Eine flüstert. Alle schlafen.

ASMR Millionen Menschen finden in Videos absurdester Geräusch-Konzerte Entspannung, Schlaf und ein unerklärliches Gefühl. Was passiert dort genau?

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Als passionierter ASMR-Hörer und Student der Soziologie und Linguistik plante ich es schon länger: einen Text über das ASMR-Phänomen schreiben. Nun habe ich die vorlesungsfreie Zeit genutzt, um an fünf Nachmittagen diesen Text auf's digitale Papier zu bringen! Mit größtem Eifer könnte ich noch wochenlang an jedem Absatz, Wort und Komma herumdoktern, nun ruft aber die Hausarbeit.

Ich hatte wahnsinnige Freude beim Schreiben dieses Textes. Ihr hoffentlich zumindest einen Bruchteil davon beim Lesen. Ein gewisses Vorwissen über das Genre ist von großem Vorteil, aber keine Notwendigkeit. Der Text rangiert im Graubereich zwischen journalistisch-persönlichem Stück und soziologisch-wissenschaftlichem Anspruch. Ich mag sie ja, die Farbe Grau. Großer Dank geht an meine Mutter und Joshua für die reichliche Inspiration.

Dieser Text argumentiert ausgehend von einer Überlegung der Funktionalität von Geräuschen in der alltäglichen Lebenswelt, dass die spezifische Leistung der ASMR-Szene in einer Legitimierung der inhaltlichen Irrelevanzsetzung besteht, durch die wiederum gänzlich neue Sphären der Geräuschproduktion und -rezeption für den Menschen eröffnet werden.

Flüsterstimme: „Hey, […] it’s me! […] ASMR […] Darling!“ Bedacht wandert der Kopf der jungen Frau, die hinter dem YouTube-Kanal mit 1,8 Millionen Abonnent*innen steht, von der einen Mikrofonseite zur anderen und wieder zurück, als sie das bis heute meistgeschaute Video der ASMR-Szene aufnimmt. Über 26 Millionen Mal wurde es bisher angeklickt. Doch was genau schauen sich die Menschen da an? Innerhalb von 30 Minuten bürstet sie den Mikrofonschutz mit einem Make-Up-Pinsel, tippt gefühlvoll mit ihren langen Fingernägeln auf einem Plastikdöschen umher, blättert in und liest aus einem staubig anmutenden Buch, reißt Tesa-Film mal sanft, mal noch sanfter von der Rolle bis sie es sich letztlich ins Gesicht klebt, dann Streichhölzer mehr oder weniger erfolgreich anzündet, den Zuschauer*innen daraufhin einen virtuellen Haarschnitt anbietet und das Video damit beendet, dass sie einige Münzen in einer kleinen Porzellanschüssel umherwälzt. Einem nicht mit der ASMR-Szene vertrauten Menschen stellt sich nun die berechtigte Frage, warum die Menschen bei all den Möglichkeiten, was sie mit ihrer Zeit anstellen könnten, ausgerechnet eine halbe Stunde lang dieser Frau bei solchem – böse formuliert – offensichtlichen Unsinn zuschauen.

Dieser Text versucht sich ausgehend von dieser Frage an einer meines Wissens ersten soziologischen Annäherung an das ASMR-Phänomen. Im Folgenden werde ich auf Produktionsseite kurz die zentrale Konstitution des Genres, also das „doing being an ASMRtists“ (szene-interne Bezeichnung für die Produzent*innen von ASMR-Videos), skizzieren und auf Rezeptionsseite die genuine Qualität der Produktion und Rezeption von Geräuschen innerhalb der ASMR-Szene beschreiben. Die Szene begreifen wir dabei als einen über drei Millionen Stück großen Fundus an ASMR-Videos, schätzungsweise zehntausend aktive Produzent*innen von ASMR-Videos sowie international Millionen Menschen, die regelmäßig jene konsumieren. Dieser Text hat dabei den schlichten Anspruch, einen Beitrag zu der Frage zu leisten, was und wie wir über das ASMR-Genre denken und nachdenken (können).

