"Die Jungen durchleben die Angst der Alten"

Interview Für Soziologe Stefan Schulz ist das CDU-Wahlprogramm ein "Abschiedsbrief" an die jüngere Generation.

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Auf ein Kanzler*innen-Triell für ein junges Publikum hat der 60-jährige CDU-Kandidat Armin Laschet keine Lust. Das war zuletzt unter dem Hashtag #LaschetKneift zu lesen. Ist das eines der jüngsten Symptome unserer „Rentnerrepublik“, wie Soziologe und Podcaster Stefan Schulz sie nennt? Als einen „Abschiedsbrief“ an die jüngere Generation hat Schulz zuletzt im ARD-Presseclub das CDU-Wahlprogramm bezeichnet. Eine harte Einschätzung, die auf Twitter aber einen Nerv getroffen hat. Im Interview spricht Stefan Schulz über die Macht der Demografie und beantwortet, was junge Leute zu CDU-Wähler*innen macht, welche Lehren wir aus Japan und Südkorea ziehen sollten und warum die Europäische Zentralbank hofft, dass das Schwarze-Null-Deutschland endlich Geld ausgibt.

Stefan Schulz, was macht das CDU-Programm zu einem "Abschiedsbrief" an die jüngere Generation?

Unabhängig davon, wie die CDU sich das denkt, was sie da vorlegt, liest man das U50 als Abschiedsbrief, weil da steht nichts drin, was einen interessiert, also gar nichts. Das ist nochmal die Beruhigungspille gewesen. War ja alles gar nicht so schlimm, Corona haben wir jetzt überstanden, wir sind ja alle geimpft. Schon das stimmt für sehr viele U50 nicht. Und dann ist es ein absolut mutloses inhaltliches Programm, das sich nichts zutraut. Das nichts zu Arbeitsverhältnissen sagt, das nichts zu Mietpreisen sagt, das nichts zur Zukunft sagt. Das sich nicht wirklich was zum Klima zutraut, außer das, was sozusagen abverlangt wird durch die allgemein gängige Staatsräson, die wir heute haben: Klimaneutralität usw. – irgendwann in ferner Zukunft. In der Hinsicht klassifiziere ich das als Abschiedsbrief. Aber auch da muss man, glaube ich, nochmal auftrumpfen: Der CDU ist es sogar egal, dass wir das als Abschiedstext lesen. Nicht mal in der Hinsicht ist es für uns gemacht.

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Junge Leute – U40 – stellen bei der Bundestagswahl im September knapp 30 Prozent der Wähler*innenschaft, alte Leute – Ü50 – fast 60 Prozent. Die Alten sind also doppelt so viele wie die Jüngeren. Und gehen fleißiger zur Wahl. Kann die CDU sich genau deshalb erlauben, junge Wähler*innen zu ignorieren, einen solchen "Abschiedsbrief" zu schreiben?

Ja, sie kann es sich erlauben. Die CDU hat einen Berater, Michael Jung, der ihnen immer wieder demoskopisch, demografisch Sachen darbietet. Der wird unter der Hand zitiert: Liebe CDU, sie verlieren von Wahl zu Wahl eine Million Menschen an den Tod, das ist ihr größter Konkurrent. So viel verlieren sie weder an die AfD noch an die Grünen, die gehen alle an den Tod. Da steckt natürlich ein Alarmismus drin, die Partei müsse sich jetzt mal kümmern. Aber in dieser Altersspanne, du hast es gerade genannt: Also Deutschland ist im Durchschnitt ungefähr 50 Jahre alt – anders als Nigeria mit 14 Jahren zum Beispiel, doppelt so viele Menschen aber Faktor drei weniger alt. Wir sind ein unglaublich altes Land, eigentlich das älteste Land nach Japan. Japan kann man aber ausklammern, weil die einfach 250 Prozent BIP-Staatsverschuldung machen und damit fein raus sind. Das machen wir ja hier nicht. Und deswegen sind wir im Politikprogramm, das die CDU fährt, das älteste Land der Welt mit 58 Prozent Ü50-Wählern. Und das, du hast es eben angedeutet, kann man ja nochmal gewichten um die Wahlbeteiligung. Dann schrumpfen die U30-Wähler, die nominal mit 14 Prozent reingehen, dadurch dass sie nicht 77 Prozent Wahlbeteiligung haben. Wir haben es jetzt in Frankreich erlebt: 30 Prozent, 20 Prozent in dieser Altersklasse. Die schrumpfen in den einstelligen Prozentbereich, also spielen überhaupt gar keine Rolle. Und die 30- bis 50-Jährigen machen so 28 Prozent aus, das schrumpft dann auch nochmal unter ein Viertel. Da sieht man schon: Nö, man kann ein Wahlprogramm für die Alten machen und das reicht völlig. Denn Deutschland wird ja auch älter. Klar, oben sterben Menschen, aber von unten rutschen ja Leute in diese Altersklassen rein, die dann genau auf diese Art Besitzstandswahrung, wie es die CDU anbietet, abfahren und dankend annehmen. Denn einmal das fünfzigste, sechszigste Lebensjahr überschritten, dann wird es hart mit den Experimenten, dann traut man die sich nicht mehr so zu.

