Kontroverser Richterspruch

Pistorius-Urteil Der prominente Paralympiker wurde wegen fahrlässiger Tötung seiner Freundin Reeva Steenkamp verurteilt. Richterin Masipas Spruch ist umstritten.

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Das Urteil im Prozess gegen den Paralympia-Sportler Oscar Pistorius löst in Südafrika kontroverse Gefühle und Debatten aus. Der als "Blade Runner" bekannte beinamputierte Sprinter, war am Freitag (12.09.2104), nach 43 Prozesstagen, der fahrlässigen Tötung seiner Freundin Reeva Steenkamp für schuldig befunden worden. (Siehe auch hier: https://www.freitag.de/autoren/sizwe/blade-runner-am-abgrund)

Der Verurteilte bleibt bis zur Verkündung des Strafmaßes am 13. Oktober weiterhin auf freiem Fuß. Seine Kaution wurde verlängert.

„Ich bin entäuscht von der Richterin“, sagte Thandi, meine Frau. „Da kommt einer, der eine junge Frau erschossen hat, so leicht davon. Und kein Wort über das Opfer.“ Das bringt die Gefühle und Meinungen vieler Menschen hier zum Ausdruck. In Diskussionen, Artikeln, den „neuen Medien“ beklagen viele dies als weiteres Beispiel für die „zu milde“, unzulängliche Justiz im Umgang mit der Kriminalität.

Die „öffentliche Meinung“ hatte ihr Urteil längst gefällt. Der gesamte Mord-Prozess konnte bekanntlich live im Fernsehen verfolgt werden. Die TV-Nation wurde zudem überschüttet mit Expertenrunden, Experten-Kommentaren, ständigen Wiederholungen, „human interest“-Stories. Man konnte dem kaum entrinnen.

Die emotionalen und kritischen Reaktionen nach dem Urteil sind zunächst verständlich. Zum einen geht es hier um einen reichen Prominenten, der sich ein teures Verteidigerteam und viele Experten leisten kann. Zum anderen werden in Südafrika mehr als ein Tausend Frauen pro Jahr von ihren Intimpartnern getötet. Der so genannte "intimate partner femicide" ist die häufigste Ursache für Frauenmorde.

Doch Richterin Thokozile Masipa und ihre beiden Beisitzer waren der Auffassung, die Staatsanwaltschaft habe ihre Anklage wegen vorsätzlichen Mordes nicht zweifelsfrei Nachweisen können. Deshalb, in dubio pro reo, ging die Richterin von der Version des Angeklagten Pistorius aus. Er, Pistorius, habe sich bedroht gefühlt, einen Einbrecher im Badezimmer vermutet und dann viermal auf die verschlossene Toilettentür geschossen. Dass statt eines Einbrechers seine Freundin Reeva Steenkamp hinter der Tür stand, habe er nicht gewußt, so der „Blade Runner“.

In ihrer sehr ausführlichen und sorgfältigen Urteilsbegründung stellt Thokozile Masipa jedoch fest, dass die Aussage des Paralympikers im Zeugenstand widersprüchlich und wenig zuverlässig war. Aber, wer lügt oder sich widerspricht ist noch nicht gleich schuldig im Sinne der Anklage, so die Richterin.

Die Behinderung, bzw. Verletzlichkeit des beinamputierten Pistorius ließ sie nicht als Argument gelten. Dies war eines der Hauptlinien der Verteidigung. Oscar Pistorius, so Masipa, stehe nicht allein mit seiner Verletzlichkeit. Viele Menschen – auch Kinder, Frauen, ältere Menschen – seien besonders verletzlich, wenn sie Gewaltätigkeiten ausgesetzt sind. Sollten sie sich alle bewaffnen, um sich zu verteidigen?

Damit sprach die Richterin einen Aspekt an, der gern unter den Teppich gekehrt wird. Es gibt die weit verbreitete Auffassung, es sei normal und zulässig, äußerste Waffengewalt bereits dann einzusetzen, wenn man sich nur bedroht fühlt. Dem widerspricht die Richterin. Sie sagt, wäre der Paralympiker, beispielsweise, aufgewacht und hätte im Dunkeln eine schattenhafte Figur sich über ihn beugend gesehen und dann, in Panik, zur Waffe gegriffen, so wäre das noch verständlich. Aber so, wie er selber die Vorgänge an jenem 14. Februar 2013 geschildert hat, hätten ihm alternative Handlungsweisen zur Verfügung gestanden. Der Angeklagte habe genügend Zeit gehabt, den Wachdienst bzw. die Polizei anzurufen oder auf den Balkon zu gehen und um Hilfe zu schreien.

Masipa bezeichnete die Handlungen des Angeklagten als zu hastig und fahrlässig. (“I am of the view that the accused acted too hastily and used excessive force. In the circumstances it is clear that his conduct was negligent.”) Dieser Einsatz äußerster Gewalt sei nicht die Handlung eines vernünftigen Menschen. (“I am not persuaded that a reasonable person … would have fired four shots into a toilet cubicle.”)

Nach dem Pistorius-Urteil ist klar: Reeva Steenkamp wäre heute noch am Leben, hätte ihr Freund keine 9-mm-Pistole im Haus gehabt, noch dazu geladen unter seinem Bett. (Als ich diesen Gedanken noch während des laufenden Prozesses vorbrachte, entgegnete man mir oftmals flapsig, dann hätte er sie eben mit dem Cricketschläger erschlagen.)

Die Politik, denke ich, sollte dringend über restriktivere Waffengesetze nachdenken und diese einführen. Geschätzte 5,95 Millionen Feuerwaffen sind hierzulande in privater Hand. Es gibt fast zwei Millionen registrierte Waffenbesitzer und 3,737 Millionen registrierte Privat-Waffen (Quelle: http://www.gunpolicy.org). Die Dunkelziffer der tatsächlich vorhandenen privaten Waffen ist wahrscheinlich viel höher. Bereits der „legale“ Waffenbesitz ist augenscheinlich höchst gefährlich genug. Insbesondere wenn die Waffen-Besitzer eher instabile oder rücksichtlose (reckless) Persönlichkeiten sind, wie im Fall Pistorius. Das Argument, „Waffen schützen“ halte ich für grundfalsch. Doch die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung ist bei Kriminal-Prozessen meist kein Gegenstand – und wird im Zusammenhang mit dem Pistorius-Prozess von niemandem aufgegriffen.

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