Einleitend kann es zunächst sinnvoll sein, auf die Funktionen einzugehen, die die Rezipient*innen dem ASMR-Genre zuschreiben. Jüngste Studien aber auch ein banaler Blick in die Kommentare unter den Videos geben darüber erste Auskünfte: Rezipient*innen berichten insbesondere von Entspannung inmitten des Alltagsstresses und von Abhilfe bei Schlaflosigkeit. Das dem ASMR-Genre zentrale und gleichnamige Sinneserlebnis (szenen-interne Bezeichnung: „tingles“), in einer Studie von 2015 einflussreich beschrieben als eine „tingling, static-like sensation across the scalp, back of the neck and at times further areas“, sei an dieser Stelle erwähnt, dann jedoch vorerst der Psychologie und Neurologie zur tiefergehenden Analyse überlassen. Dieses Sinneserlebnis, welches nicht mit einer simplen Gänsehaut-Erfahrung zu verwechseln ist, spielt in der Szene eine zentrale Rolle. Eine der wichtigsten Kategorien des Genres beschäftigt sich damit, abgestumpften Rezipient*innen – jene also, die nach einer gewissen Zeit an ASMR-Konsum keine „tingles“ mehr erleben – dieses Sinneserlebnis wieder erfahrbar zu machen. Solche Videos tragen dann Namen wie: „Curing Tingle Immunity“ oder „ASMR for people who don‘t get tingles“. Menschen, die noch nie „Tingles“ erlebt haben, werden als „Tingle-Jungfrauen“ bezeichnet. Erste neuropsychologische Studien liefern Indizien dafür, dass die Gehirnstrukturen von Menschen sich auch im Hinblick darauf unterscheiden könnten, ob die Person ASMR-Erlebnisse hat oder nicht bzw. haben kann oder nicht. Es ist leider fraglich, was die Soziologie zur Analyse dieser Umstände beizutragen hat, nichtsdestotrotz aber interessant, weil die andern beiden Funktionen der Entspannung und der Einschlafhilfe scheinbar keine Abstumpfung erfahren. Unter einem Video kommentiert eine Frau, sie habe ihre Tingles verloren und schaue ASMR jede Nacht zum Einschlafen. Neben einem Emoticon euphorischen Lachens fügt sie an, sie sei süchtig und ihr könne nicht geholfen werden – über 1500 Menschen gefiel der Kommentar.

Die Ursprünge des Genres, um ganz grundsätzlich anzufangen, liegen in dem Phänomen des Flüsterns. „In the beginning there was ‚Whisper 1‘. And it was good“ verkündet ein YouTube-Kommentar mit Verweis auf den Namen des eher nachträglich populär gewordenen Videos einer Frau aus dem Jahr 2009. Ihr Kanal „WhisperingLife“ war der erste dem Flüstern gewidmete YouTube-Kanal, lange bevor in Facebook-Foren Jahre später das neologistische Akronym ASMR für die bei genauerer Betrachtung inhaltsleeren Worte „Autonomous Sensory Meridian Response“ kreiert wurde. Bereits einfachste Überlegungen lassen uns nun das Flüstern als eine spezifische Art der menschlichen Kommunikation erkennen. Wir flüstern unsere Kinder in den Schlaf. Wir flüstern, wenn wir einer anderen Person Geheimes oder Intimes berichten, beispielsweise gemeinsam im Bett liegend in einer dünnwandigen Wohnung. Wir flüstern, wenn eine zu große Lautstärke in der aktuellen Situation unangebracht wäre, wie beim zweisamen Warten im Arztzimmer. Das Flüstern, linguistisch gesprochen das dauerhaft ohne Stimmlippenvibration erfolgende Sprechen, erfüllt hier verschiedenste Funktionen. Stets dient es aber der Herstellung von etwas Vertrautheit und Intimität innerhalb einer Situation. Auch der ASMR-Szene dient das Flüstern als zentrales Werkzeug zur Konstruktion einer vertraulichen Zweisamkeit und Intimität – von dem Psychologen Claus-Christian Carbon etwas abschätzig als „Illusion des Intimen“ und „Pseudointimität“ bezeichnet. Die monologischen Videos werden insbesondere in den verschiedenen Rollenspielen (z.B. Haarschnitt beim Frisör, ärztliche Untersuchung, Spa-Besuch) als Dialoge inklusive passender Sprechpausen und affirmativer Hörersignale ausgestaltet. Die dem Flüstern inhärente Intensivierung des Nähe-Gefühls menschlicher Kommunikation führte zunächst dazu, dass ein älterer Begriff für das Genre „Attention Induced Euphoria“ lautete – aufmerksamkeitsinduzierte Euphorie.