Wie "besitzstandswahrend" das CDU-Programm dann wirklich ist, lässt sich diskutieren. Trotzdem ist ja der Eindruck, junge Leute wählen nur links-grün, falsch. Bei der letzten Bundestagswahl war die CDU in allen Altersklassen – auch U40 – stärkste Kraft. Aktuelle Umfragen und die Wahlergebnisse in Sachsen-Anhalt zeigen Ähnliches. Welche Anziehungskraft hat dieses CDU-Programm denn für junge Menschen?

Ein wichtiger Punkt. Wir sind eine Rentnerrepublik, das älteste Land der Welt. Das bedeutet, es gibt sehr viele alte Menschen. Und die jungen Menschen durchleben die Angst der alten Menschen. Es kommt drauf an, was in den Köpfen vor sich geht. Es ist nicht so sehr der Körper. Der Körper wird sichtbar alt, da muss man sich drum kümmern. Es gibt ja sehr viele Technologien heute – durch Corona befördert –, die entwickelt werden: Essen nach Hause liefern lassen, Beförderung von der Haustür bis zur Haustür, bloß keine Gruppensachen, sondern alles schön social distancing. Das ist natürlich alles wie für alte Menschen gemacht. Das sind alles Sachen, die die Rentnerrepublik schon eine Stufe nach vorne gebracht haben. Auch im medizinischen Bereich.

Jetzt haben wir das Problem, wir haben ja noch junge Menschen, die allerdings in befristeten Arbeitsverträgen drinstecken, die Mietverträge haben in den großen Städten mit einer Verdopplung der zu zahlenden Miete innerhalb von zehn Jahren. Und alle wollen in die großen Städte. Da schlägt sich natürlich diese Angst der Alten nieder. Das ist ein Phänomen, das wir aus China kennen: Wenn Kinder mit höchstens einem Geschwisterkind, selten mit zwei Geschwistern aufwachsen, und häufig Einzelkinder sind, dann haben sie zu viel Kontakt zu den älteren Generationen. Und übernehmen aus den Gesprächen deren Angst. Also Zukunftsangst, Angst vor Altersarmut usw. wird dann runtertransportiert und plötzlich haben das schon die 23-Jährigen, die eigentlich noch 40, 50 Jahre Möglichkeiten der Biografiegestaltung vor sich haben.

Wir sind kein linksgrün-versifftes Land, auch nicht bei den Jüngeren. Sondern relativ früh greifen dann eigentlich die Sicherheitsvorstellungen, die man für sich hat. Dann möchte man, dass zuerst der Arbeitsvertrag unterschrieben wird. Und wenn der Arbeitsvertrag unterschrieben ist, dann traut man sich auch den Mietvertrag zu. Und wenn der Mietvertrag unterschrieben ist, dann traut man sich eine Eheschließung zu. Und wenn die Eheschließung ordentlich über die Bühne gegangen ist, dann kommt das Kind. Dann traut man sich endlich zu, auch eine Familie mit Kindern zu gründen. Dann ist man allerdings schon 43. Dann ist man in einer Lebenssituation, wo man gleichzeitig für seine Eltern und für seine Kinder Windeln kaufen muss. Das blockiert im Kopf total. Also in der Hinsicht, gibt es, glaube ich, kein großes Potenzial, das die CDU abschöpfen könnte, wenn sie ein bisschen mutiger wäre. Wie sehr man daran scheitert, sieht man ja an den Linken und ein bisschen auch wieder an den Grünen, dass sie sich auch nicht viel zutrauen.

