Unterwegs zum «integralen» Bewusstsein

Rezension Welche Richtung die Menschheit einschlägt, ist nicht ausgemacht: mehr Gemeinsinn oder ein Mehr an Ausschluss. Jean Gebser war von einer humanen Entwicklung überzeugt.

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Wir leben in einem Interregnum, einer Zeit dazwischen, in der das Alte stirbt, das Neue aber noch nicht geboren wurde. Das ist zumindest die Diagnose des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis, die er kürzlich gegenüber der schweizerischen Online-Zeitung Republik äußerte. Solche Zwischenzeiten sind gefährliche Momente. Beispielhaft hatte dies die Phase zwischen dem Kollaps der Weltwirtschaft 1929 und dem Entstehen einer prosperierenden Nachkriegsordnung gezeigt. Im Strudel eines solchen Niedergangs können auch hoffnungsvolle Ideen versinken und Projekte der Barbarei begeisterte Unterstützung von aufgeputschten Massen finden, wie uns das heute die «starken Männer» von Bolsonaro bis Trump zur Genüge vor Augen führen.

In solchen Momenten mag der Glaube an einen möglichen Aufstieg des Menschengeschlechts gefährlich schwinden und kein Platz mehr für Utopien sein – denn selbst wenn diese vermeintlich starken Männer von der Bühne abtreten müssen, wie dies nun bei Donald Trump der Fall ist, hinterlassen sie verbrannte Erde und den Nachfolgenden bleibt nicht viel anderes, als die bereits eingetretenen Schäden zu reparieren. Was wäre denn das Neue?

In Zeiten der Krise

Diesmal soll nicht die Rede von politischen Ideen und Programmen sein, sondern von etwas scheinbar Abseitigem, der Philosophie des Bewusstseins. Manche mögen sich vielleicht daran erinnern: Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war viel von einem «neuen Zeitalter», dem «New Age», die Rede. Dieses werde durch ein «neues Bewusstsein» in Gang gebracht. Von solchen Träumen ist höchstens eine Esoterik-Szene geblieben, die sich jetzt zu großen Teilen und auf eine merkwürdige Weise mit jenen mischt, denen die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie als Verschwörung gegen die Freiheit erscheinen. So verbindet sich dieses angeblich Neue mit reaktionärsten Mythen wie dem Antijudaismus und verliert damit jeglichen Anspruch, über die herrschenden Denksysteme hinausweisen zu wollen.

In Zeiten der Krise können tatsächlich neue Gedanken entstehen. Manche von ihnen zeigen im späteren Verlauf der Geschichte Wirkung und werden vom «Mainstream» aufgenommen, andere fristen ein eher verstecktes Leben und ihre Bedeutung für die folgenden Generationen lässt sich nicht so leicht nachweisen. Trotzdem wäre es falsch, sie als nebensächlich abzutun. Eine solche Gestalt, die nicht im Rampenlicht der Geistesgeschichte steht, war der deutsch-schweizerische Philosoph Jean Gebser (1905–1973). Vom Kulturbürgertum der Nachkriegsjahrzehnte wurde er mancherorts eifrig studiert, doch heute ist er weitgehend in Vergessenheit geraten. Das wäre er noch viel mehr, wenn es nicht eine rührige Jean Gebser Gesellschaft gäbe. Sie sorgt dafür, dass wichtige Werke aus der Gesamtausgabe neu im Zürcher Chronos Verlag erscheinen. Die jüngste Publikation trägt den Titel Ein Mensch zu sein und umfasst autobiografische Texte, Notizen und Gedichte.

An einer Schwelle

Hans Gebser (wie er ursprünglich hieß) hatte in München die «braunen Horden» erlebt und verließ Deutschland, um sich einige Jahre in Spanien niederzulassen, wo er sich mit Dichtern wie Federico García Lorca befreundete und das Werk Rainer Maria Rilkes kennenlernte. Gebser war auch propagandistisch für die spanische Republik tätig und reiste in verschiedene Länder, um dort für die Sache der Republikaner einzutreten. Seine journalistischen und Übersetzungstätigkeiten waren von antifaschistischer Gesinnung geprägt, doch mit dem Sieg Francos wurde seine Lage immer prekärer. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs konnte er in die Schweiz übersiedeln, wo es für ihn allerdings nicht einfach war, als Schriftsteller zu überleben. Gebser, der keine universitäre Karriere vorzuweisen hatte (er besaß nicht einmal ein Maturitätszeugnis), konnte sich hauptsächlich durch Vorträge und die Unterstützung von Freunden – unter ihnen so prominente Namen wie der Historiker Jean Rodolphe von Salis oder der Biologe Adolf Portmann – einigermaßen über Wasser halten.

Jean Gebser war ein Grenzgänger zwischen den Sphären der Kunst, der Wissenschaft sowie der Moral und versuchte, das Ganze in den Blick zu bekommen. Einen Namen machte er sich als Erforscher der Bewusstseinsgeschichte der Menschheit. Diese durchlief bislang vier Etappen – die archaische, die magische, die mythische, die mentale – und steht jetzt, so Gebser, an der Schwelle einer «integralen» Bewusstseinsstufe. Zum «Homo Integralis» gehört ganz entscheidend, dass er die Welt zum Subjekt macht – «anstelle des kleinen privaten Ichs», wie der einstige DDR-Dissident und spätere sozial-ökologische Philosoph Rudolf Bahro, der sich auf Gebser bezog, in seinem Buch Logik der Rettung formuliert hatte. Oder um es mit den Worten der Textsammlung Daodejing auszudrücken, die dem legendären chinesischen Philosophen Laozi zugeschrieben wird: «Dem, der liebend der Welt gleichsetzt sein Selbst / mag man die Welt anvertrauen» (in der Übersetzung von Ernst Schwarz).

Notwendige Veränderung

In den Arbeiten zur Bewusstseinsgeschichte, die in seinem Hauptwerk Ursprung und Gegenwart versammelt sind, ging Gebser nicht nur europäischen Spuren nach, sondern weitete den Blick für die ganze Welt. 1961 unternahm er eine Asienreise, die ihn auch in die Volksrepublik China führte. «Gebser war offensichtlich von der chinesischen Welt fasziniert», schreibt Rudolf Hämmerli in seinen Erinnerungen an den Philosophen. Die chinesische Weisheit sei dem europäischen Denken überlegen, weil sie die Notwendigkeit der ständigen Veränderung immer schon anerkannt habe.

Die Einsicht in die notwendige Änderung des Bewusstseins bedeutet heute, eine Haltung der Weltzentrierung – über egoistische, Familien- oder nationale Interessen hinweg – einzunehmen. Angesichts der fundamentalen Krisen unserer Zeit ist sie unabdingbar, um den Kräften der Barbarei etwas entgegensetzen zu können.

Jean Gebser: Ein Mensch zu sein. Autobiografische Texte, Notizen und Gedichte. Mit Beiträgen von Rudolf Hämmerli und Elmar Schübl. Chronos Verlag 2020, 364 Seiten

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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