Für eine tiefergehende Ergründung des ASMR-Phänomens müssen wir uns nun – über das Flüstern hinaus – mit dem Geräusch-Begriff und der auditiven Wahrnehmung von Geräuschen in der alltäglichen Lebenswelt (begriffen nach Alfred Schütz und Edmund Husserl als natürlich d.h. vorwissenschaftlich erschließbarer Gesamtzusammenhang der Lebenssphäre) beschäftigen, um diese gegen eine neue Qualität auditiver Wahrnehmung, wie sie, wie ich behaupten möchte, in der ASMR-Szene praktiziert wird, abgrenzen zu können. Die schwache Sensibilität der Menschen für die Qualität der Geräusche in der alltäglichen Lebenswelt bildet dabei einen zentralen Ausgangspunkt. Stark vereinfacht ist gemeint, dass Menschen Geräusche in ihrem Sein oder Nicht-Sein und ihrer Funktion wahrnehmen, selten jedoch in ihrer Modalität, ihrer Art und Weise, ihrer spezifischen Klangqualität. Gegen diese Prämisse einer schwachen Sensibilität mag man zurecht einwenden, dass es auch jene alltäglichen Geräusche sind, die unseren Alltag massiv strukturieren oder, soziologisch gesprochen, in seiner Komplexität reduzieren, insofern also von hoher Relevanz sind. Auf die Frage, worin dieschwacheSensibilität also genauer besteht, kommen wir gleich zurück. Es geht zunächst schlichtweg um Geräusche, die wir wahrnehmen und auf die wir Reaktionen zeigen. Wir hören morgens unseren Wecker, die piepend zubereitetes Essen verkündende Mikrowelle, auf dem Weg zur Arbeit das Martinshorn der Rettungskräfte, später das Rufen der Chefin aus dem Nebenraum, zu Hause dann das weinende Kind, nachdem es hingefallen ist. Die Geräusche, die wir dort wahrnehmen, erfüllen allesamt eine bestimmte Funktion, beispielsweise das pünktliche Aufstehen im Falle des Weckers, eine effiziente Morgenroutine im Falle der Mikrowelle oder das Ermöglichen einer Lebensrettung im Falle des Martinshorns. Diese Erkenntnis erscheint zunächst trivial. Wir können sie allerdings dahingehend erweitern, dass auch die Abwesenheit von Geräuschen bestimmte Funktionen erfüllt, beispielsweise vermittelt uns das keinen Ton von sich gebende Babyphon, während das Kind im Nebenraum schläft, die Sicherheit, uns zunächst schlafen legen zu können. Genau genommen ließe sich jeder Negation der oben beschriebenen Geräusche eine Funktion zuweisen. So muss man, solange die Mikrowelle kein Geräusch von sich gibt, nicht in die Küche eilen und wo kein Martinshorn erklingt, werden auch keine PKWs in kollektiven Aktionen Platz für Rettungswägen schaffen. Das Martinshorn reduziert in seiner Indexikalität insofern die Komplexität der sozialen Umwelt, indem es die Sicherheit für Verkehrsteilnehmer*innen schafft, sich (bis auf wenige Ausnahmen – das Freihalten von Feuerwehrausfahrten ist so eine) nur in dem Moment um die Mobilität von Rettungskräften Gedanken machen zu müssen, wenn sie das Martinshorn vernehmen. So viel zunächst zur Funktionalität von Geräuschen.