Finanzpolitik ist ein Punkt, an dem sich dieser Kampf, Jung gegen Alt, immer wieder entzündet. Die CDU spricht von "praktizierter Generationengerechtigkeit", weil sie so schnell wie möglich wieder ohne neue Schulden auskommen möchte, hält an der Schuldenbremse fest. Naiv gefragt: Künftigen Generationen keinen Schuldenberg hinterlassen, das muss dich doch eigentlich freuen?

Es ergibt null Sinn, keinen Schuldenberg zu hinterlassen. Erstens, wo landet der Schuldenberg? Bei irgendwem, der uns dann die Knochen bricht, um das Geld einzutreiben? Nein, natürlich nicht. Zweitens, was hat es für einen Sinn, kein Geld auszugeben? Warum sollte der Staat kein Geld ausgeben? Das versteht man ja auch nicht. In Italien können Hausbesitzer – und Italien ist kein Mieterland wie Deutschland – einfach zum Staat gehen und sagen: Ich hätte gerne Unterstützung bei dem Anbringen einer Solarpanele auf meinem Dach. Dann sagt der Staat: Ja, hier. Kannst du haben. Kostet null Eigenbeitrag, es wird zu hundert Prozent vom Staat bezahlt. Das ist eine Win-Win-Win-Win-Situation. Man hat sich abgekoppelt von den Stromerzeugungsprinzipien. Wir verbrennen einfach Ressourcen aus dem Boden? Nein, wir nutzen jetzt die Sonne. Man hat wirtschaftliche Autonomie in den Haushalten geschaffen, weil die mehr Einkommen zur Verfügung haben, das sie nicht brauchen, um Strom zu bezahlen. Wir haben Handwerker, die das Zeug herstellen und anbringen. Lohnzahlungen werden ermöglicht. Am Ende profitieren alle davon. Aber: Italien verschuldet sich mit 191 Milliarden über das Pandemiehilfe-Programm der EU-Kommission. Aber es gibt keine negative Seite, keinen Verlierer. Denn diese Schulden sind bei der EU-Kommission einfach nur in einem Notizbuch aufgeschrieben, mit einem Minus davor. Das Geld wird nicht eingetrieben, das wird auch nie zurückverlangt. Wenn man es nicht im Kreislauf drin hat, geschieht all das nicht, was in Italien geschieht. In Deutschland geschieht halt all das nicht.

China will die 25 oder 15 Schlüsseltechnologien bis 2025 nach China holen. Amerika hält dagegen. Amerika hat diese Schlüsseltechnologien meistens schon, Europa ist da überall abgemeldet. Und um das zu bewerkstelligen, nimmt jetzt der Kongress nochmal 250 Milliarden Dollar in die Hand, um das eigentlich schon auf Augenhöhe mit China operierende Amerika nochmal in eine bessere Position zu bringen. Und jetzt lesen wir ein zig Seiten langes Kapitel im CDU-Programm, was man alles möchte: Man freut sich, dass Biontech hier ist, man will irgendwas mit Krypto, irgendwas mit neuer Währung, irgendwas mit Computern, irgendwas mit Quanten und blah blah blah. Man will aber kein Geld dafür ausgeben. Also wird das alles nicht passieren. Das ist das Erbe, was uns die CDU hinterlässt: keine Schulden. Aber die nicht vorhandenen Schulden sind genau nichts wert. Dass wir allerdings die ganzen Strukturförderungseffekte nicht haben, bringt uns wirklich ins Hintertreffen. Da stecken wir ganz schön in der Bredouille. Die CDU lässt uns hier ganz schön fallen, ehrlich gesagt.

