischsprachigen Minderheiten in der ehemaligen Sowjetrepublik: Der russische Angriff schweiße die Gesellschaft zusammen, doch wenn der Krieg eines Tages beendet sei, würden sich die inneren Widersprüche verschärfen. Er prognostiziert, der Krieg werde zu einem «universellen Argument» geformt. Er werde dazu dienen, «jegliche Probleme in der Wirtschaft, jegliche Repression, Willkür zu rechtfertigen. Das Opfer ist immer im Recht. Das Opfer darf alles und ist für nichts verantwortlich.»

Gibt es ein Projekt der Subalternen?

Dieser letzte Satz könnte missverständlich sein. Tatsache ist doch, dass die Ukraine das Opfer einer russischen Aggression wurde. Sie beruft sich mit guten Gründen auf das in Artikel 51 der UN-Charta verankerte Recht zur militärischen Verteidigung. Gemäß den international verankerten Regeln können andere Staaten auch ohne explizites Mandat der Vereinten Nationen Beistand leisten. Dies tun die Mitglieder der Nato – dieses «Sonderbunds des reichen Nordwestens», wie der grüne Schweizer Politiker Jo Lang so treffend formuliert hat – in reichlichem Maß: mit Waffen, Munition, Ausbildung, Information und Koordination der Kriegshandlungen. Die ukrainische Linke habe damit kein Problem, meint Ivo Georgiev, Leiter des Länderbüros der Rosa Luxemburg Stiftung in Kiew. Sie wünschte sich, ihr Widerstand gegen die Invasion würde auch von der westlichen Linken als «legitim» anerkannt. Und sie hoffe, dass der Krieg zu Bedingungen beendet werde, «über die die ukrainische Gesellschaft selbst entscheidet».

Wer die Nachrichten aus Washington, London oder Berlin genau verfolgt, muss zum Schluss kommen, dass solche Hoffnungen ziemlich trügerisch sein könnten. Der Wille großer Teile des ukrainischen Volkes, sich mit Waffen zu wehren, scheint unbestritten. Die in Lausanne tätige ukrainische Historikerin Hanna Perekhoda nennt dies den «Widerstand der Subalternen» und warnt davor, den «russischen Krieg in der Ukraine ausschließlich aus einer ‹geopolitischen› Perspektive zu analysieren». Dies führe dazu, «den Standpunkt der herrschenden Klassen einzunehmen». Da stellt sich die Frage, was denn das Projekt der beherrschten Klassen wäre: erst die Invasoren zu vertreiben und dann die Waffen gegen die eigenen Oligarchen zu richten?

Möglicherweise eröffnen die verstärkten Kämpfe um Einflusssphären zwischen den verschiedenen Imperialismen, den westlichen und den östlichen, auch Räume für die sozialen Kämpfe der Unterdrückten. Darauf verweist der jetzt in Berlin lehrende ukrainische Soziologe Wolodymyr Ischtschenko in einem im vergangenen Jahr veröffentlichten Interview, das für den «Widerspruch» übersetzt wurde. Weil die Staaten vermehrt miteinander konkurrierten, müssten sie sich auch der Loyalität der subalternen Klassen und Nationen versichern. Somit würden soziale und politische Bedingungen «für verstärkte gegenhegemoniale Alternativen der subalternen Klassen» geschaffen. Er weist darauf hin, dass der Höhepunkt sozialer Revolutionen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg erreicht worden sei, und der Kampf um die Dekolonisierung Afrikas und Asiens sich nach dem Zweiten Weltkrieg intensiviert habe.

Krieg passt ins Konzept der Herrschenden

Manche Linken, auch im Westen, sehen den Widerstand der Ukraine in der Tradition des antifaschistischen Kampfes der Zwischenkriegszeit oder des antikolonialen Befreiungskampfes der Nachkriegsära. Dabei fällt aber die «konkrete Analyse einer konkreten Situation», wie sie Lenin einst gefordert hatte, leicht einem Wunschdenken zum Opfer. Weder ist Russland, dieser Scheinriese, vergleichbar mit Nazi-Deutschland und seinen verbündeten Achsenmächten Japan und Italien, noch lässt sich die Welt nach 1945, die von zwei Supermächten, den USA und der Sowjetunion, bestimmt wurde, mit der heutigen vergleichen. Inzwischen zeichnet sich so etwas wie eine multipolare Entwicklung ab, die eine neue globale Ordnung erfordert. Wer diese Entwicklung durchgängig als reaktionär charakterisiert, wie dies Hanna Perekhoda in ihrem Aufsatz tut (und vor ihr der bereits zitierte Cédric Wermuth), setzt ganz offenkundig auf die Fortsetzung der Herrschaft eines scheinbar wohlwollenden Hegemons, der Vereinigten Staaten.