Diese Ausführungen sind nun hingehend der Frage, was sie zu einer Untersuchung über das ASMR-Phänomen beitragen, erklärungsbedürftig: Ich möchte auf Grundlage der oben getätigten Darstellung der Funktionalität von Geräuschen die bereits angedeutete These aufstellen, dass die Besonderheit des ASMR-Phänomens darin besteht, dass jedes ASMR-Stück die Produktion und Rezeption von Geräuschen zuvorderst als inhaltlosen, klangvollen und performativen Selbstzweck etabliert, zelebriert, vor allem aber legitimiert und mittels dessen eine neue Qualität bzw. ein neuer Modus auditiver Wahrnehmung für den Menschen eröffnet. Erweitert gefasst – das werden wir später feststellen – lässt sich behaupten, dass alle Nicht-Gehörlosen diesen Modus der auditiven Wahrnehmung kennen – er insofern nichts genuin Neues darstellt –, ihm jedoch in der alltäglichen Lebenswelt wenig bis gar keinen Raum gewähren. (An dieser Stelle sei ausgeblendet, dass die ASMR-Szene teilweise auch mit visuellen Stimuli arbeitet. Die Einbeziehung der Funktion und Wirkungsweise visueller Stimuli in der ASMR-Szene kann gewinnbringend sein, für die Belange unserer Betrachtung ist es jedoch nicht notwendig.)

Wir müssen nun, so wir das Flüstern als zentrales Symbol (Videos von ASMRtists, in denen nicht geflüstert wird, werden explizit als „non asmr“ gekennzeichnet) und Werkzeug der Szene begreifen, für eine angemessene Betrachtung unseren oben umrissenen Geräusch-Begriff – d’accord mit linguistischen Definitionen aber entgegen unser Intuition – auf den auditiven Teil menschlicher face-to-face-Kommunikation (im Falle von ASMR also auf das Flüstern) ausweiten. Schließlich sind es nur in den seltensten Fällen menschenlose Videos, die unter der ASMR-Rubrik veröffentlicht werden. Menschliche Sprache und Menschen, die Geräusche erzeugen, sind der Kern fast aller ASMR-Stücke, sodass wir in dieser Untersuchung mit der Grimmschen Begriffsdefinition, die Geräusche als „Getöse, Lärm, SchallirgendwelcherArt und Stärke“ fasst, arbeiten werden.

Neben der Stimme erfolgt die Geräuschproduktion in erster Linie durch Gegenstände jedweder Art. Hände, Stimme und Gegenstände (in Werken besonderer Ästhetik bemüht man sich zusätzlich um eine Nähe zu den Geräuschen der Natur) werden in allen erdenklichen Kombinationen miteinander in Kontakt gebracht, um noch das letzte unbekannte Geräusch auf seine potentiell „befriedigende“ Wirkung zu untersuchen. Gegenstände werden beklopft, zerkratzt, aneinander gerieben. In der alltäglichen Lebenswelt wird das Deodorant zur Körperhygiene benutzt, in der ASMR-Szene erzeugt es Klänge, die hunderttausendfach geklickt werden. Was in der einen Welt absurd wirkte – alle Gegenstände auf ihre Klangqualität hin zu untersuchen und zu bewerten („Diese gefüllte Glasflasche klingt aber schön, wenn ich sie rhythmisch abklopfe!“) -, ist in der anderen „Welt“, der ASMR-Szene, nicht nur vollständig legitim, sondern eine konventionelle Notwendigkeit. Die Gegenstände sind dabei weniger Mittel zum Zweck als zentrales Element der ASMR-spezifischen Interaktionssituation. Sie werden mittels des „tapping“ oder anderer Techniken – wie es ein bekannter ASMRtist einmal formulierte – „kennengelernt“ und damit schon semantisch als Individuen verstanden. Auch Worte werden nicht einfach geflüstert, sie werden auf eine bestimmte Art und Weise mal mehr, mal weniger zelebriert, in die Länge gezogen, hyperartikuliert, mit Klick- und Schnalzlauten oder Handgeräuschen zu ganzen Klangkonzerten ausgeschmückt. Eine Praxis, die in der alltäglichen Lebenswelt auf völliges Unverständnis stoßen würde.