Was du beschreibst, Zentralbanken überweisen den Staaten das Geld und fertig, hat aktuell in den USA zu einer fünfprozentigen Inflation geführt. Davor hast du keine Angst?

Ne, davor hat niemand Angst. Ich wohn hier in Frankfurt. Ich hab immer Blick auf die Europäische Zentralbank, die seit zehn Jahren händeringend nach Inflation sucht. Und jetzt ist sie endlich da, ein großes Aufatmen. Weil irgendwelche Redakteure keine Ahnung haben, was Inflation bedeutet und hundert Jahre alte Sachen noch tradieren mit Hyperinflation – also, das ist ja völlig absurd, dass sowas jetzt droht – gibt es irgendwie so eine Angst. Wir brauchen natürlich Inflation. Wir brauchen auch wieder Zinsen. Die CDU hat ja interessanterweise auch Angst vor Inflation, aber keine Angst vor Zinsen, sie möchte gerne Zinsen haben. Nur um Zinsen zu erzeugen, müsste Deutschland Staatsschulden rausgeben und darauf Zinsen zahlen und genau das macht die CDU nicht. Denn da hat sie sich ja die Ketten angelegt. In der Hinsicht ist dieses, wir haben Angst vor Inflation und wünschen uns eigentlich Zinsen, machen aber genau das Gegenteil, auch verlogen. Denn eigentlich weiß es die CDU ja besser, aber sie bedient eben genau diese komischen Ängste, die du ja eben auch angesprochen hast – unter der Vorstellung, dass es Inflationsangst gäbe. Aber gibt es die denn? Also, ich kenne niemanden, der Angst vor Inflation hat. Sobald man darüber spricht, was das bedeutet, löst sich das ganz schnell auf.

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Aber wie erklärst du dir dann diesen Sparzwang? Wieder ganz naiv überlegt: Große Investitionen, z.B. in Barrierefreiheit oder Pflegeheime, würden schließlich älteren Menschen, Rentner*innen, letztlich CDU-Stammwähler*innen überproportional zugutekommen.

Die blöde Antwort, also die wirklich dumme Antwort, die hat Focus-Redakteur Ulrich Reitz im ARD-Presseclub gegeben: Das ist der Markenkern der CDU, die schwarze Null. Die etwas klügere, eigentlich listige Antwort ist: Wenn Deutschland die Schuldenbremse einhält, kann es das über die Währungsunion auch den anderen Ländern in Europa aufzwingen und sich damit einen Wettbewerbvorteil verschaffen, weil Deutschland mit der Schwarzen Null besser klarkommt als die innereuropäischen Absatzmärkte, die Deutschland braucht, um Profite aus diesen Ländern abzuziehen. Wir wollen ja gerne Exportweltmeister sein. In der Hinsicht knechten wir Europa und schreiben nicht ins Programm, warum wir das machen. Sondern es gibt einfach die Erfahrung unter den Wirtschaftspolitikern – auch in der SPD –,dass sich das sehr für Deutschland auszahlt. Bedeutet aber auch, wir exportieren Arbeitslosigkeit. Also 25, 30, 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland, Italien, Portugal, Teilen Frankreichs. Das geht auf unsere Kappe. Das sind einfach Gewinnmitnahmen, die wir hier ganz verlogen in Europa, in Deutschland organisieren.

Themenwechsel: Du betonst in deiner Arbeit, deinen Podcasts, auch in diesem Gespräch wird es deutlich, sehr stark diese Kategorie Alter, Demografie, dein nächstes Buch soll "Rentnerrepublik" heißen. Manchmal wirkt das, wie klassische soziologische Zeitdiagnose. Was macht diese Perspektive für dich so interessant?

Als ich in Bielefeld Soziologie studiert hab, war Zeitdiagnostik immer so: Das machen die Idioten. Lacht. Deswegen nehm ich das gerne an, ich verstehe das nicht als Vorwurf, denn ich mache keine richtige Soziologie, sondern ich mache inspiritative Soziologie. Ich mach ja keine Wissenschaft, sondern echte Zeitdiagnostik, aber mit einem Verständnis darüber, was das bedeutet, also populärwissenschaftlich. Ich sag lieber populärwissenschaftlich als vulgäre Wissenschaft. Ich gucke sehr viel mehr Nachrichten und habe darüber eine Beobachtung der Welt, als dass ich noch soziologisch-theoretische Bücher lese, die ins Eingemachte gehen.