Es stellt sich die Frage, ob mit einer Verlängerung des mörderischen Krieges in der Ukraine die Bedingungen für die Emanzipation des ukrainischen Volkes und damit auch jeden anderen Volkes verbessert werden. Ist es nicht eher so, dass dieser Krieg den Herrschenden bestens ins Konzept passt? Den Kreml-Herren sowieso, denn sie leben heute mit dem Fluch, bloss noch eine bessere «Regionalmacht» zu sein, wie der frühere US-Präsident Barack Obama einst ätzte. Von diesem wollen sie sich mit aller Gewalt befreien. Die Herrschenden in Washington und anderswo nutzen den Ukrainekrieg ihrerseits als Anlass für eine massive Aufrüstung – und diese dient als ein «Rettungsanker», um dem Finanzkapital neue Verwertungsmöglichkeiten zu schaffen und kommende Krisen noch ein wenig hinausschieben zu können. Das ist zumindest die Auffassung des Tessiner Antiimperialisten Franco Cavalli. In seinem Beitrag mit dem Titel «Zeitenwende oder ‹gewöhnlicher› interimperialistischer Krieg?» lese ich sogar eine Würdigung der Politik der früheren deutschen Bundeskanzlerin, die sicherlich Seltenheitswert bekommen hat: Die Minsker Verträge, die nach dem Maidan-Umsturz von 2014 den Frieden im Donbass wieder herstellen sollten, «waren unter anderem das Werk Angela Merkels, die sich für eine multipolare Welt eingesetzt hatte, was der Nato und Washington stets missfiel».

Verhandlungen – ein Irrweg?

Wie kann nach dem russischen Angriff auf die Ukraine eine Friedensordnung aufs Neue hergestellt werden? Die einen spielen mit dem Gedanken des Zerfalls der Russischen Föderation – sei es durch innere oder äußere Anstöße oder durch beides zugleich –, andere warnen davor, die rote Linie eines möglichen Atomkrieges zu durchbrechen und plädieren deshalb für eine «neue Entspannungspolitik». Das ist der Tenor der zweiten hier vorzustellenden Publikation. Der von Sandra Kostner und Stefan Luft herausgegebene Sammelband stellt Stimmen vor, die aus einer von westeuropäischen Erfahrungen und Interessen geprägten Sichtweise heraus argumentieren. Sie machen geltend, eine vom Wunsch nach Bestrafung geleitete Politik könne zu erheblichen Ressentiments aufseiten der Bestraften führen und extreme Kräfte an die Macht bringen. Die von den Siegern des Ersten Weltkriegs diktierten Versailler Verträge sind ein warnendes Beispiel dafür. Daraus zogen die westlichen Alliierten nach 1945 ihre Lehren – mit einigem Erfolg, wie die Geschichte der Bundesrepublik gezeigt hat.

Die Autor*innen plädieren dafür, einen Ausweg aus dem Kriegsgeschehen durch Verhandlungen zu suchen. Ein solcher wird heute noch von vielen politischen Kommentator*innen als Irrweg verdammt, denn er führe weiter in die Abhängigkeit vom Aggressor. Immer häufiger wird nun allerdings die Frage gestellt, ob die Ukraine den Krieg militärisch überhaupt gewinnen kann – und was der Preis dafür wäre. Gegen eine Politik des Ausgleichs mit der Russischen Föderation wird von deren Kritiker*innen eingewendet, Putin wolle sein imperiales Projekt weiterverfolgen und Russland sei eben durch und durch von Nationalismus und Chauvinismus geprägt. Gegen dieses Narrativ könnte vorgebracht werden, dass Michail Gorbatschow einst ein ganz anderes Programm verfolgt hatte. Dieses wurde im Westen so lange begrüsst, wie es der Schwächung der gegnerischen Supermacht diente. Sein Versuch hingegen, die Vision eines «gemeinsamen europäischen Hauses» zu verwirklichen, wurde als Illusion abgetan und mit der allmählichen Erweiterung der Nato nach Osten beantwortet.

Den Knoten lösen

Verschiedene Autor*innen analysieren in ihren Beiträgen die geopolitischen Veränderungen, die den Hintergrund des Krieges in der Ukraine abgeben. So erklärt der französische Geograf David Teurtrie «die ukrainische Tragödie aus der Kollision zwischen dem Willen der Vereinigten Staaten von Amerika, ihre weltweite Vormachtstellung um jeden Preis zu bewahren, und dem Willen wieder aufstrebender Mächte wie Russland, China, der Türkei und anderen, sich an der Neugestaltung einer multipolaren Welt zu beteiligen». Deshalb ist die internationale Front gegen Russland auch nicht so geschlossen, wie sich die westlichen Regierungen das wünschen möchten.

Tatsächlich: Die Verhältnisse sind komplex. Es geht um den Kampf der Subalternen in der Ukraine und anderswo, es geht um den Kampf zwischen absteigenden und aufsteigenden Nationen – und es geht letztlich darum, das Leben auf diesem Planeten zu bewahren. Ein Dialektiker wie einst Lenin, der versuchen würde, den Knoten zu lösen und diese Widersprüche in ein politisches Projekt zusammenzufassen, ist nicht in Sicht. Oder besser: eine Dialektikerin. Oder noch besser: ein Verbund von Dialektiker*innen.

Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, Heft 80: Ukraine, Krieg, linke Positionen. 2023, 248 Seiten

Sandra Kostner, Stefan Luft (Hrsg.): Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht. Frankfurt/M. (Westend) 2023, 352 Seiten

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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