Die explizite Leistung der ASMR-Szene besteht nun darin, durch eine Legimitierung der inhaltlichen Irrelevanzsetzung diese neuen Sphären der Geräuschproduktion und -rezeption überhaupt zu eröffnen. In dem Moment also, in dem der Inhalt für Produzent*in und Rezipient*in (zugebenermaßen nicht vollständig, sondern lediglich sehr weitgehend) irrelevant gesetzt wird, ändern sich die innerhalb der Interaktionssituation möglichen Modi der Geräuschproduktion und -rezeption. Betrachten wir andere Genre, z. B. Reise-Berichte, Lifestyle-Vlogs, Schminkvideos oder Politik-Erklärformate, die nicht durch einen ASMR-Stempel diese inhaltliche Irrelevanzsetzung genießen, wird unsere soeben getroffene Feststellung verständlicher: So kann in ASMR-Videos ohne gesonderte Rechtfertigung über politische Inhalte, wichtige Lebensereignisse, Schminktipps oder neuste Fashion-Highlights gesprochen bzw. geflüstert werden. Andere Genres könnten bei der plötzlichen Produktion inhaltsirrelevanter Videos hingegen nicht mit Statuskontinuität rechnen. Eine YouTuberin, die mit politischen Inhalten bekannt geworden ist, und ein YouTuber, der sonst Schminktipps und Kleidungstrends in seinen Videos verarbeitet, täten schwer daran, in ihren Videos plötzlich nur noch zu flüstern, Wörter und Sätze dutzendfach zu wiederholen und künstlich in die Länge zu ziehen, Klick- und Schnalzlaute hier und da einzustreuen und zu allem Überfluss noch wild mit den Händen rumzufuchteln – außer eben sie schrieben „ASMR“ in den Videotitel.

Um aber zum Grundsätzlichem zurückzukehren: Während wir in der alltäglichen Lebenswelt permanent nach der Funktion, dem Zweck der an uns gerichteten Mitteilungen (hier: Sprache und Geräusche) suchen, erscheint diese Suche in ASMR-Videos in inhaltlicher Hinsicht weitestgehend sinnlos oder mindestens nicht zentral. Man hätte das Genre nicht verstanden, schaute man ASMR-Videos nur in der Intention, die Funktion der kommunizierten Inhalte des ASMRtists zu dechiffrieren. Schon die Frau hinter dem Kanal „WhisperingLife“ erklärt in ihrem ersten Video, dass sie gar nicht so recht mitbekomme bzw. mitbekommen wolle, was Menschen, die flüstern, tatsächlich sagen – „I just kind of like listening because it is just really, really soothing“. Dies heißt nun jedoch nicht, dass jegliche Geräuschproduktion in ASMR-Videos, beispielsweise das Flüstern, inhaltsleer ist, also in vollständiger Abkopplung von einem imaginierten Kommunikationspartner produziert und rezipiert wird – eine Transkription eines ASMR-Videos hätte schon einen irgendwie gearteten inhaltlichen Gehalt. Weitgehende inhaltliche Irrelevanz darf nicht mit einer konstanten inhaltlichen Leere verwechselt werden. Vielmehr unterliegen die Geräusche in ASMR-Videos keiner Beurteilung hinsichtlich dessen, ob sie in einem Raum-Zeit-Kontinuum tatsächlich stattfinden (Ertönt in der Ferne ein Martinshorn?) und was sie bedeuten (Ist es ein Martinshorn, meine Mikrowelle oder ein weinendes Kind?), so wie es die alltägliche Lebenswelt permanent erfordert. Die Rezeption von ASMR-Videos erfolgt wie bereits ausgeführt überwiegend dahingehend, dass jedes Geräusch auf seine Klangqualität, die performative Leistung der ASMRtists, diese Klangqualität zu optimieren, und die individuelle Passung des Rezipient*innen zu der Klangatmosphäre hin untersucht und bewertet wird.