Meine Feststellung war: Eigentlich ist egal, was wir für ein politisches Spiel aufführen. Denn die Sachzwänge durch die demografischen Grundlagen sind mittlerweile so streng, so fordernd, dass eigentlich egal ist, wer regiert. Sowohl in den Ländern als auch im Bund und erst recht in den Städten. Städte wie Suhl, die älteste Stadt Deutschlands, wo niemand hinzieht, wo es keine Kindergärten braucht, wo Hans-Georg Maaßen sich anmeldet, weil er da einen Wahlkreis für sich vermutet und dann ein Bild postet, wie er allein im Einwohnermeldeamt steht und sagt: Das ist aber ein toller Service hier. Ja, da meldet sich keiner an. Er ist der Einzige, der da in einem halben Jahr ankam, um sich da anzumelden. Maaßen vergleicht das mit Berlin, da soll sich Berlin mal eine Scheibe abschneiden. Berlin ist halt eine Stadt, in die ziehen Zehntausende Menschen pro Jahr, ohne dass da nennenswert Menschen wirklich wegziehen, die ziehen vielleicht ins Umland, wenn sie ein gewisses Alter erreichen.

Aber Berlin, Frankfurt, Hamburg, die großen Metropolen in Deutschland, Europa und der Welt, wachsen. Der größte Migrationsdruck ist die in den Ländern stattfindende Urbanisierung, die Bewegung vom Land in die Städte. Damit haben die Städte ganz schön zu kämpfen. Und da ist der politische Hintergrund fast egal, die Herausforderungen sind fast überall dieselben. Arbeitswege, Pendlerzeiten, grundsätzliche Versorgung, Kläranlagen, Strom usw. muss alles hergestellt werden. So zieht sich das durch die westliche Welt.

Und wenn man dann einen globalen Blick macht, sieht man, dass wir jetzt an einer Schwelle sind. Die Menschheit ist ja 300.000 Jahre alt. Sieben Prozent aller in den letzten 300.000 Jahren geborenen Menschen leben heute. Daran kann man auch mal sehen, was eine exponentielle Funktion ist, nämlich irgendwann vor vierhundert Jahren ging es los. Genug Kinder pro Frau haben es geschafft, gewisse Altersgrenzen zu erreichen und damit ist diese Welt einfach explodiert. Die Menschheit hat sich wie ein Virus innerhalb von 400 von 300.000 Jahren in der Welt breitgemacht. Am Anfang war es die hohe Kinderzahl, dann war es die Lebenserwartung, die aber 2014 ihren Peak erreicht hat in Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Wir haben zuerst viele Menschen gehabt, dann hat sich das abgeschwächt – in Deutschland sind wir schon seit 40 Jahren bei unter zwei Kindern pro Frau –, dann wurde aber die Lebenserwartung so lang, dass darüber nochmal Wachstum kam. Und jetzt, ganz abrupt, seit 2014, sind wir auf Schrumpfungskurs. Deutschland ist seit etwa 1974 auf Schrumpfungskurs. Dann kam aber die Migration dazu. Jetzt haben wir uns jahrzehntelang darüber gestritten: Sind wir ein Einwanderungsland? Warum ist Amerika so erfolgreich? Naja, weil halt alle da hinziehen. Aber, ab jetzt schrumpfen wir. Kann man sich immer noch nicht vorstellen, denn es gab schon immer mal Schrumpfprognosen, weil die Migration nicht ernst genommen wurde. Deswegen sagen viele Politiker: Achja, jetzt sagen sie wieder alle, wir schrumpfen! Aber nein, jetzt schrumpfen wir wirklich, jetzt geht der große Schrumpfungsprozess los.

