Bruchstücke einer Stadt

Nauwieser Viertel Blaue Liebe erzählt vom Widerständigen in düsteren Zeiten

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Jetzt liegt mit Blaue Liebe der 4. Band der Nauwieser Trilogie vor. Es ist damit die grösste Trilogie der Welt und steht im Guinness-Buch der Rekorde. Ausserdem werde ich erwähnt, was isch gut finn, und es gibt 160 Seiten als Bonusmaterial extra.

Das Nauwieser Viertel liegt in Saarbrücken. „Nauwies“definiert sich als geistige Lebensform: Poesie, Dada und Sozialismus vertragen sich bestens. Musik, Malerei und Literatur verliessen den Stammtisch im Gasthaus Bingert und wirkten am Buch mit.

Der verdienstvolle Historiker Erich Später nennt „Richtig dehemm waren wir doch nie“ „eine der schlimmsten saarländischen Lebenslügen“. Und die sei notwendig, damit Zustimmung für den Nationalsozialismus und Terror für dessen wenige Gegner sich als „Man habe doch nur für Deutschland gestimmt“ drapieren könne. ( 1935 votierten über 90 % der Saarländer für Hitler) Zwanzig Jahre später als man das „`Joch` der Emigranten und der Franzosen endgültig abgeschüttelt hatte“, wurde der Zweite Weltkrieg dann doch noch gewonnen. Davon zeugen die nach 1955 errichteten Denkmäler. Beispiel Völklingen: „1939 bis 1945 kämpften sie gerecht für Freiheit“. Die „Erinnerungskultur“, diese auserwählte Vokabel, deren Glanz gestattet, dass man damit um so einfacher die Nazis als geschmacklose Verirrung abtun kann, vereint in Sonntagsreden in grotesker Simplifizierung den Antifaschisten Max Braun, der „idealerweise“ schon 1945 versterben war, mit Nazigrössen wie Röchling. Denn beide „wollten nur das beste für die Saar.“ Der Landesarchivar Peter Wettmann-Jungblut verglich 2018 das NSDAP-Mitglied und späteren Ministerpräsidenten Franz-Josef Röder mit Oskar Schindler. Erst auf Nachfrage musste Wettmann-Jungblut einräumen, dass Röder „wohl keinen einzigen Juden“ gerettet habe.

In solcher Atmosphäre gedeihen NPD und AFD besonders gut. Darüber berichtet die Antifa Saar. Die „Antifa“ ist der „der Gott sei bei uns“ , der Bürgerlichen . Die saarländische AFD war zeitweise selbst der Bundes-AFD zu rechts. Die forderte die Auflösung des Landesverbandes und attestierte ihm Unwählbarkeit.

Norbert Rixecker ist Mathematiker und Maler. Zwei Algorithmen entwerfen vergangene Schönheitsideale auf den Computer. Nebenbei fabriziert Rixecker ausgesuchten Nonsens.

Der Bleistift ist ein langer dünner

beim Schreiben wird er kürzer immer

am End` bleibt nur ein Stummel klein

drum möcht` ich auch kein Bleistift sein.

Der Schriftsteller Alfred Gulden arbeitet seit Jahren mit dem Komponisten und Posaunisten Christof Thewes zusammen. Musik und Sprache sind gleichberechtigt. Beide gehen vom Kleinen ins Grosse. „Es geht um die Lust am Austausch mit Menschen. Und die Lust am Spiel“. Gulden verwebt Dialekt und Dada. (om gau).

„Beim Voyeur-Cup liegt die Prawda auf dem Platz“, erkennt DJ Puma. Der Voyeur-Cup ist ein traditionelles Turnier von Freizeitmannschaften. Auch hier die wehmütige Reminiszenz zu heute: Dem Gesundheitswahn im kommerziellen Fitnessstudio.

Inzwischen ein Blick ins Gasthaus Bingert. Dort tänzeln schwach, ganz leicht und hinfällig Schäfchenwölkchen aus Harn von der halbgeöffneten Toilettentür her. Das ist immer noch das beste Mittel, um Hipster fernzuhalten. Und an der Theke wird gesungen:

Alle stimmen überein

Der Macchinato muss ein Verräter sein.

Für den Maler Jörg Munz ist die Natur eine unerschöpfliche Inspirationsquelle der Formen, Farben und Lichtverhältnisse. Seine Arbeit ist die „Neuschaffung des Geschehenen“ des vorher gesehenen. Die Natur entsteht auf experimenteller Fotografie.

Es ist nun mal nichts von Dauer auf dieser Welt, außer OB Britz

Die ehemalige Oberbürgermeisterin Charlotte Britz fordert erst mal Wohnungen, Wohnungen und Wohnungen. Und setzt sich für die Vielfalt des Begehrens ein, das vielmehr als Mann und Frau sein kann.

Der Physiker Mohsen Ramazani-Mogghadan schreibt eine erschütternde Geschichte über einen Jungen, den die Eltern aus Armut weggeben mussten. Der Dschungel rückt aber unerbittlich näher. So was passiert heute in Griechenland.

Klaus Gietinger macht nicht nur Filme. In „Karl Marx, die Liebe und das Kapital“ schreibt er unter welchen Entbehrungen und Mühen ein gewaltiges Werk entstand. Die ständige Abwehr gegen die Myriaden des Alltags. Der über Geld schrieb, hatte selbst keines. Der Mann ohne Eigenkapital widmete sein Leben dem Kapital. Gietinger hatte schon mit „November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts“ auf etwas früher Akzeptiertes und heute längst Vergessenes hingewiesen: Was der konservative Publizist Sebastian Haffner in seinem letzten Interview über die Sozialdemokraten Ebert und Noske noch unbedingt loswerden wollte:

„Die haben die Revolution verraten, sie sind schuld an der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg, ohne sie wäre Hitler nicht an die Macht gekommen.“

Mit Büchern kenne ich mich ein wenig aus. Alle Verfasser hegen insgeheim eine Verachtung gegenüber der modischen, gespreizten Bildungsrhetorik.

Rausch und Kollegen zählen zu den schärfsten Kritikern von Hartz IV. Zahlreiche, unermüdlich gefertigte Collagen auf www.takt.de. dokumentieren dass die Agenda 2010, um den verharmlosenden Begriff für Raubzüge zu verwenden, den Aufstieg der Rechten zwangsläufig beförderte. Ein befreiendes Lachen und ein militanter und sozialer Humanismus sind nur zusammen darstellbar.

Bernd Rausch und Joachim P. Schmitt (Hg.): Blaue Liebe.

Eigenverlag, Saarbrücken, 2019, 168 Seiten, 9,90 Euro

ISBN: 978-3-9819623-1-4

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