An dieser Stelle sei auf die Parallelität zur Rezeption von Musik hingewiesen. Auch musische Werke – und das mag man den bisherigen Ausführungen kritisch ankreiden – genießen in gewisser Hinsicht größere Freiheiten in der Geräusch- bzw. Klangproduktion und -rezeption als in der Interaktion der alltäglichen Lebenswelt. Die Musiker*innen operieren in ihrer Branche allerdings in inhaltlich und strukturell engeren Grenzen als die Künstler*innen der ASMR-Szene. Man kann in der Musik keineswegs von einer weitgehenden Irrelevanzsetzung des Inhaltes sprechen. So findet ein melodisches Summen oder sanfte Hintergrundmusik in ASMR-Stücken seinen prominenten Platz während sich das Herumexperimentieren, beispielsweise mit Mundgeräuschen, in der Musikszene offensichtlich Grenzen ausgesetzt sieht (auch Beatboxing bzw. Vocal Percussion nutzt nicht alle Möglichkeiten aus, die der Vokaltrakt bietet) und ein flüsterndes Singen oder ein gesungenes Flüstern schon rein stimmtechnisch einem Menschen de facto nicht möglich ist. Das Phänomen des Beatboxing ist insofern interessant, weil es aufgrund der Verwendung des Vokaltraktes zur Geräuschproduktion eine Nähe zur ASMR-Szene aufweist und wiederum erfolgreich in einer sanfteren Variante in die Szene integriert wird. Soweit der kleine Exkurs zu der Verbindung von Musik und ASMR.

Die Irrelevanz des geflüsterten Wortes in der ASMR-Szene, um zu diesem Gedanken zurückzukehren, geht dabei so weit, dass eine der beliebtesten Kategorien des Genres die des „inaudible/unintelligible whispering“ ist, wobei das Flüstern zu einer kryptischen Kauderwelsch-Artikulation verkommt. Auch fremdsprachige ASMR-Videos dienen dieser Kategorie, was sich beispielsweise in lobenden Kommentaren englischsprachiger Rezipient*innen unter finnischen ASMR-Videos zeigt. Auch die Tatsache, dass viele ASMR-Rezipient*innen tagtäglich die gleichen Videos, beispielsweise zum Einschlafen, konsumieren, verweist darauf, dass es nicht die inhaltliche Relevanz des Videos sein kann, die sie in den Bann zieht. Wer würde sich schon freiwillig dutzende Male die exakt gleiche Geschichte von einem Freund erzählen lassen oder täglich den gleichen Blockbuster schauen? Nein, es ist die atmosphärische Klangqualität und überzeugende Performanz des ASMRtists, die die Rezipient*innen zu den Videos zurückkehren lässt.