Wir sind jetzt bei Peak Menschheit. Die Hälfte davon ist unter 40 Jahre alt. So viele werden es nie wieder sein, ab jetzt werden es weniger. Mit Ausnahme von Afrika, die ja in der Entwicklung ein bisschen hinterherhängen, ist das jetzt ein flächendeckendes Phänomen. Und wir Deutsche sind die Pioniere, mit Japan, was es bedeutet in einer schrumpfenden Gesellschaft zu leben.

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Du hast dich viel mit Japan beschäftigt. Daran führt auch nichts vorbei, wenn du die Gesellschaft durch die Demografie-Brille betrachtest. Nur Japan ist noch älter als Deutschland, du hast schon deren hohe Staatsverschuldung angesprochen. Was können wir denn aus Japan lernen?

Japan ist beispielhaft für uns, weil sie auch einen Technologie-Sektor hatten vor zwanzig Jahren: Walkmans, DVDs, Autos, das kam alles aus Japan, heute nicht mehr so sehr. Japan ist wie Deutschland zweigleisig gefahren: Riesiger Exportsektor, super effizient, aber im Land eine soziale Marktwirtschaft, wo man auch mal fünf hat gerade sein lassen, wo es nicht drauf ankam, beste Produktivität abzuliefern.

Noch interessanter ist allerdings, find ich, Südkorea. Denn Südkorea ist uns noch ein bisschen näher. Südkorea ist auch ein Technologieland, das aber einen Babyboom-Bauch mit sich trägt, wie wir – nur ein bisschen größer noch. Denn in Südkorea ging es tatsächlich los mit sieben Kindern pro Frau, fiel innerhalb von einer Generation auf unter zwei Kinder und liegt jetzt bei unter 1. Und Südkorea ist 10 bis 15 Jahre weiter als wir, dort leben jetzt schon die Hälfte aller Rentner in Armut, nach unserer Armutsdefinition. Der Wohnungsmarkt für alte Menschen ist zum Beispiel komplett vom Markt entkoppelt, weil das gar keinen Sinn mehr macht. Der Staat baut einfach zwanzigstöckige Hochhäuser und verteilt diese Wohnungen an die Alten, weil es überhaupt keinen Sinn macht, die Familie heranzuziehen, weil die eh kein Geld haben. Diese Phänomene drohen uns auch. Wir können uns das immer noch nicht ganz vorstellen, aber wir haben jetzt schon, die Hälfte aller Renten unter 1000 Euro. Und wir hängen im Rentenniveau, ganz materiall vergleichen, 800 Euro bei Männern hinter Österreich. Und der Babyboom-Bauch kommt jetzt erst, die gehen jetzt erst in Rente. Also das wird noch ganz brutal. Von Altersarmut können wir uns heute noch kein richtiges Bild machen. Da gibts allerdings keine Partei, da muss man die CDU nicht besonders einklammern. Das ist ein Problem, das erst angegriffen wird, wenn es soweit ist.

Aktuell geht es auch darum, ob unsere Enkel künftig "Kriege um Wasser und um Nahrung führen", sagt zumindest EU-Klimaschutz-Kommissar Frans Timmermans. Du hast seine mahnenden Worte selbst mal zitiert. Gibt es für dich denn Parteien, die glaubwürdig versuchen, dieses Szenario zu verhindern? Oder ist links der CDU alles nur "Rentnerrepublik Light" für dich und stellt dich nicht zufrieden?

Es sind die Grünen und die Linken, die eine Klimapolitik machen, die klug ist, weil sie nämlich akzeptieren, dass Klima das dominierende Thema ist, und die Sozialpolitik dem Klima unterordnen. Zum Beispiel mit Klimageldern und Eins-zu-Eins-Verrechnungen. Wer das Klima schützt, bekommt Geld einfach dafür, dass er das Klima geschützt hat. Man könnte sagen, die Linken sind sogar noch strenger als die Grünen, weil sie eh ihr Wahlprogramm als Utopie auslegen. Das ist nicht wie bei anderen Parteien, dass man sagt, das muss auch finanzierbar sein, sondern erstmal wird eine Utopie formuliert. Bei den Grünen sieht man, dass sie das Prinzip verstanden haben, es auch nicht verschleiern, aber trotzdem wissen, dass sie in der Rentnerrepublik damit antreten müssen und am Ende Bettina Schausten im ZDF heute journal die entscheidenden Fragen stellt. Und dann darf man nicht zu überraschend sein. Ich würde sagen, Laschet gibt die Pace vor. Der lasche Laschet, der jetzt von Markus Feldenkirchen im SPIEGEL nochmal ein Porträt bekommen hat – ein Lob seiner Gelassenheit –, gibt die Pace vor. Da dürfen die Grünen nicht allzu weit abweichen. Aber wir haben bei den Grünen Personal, auch jetzt schon im Bundestag. Franziska Brandner zu Europa zum Beispiel, die will Europa genauso aufstellen, wie wir es brauchen, nur das schlägt sich nicht im Programm nieder, aber in der Umsetzung, wenn sie denn mal in Verantwortung sind. In der Hinsicht gäbe es durchaus Hoffnung für Deutschland, aber diese grünen Mehrheiten sind nicht zu organisieren, glaub ich.

Zum Schluss ein ganz egoistischer Blick in die Zukunft. Oder auf meine Ängste, die ich wohl auch von den Alten übernommen habe. Ich bin jetzt 23 Jahre alt. Schon die Rentenfinanzierung der Babyboomer, die bald in Rente gehen, ist völlig unklar. Die CDU will jetzt eine sogenannte "Generationenrente" einführen, eine völlig neue Säule der Altersvorsorge. Was muss passieren, damit junge Leute wie ich in den 2060er, 2070er Jahren noch eine gute Rente bekommen?

Du wirst auf jeden Fall eine gute Rente bekommen, denn die Babyboomer werden sterben, bevor du das Renteneintrittsalter erreichst. Das ist dein großer Pluspunkt. Die Rentnerrepublik beginnt 2023, dann gehen die ersten Babyboomer-Jährgänge – und damit meine ich die Millionen-Jahrgänge – in Rente. 2029 geht der 64er-Jahrgang in Rente, der ist 1,4 Millionen Menschen stark. Unten rutschen dann nur 800.000 Menschen rein in den Arbeitsmarkt. Da sieht man schon die Lücke: 600.000 Menschen. So viel Zuwanderung gibts auch nicht, so attraktiv ist Deutschland dann auch nicht, ohne englische Sprache und so. 2045 endet dann aber deren statische Lebenserwartung. Und die ist, wie gesagt, seit 2014 prognostizierbar. Da gibt es keine großen Überraschungen, wir werden nicht nochmal fünf Jahre älter kollektiv. Das heißt, wenn du in Rente kommst, ist der Babyboomer-Bauch abgefrühstückt.

Aber, das Problem ist, das sieht man Südkorea: Bis du da angekommen bist, müssen ja die Rentner, die Babyboomer versorgt werden. Was in Südkorea bedeutet: ganz viel Arbeit, 12-Stunden-Arbeitstage, keine Zeit für die Familie, kein Geld für Urlaube, komplette Verantwortung für die eigenen Eltern, bis sie es wirklich nicht mehr können, ab dann immer noch finanzielle Verantwortung. Also, absolut verlustreiches Leben ohne Karriere, ohne Vermögensaufbau, ohne eigene Altersvorsorge, sondern das wird komplett aufgezehrt. Noch hält ja die CDU fest an der 20 Prozent Haltelinie, also niemand soll mehr als 20 Prozent seines Gehalts für Rentenbeiträge abführen. Aber wir sehen schon jetzt: 100 Milliarden kommen aus dem Bundeshaushalt in die Rente. Da ist noch eine Lücke von 60, 70 Milliarden. Also, auch wenn du es nicht über die Sozialabgaben bezahlen wirst, wirst du es über Steuern irgendwie bezahlen müssen.