Oben wurde behauptet, dass diese neue Qualität, dieser neue Modus der Geräuschproduktion und -rezeption nichts genuin Neues darstellt und wohl alle Nicht-Gehörlosen diesen Modus kennen, d.h auch fähig sind, ihn zu „praktizieren“. Dieser Gedanke bedarf noch einer Erklärung. Wir müssen feststellen, dass uns in der alltäglichen Lebenswelt durchaus Situationen widerfahren, in der wir ein quasi Innehalten praktizieren und – ähnlich der Rezeption von ASMR-Videos – die genuine Klangqualität der Geräuschatmosphäre unserer situativen Umgebung beobachten, bewerten und in einer innigen Würdigung zelebrieren. Man denke an ein- oder zweisame Spaziergänge durch mit sanftem Wind und melodischem Vogelzwitschern durchtränkte Wälder, die wohligen, zur Nacht leiser werdenden Töne der auserwählten Urlaubsstadt, wenn wir auf dem Bett liegend den Tag nochmal an uns vorbeiziehen sehen oder was der Autor Clemens Setz einmal mit Bezug auf die Atmosphäre einer Bibliothek treffend als „herrliche Menschengeräusche“ bezeichnete: „Das Umblättern, das leise Kratzen von Bleistiften, das vorsichtige Wühlen in einer Handtasche.“ In diesen Momenten rezipieren wir die Geräusche nicht im Hinblick auf ihren funktionalen Inhalt oder ihre Bedeutung. (Wie viele Vögel sind im Wald und wie stark weht der Wind eigentlich? Wie viel ist noch in der Stadt los und lohnt es sich nochmal rauszugehen? Was nimmt die Kommilitonin aus ihrer Handtasche und was genau liest sie?) Gewisse Sphären der Geräuschproduktion und -rezeption sind in der alltäglichen Lebenswelt aber aufgrund fehlender Legitimation schlichtweg nicht auf jene Art und Weise erschließbar, wie sie es in der ASMR-Szene sind, sodass den ASMR-Rezipient*innen das spezielle ASMR-Erlebnis vorerst auf die digitale Sphäre der Szene beschränkt bleibt. So ist es nicht vorstellbar, dass es in naher Zukunft ASMR-Festivals geben wird, die ein wohliges Geräusch-Wochenende für das optimale ASMR-Erlebnis versprechen – diese Tatsache hat aber auch etwas mit der Wirkungsweise der in der Szene verwendeten hochempfindlichen Mikrofone zu tun, die ein Geräuschempfinden besonderer Qualität ermöglichen.

Der Autor Clemens Setz zeigte sich 2015 in seinem lesenswerten Beitrag für die Süddeutsche Zeitung fasziniert, dass Menschen heute „anhand extremer Monotonie größte Glücksgefühle erleben.“ Das Schöne an der ASMR-Kunst sei, dass man nie wissen wolle, was als nächstes kommt. ASMR kenne keine Spannung. „Die Frage ‚Und dann?‘ ist völlig substanzlos.“ Eine simple, aber doch treffende Zusammenfassung. Setz‘ Feststellung ist soziologisch insofern interessant, weil nicht jede Monotonie der alltäglichen Lebenswelt uns zur Entspannung oder als Einschlafhilfe dient, geschweige denn ein wohliges Kribbeln am ganzen Körper verursacht. Man denke an Fließband-Tätigkeiten, Steuererklärungen, bestimmte, hohe Konstanz voraussetzende Sportarten wie Bowling oder Darts aber auch der allmorgendliche Weg zur Arbeit. Was die spezifische Monotonie des ASMR-Genre ausmacht, bleibt deshalb ein offenes Forschungsfeld, wenn ich auch hoffe, mit diesem Text einen Beitrag zu dieser Frage geleistet zu haben.

Wir haben ausgehend von einer Überlegung zur Funktionalität von Geräuschen die genuine Qualität der Geräuschproduktion und -rezeption in der ASMR-Szene analysiert, eine zentrale Ursache oder sogar die Ursache dafür in der Legitimierung der inhaltlichen Irrelevanzsetzung gefunden und die Szene selbst anschließend an diesen Gedanken von anderen Genres abgegrenzt. In dieser Untersuchung ungeklärt und damit Ausgangspunkt für weitere Arbeiten bleibt zunächst, weshalb ein solches Audiomaterial offensichtlich für ein Entspannungsgefühl sorgt und den Rezipient*innen erfolgreich als Einschlafhilfe dient. Erste Überlegungen – bei aller soziologischen Demut – könnten ihren Anfang nehmen in der spezifischen Kombination aus Flüstern, Monotonie und einer bestimmten Ruhe, wie sie der ASMR-Szene eigen ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Steven Hartig

Freier Journalist und Autor

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