Die Unternehmen werden, dadurch dass oben immer zwei Rentner rausfallen und nur einer unten nachkommt, bei gleicher Arbeitsbelastung, sowieso deine Generation sehr viel mehr an Produktivitätserfordernis und Anspruch usw. auszehren. Da muss man ansetzen. Du musst dir keine Sorge um deine Rente machen, aber du musst dir Sorgen um den Weg bis zur Rente machen, denn das wird ganz entbehrungsreich. Es sei denn, Deutschland entscheidet sich, den japanischen Weg dann doch mal einzuschlagen.

Den japanischen Weg?

In Europa gilt: 60 Prozent des BIPs als Verschuldung sind zu viel. Wir sind gerade bei 75 Prozent durch Corona – und das soll dann schnellstmöglich abgebaut werden. In Japan hat man festgestellt: 250 Prozent Staatsverschuldung? Pff, ist uns auch egal. Das fordert ja niemand zurück. Die Staatsschulden liegen bei der Zentralbank. Und das kann man ja in Europa auch machen. Das Problem ist nur: Die CDU hat in ihr Programm geschrieben, sie setzt sich sehr für eine Stärkung des EU-Wirtschaftskommissars ein. Da denkst man zuerst: Wollen die eine europäische Wirtschaftspolitik? Nein, sie wollen einfach nur, dass dieser Wirtschaftskommissar eine noch stärkere Kontrollfunktion erhält, dass die Staatsschulden der Länder nicht aus den Fugen geraten. Es stehen wieder "Strukturreformen" als Begriff im Programm. Das macht mir auch ein bisschen Angst.

Ich könnt mir aber vorstellen, dass wir hier in Deutschland in einer Bubble sind, wo wir nicht ganz mitbekommen, was Draghi, als ehemaliger EZB-Chef, in Italien gerade als Ministerpräsident macht, auch in Zusammenarbeit mit Macron. Die sehen natürlich auch, dass Merkel jetzt erstmal aus dem Weg ist. Vielleicht haben die eine Vorstellung davon, der Laschet wird als Kanzler uns nicht allzu gefährlich. Der tritt nicht mit dieser Dominanz auf. Und man sieht ja, wie schnell Menschen umschwenken, wenn sie mal die deutsche Bubble verlassen. Also Ursula von der Leyen ist jetzt voll auf die europäische Linie eingeschwenkt, möchte den European Green Deal, das neue Wachstumsversprechen. Sie plant mit EZB-Chefin Christine Lagarde zusammen diese Green Finance Sachen, also dass man manche Investitionsgüter, zum Beispiel Anleihen von Unternehmen, einfach aussortiert, wenn sie das Klima weiter zerstören. Und damit Handlungsdruck für die Unternehmen einfach geben: Ihr kriegt nur noch Geld von Investoren, wenn ihr die Klimaschwenks mitmacht.

Man muss sich jetzt tagespolitisch genau auf dem Laufenden halten, um zu sehen, wie die Kräfteverhältnisse sind. Der Abschied von Merkel wird ein großes Spektakel in Europa, das in Deutschland nicht beobachtet werden wird, da muss man dann die ausländischen Medien beobachten. In der Hinsicht würde ich sagen: Man kann Angst haben, aber man kann auch son bisschen hoffnungsfroh in die Zukunft schauen, denn am Ende werden alle feststellen, wie in Japan: Staatsschulden tun nicht weh. Und damit ist aber Geld da, das dann nicht erst über Löhne usw. hergestellt werden muss. Sondern wenn der Staat Geld braucht, dann nimm es dir nicht von denjenigen, die das vielleicht besser bräuchten, um dann doch mal ihr Eigenheim zu finanzieren oder so, sondern hol es dir einfach bei der EZB. Mal gucken, davon sind wir in Deutschland weit weg, aber vielleicht ist ja der internationale Druck innereuropäisch so groß, dass wir dann doch dazu kommen.

Also, viel Potenzial für politische Veränderung in den nächsten Jahren.

Ja!

Stefan, ich danke dir für das Gespräch.

Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine leicht gekürzte und überarbeitete Fassung eines Interviews mit Stefan Schulz, das zuerst beim Bielefelder Campusradio Hertz 87.9 ausgestrahlt wurde. Mögliche Tippfehler liegen einzig in der Verantwortung des Autoren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Steven Hartig

Freier Journalist und Autor

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