Der Brexit war der Beweis dafür, dass Wahlen und Volksabstimmungen undemokratisch sind und die Ergebnisse dieser Wahlen der schnellste Weg zur gesellschaftlichen Auflösung sind. Den Brexit gab es nur, weil David Cameron seine Karriere retten wollte, in der Erwartung, die Briten würden schon dagegen stimmen. Boris Johnson war die Gallionsfigur für den Brexit. Auch er dürfte wohl erwartet haben, dass es dazu nicht kommt.
Wie komplex das Thema Brexit ist, erfahren wir jetzt erst nach und nach. Die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU werden sich über Jahre hinziehen, was der Brexit für die britische und europäische Wirtschaft bedeutet, deutet sich gerade erst an. Was der Brexit politisch und gesellschaftlich für das Vereinigte Königreich bedeutet, ist unklar. Positive Auswirkungen deuten sich bisher allerdings nicht an. Trotzdem gab es nur die Wahl zwischen „Stay“ und „Leave“. Und diese Entscheidung wurde den Bürgern überlassen, obwohl es klar war, dass niemand die Auswirkungen der Entscheidung überblicken konnte. Die Kampagnen waren getragen von persönlichen Eitelkeiten, die Medien haben nicht ausreichend informiert und das Ergebnis fiel dementsprechend aus. Wenn das Demokratie ist, dann ist bereits zu spät.
Damit beweist das Brexit-Referendum, dass die Methoden und Prozesse entwickelter Demokratien veraltet und nicht mehr dazu geeignet sind, die politische Willensbildung im 21. Jahrhundert zu tragen. Angedeutet hat sich das seit langem. Seit Jahrzehnten ist die Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen rückläufig. Dafür gibt es Gründe: die gesellschaftlichen und politischen Milieus der Fünfziger und Sechziger Jahre lösen sich auf. Die Volksparteien verlieren ihre Basis. Das klassische Arbeitermilieu, die Basis der SPD gibt es nicht mehr. Auch die wertkonservative, ländliche Klientel der CDU hat sich zunehmend aufgelöst. Der Eindruck mag sein, dass keine Partei eine Lösung für die immer komplexeren Probleme hat. Die Wahrheit ist, dass unsere politischen Strukturen und Prozesse nicht in der Lage sind, sich Veränderungen der Gesellschaft anzupassen. Sie sind erstarrt.
Das Resultat davon sehen wir jetzt in vielen europäischen Ländern: das Erstarken der rechtspopulistischen Parteien, die vermeintlich einfache Lösungen in einer immer komplexeren Welt haben. Daher rührt auch die „Alternativlosigkeit“ der etablierten Parteien. Sie können den einfachen Lösungen der Populisten nichts entgegensetzen, weil es keine einfachen Lösungen mehr gibt. Wolfgang Koschnick schreibt: „Die politische Krise ist die Folge einer strukturellen Reformunfähigkeit der Institutionen und ihrer Politiker, einer wachsenden Kluft zwischen den Bürgern und Regierungen, zwischen Wählern und Volksvertretern, zwischen Gesellschaft und Staat. Als Regierungsform stoßen die Demokratien an ihre Grenzen, weil sie nicht mehr leisten, wozu sie da sind: die Interessen aller zu wahren und ihren Völkern ein gutes Leben zu ermöglichen. Sie dienen nicht mehr dem Gemeinwohl, sondern nur noch den Interessen einzelner Gruppen.“
Man kann der AfD vorwerfen, sie wolle Deutschland wieder in die Fünfzigerjahre führen. Wahrscheinlicher ist aber, dass wir immer noch in den Fünfzigerjahren sind, was unsere Demokratie angeht. Die Gesellschaft hat sich allerdings weiterentwickelt. Im Interview mit dem Spiegel (31/2016) sagt der belgische Historiker David van Reybrouck: „Wahlen und Volksabstimmungen sind primitiv und alt, sie sind dem Leben im 21. Jahrhundert nicht angemessen.“ Dabei spielen die sozialen Medien eine Rolle: wer die Gelegenheit habe, seine Stimme zu äußern, gehört zu werden, wolle von Politikern auf eine andere Weise ernst genommen werden. Das leiste aber unser politisches System zur Zeit nicht.
Das erklärt aber auch den Erfolg der AfD und anderer populistischer Bewegungen, die auf die Straße und in die Parlamente drängen. Die AfD ist ein Produkt unserer Form von Demokratie, nicht unserer Politiker oder Parteipolitik.
In unserer repräsentativen Parteiendemokratie gibt es zwei grundlegende Probleme: das eine sind die Parteien. Das andere ist die Repräsentativität. Wahlen führen nicht zu Repräsentativität und Parteien sind keine Keimzelle der Demokratie. Ganz im Gegenteil. Parteien sind streng hierarchisch gegliedert. Die Entscheidungen werden im Vorstand oder von der Fraktionsführung getroffen und der Fraktionszwang macht die Diskussion unmöglich.
Niemand steigt in einer Partei auf, ohne durch die Mühlen der Partei gedreht zu werden. Und wer trotzdem gegen die Vorgabe des Fraktionsvorsitzenden abstimmt, sollte sich besser keine Hoffnung mehr auf einen prominenten Posten in der Partei machen. Wer es wirklich in den Bundestag schafft, hat nicht mehr die Freiheit, seinem Gewissen zu folgen. Fraktionszwang oder Hinterbänkler. Parteien sind ein Relikt aus Zeiten, als es noch einfache Antworten gab: Dafür oder dagegen. Diese Antworten gibt es aber kaum noch. Die Parteien funktionieren aber immer noch so, als lebten wir in den Fünfziger Jahren.
Das zweite Problem ist die Repräsentativität. Unsere repräsentative Demokratie ist nicht repräsentativ. In der Meinungsforschung verstehen wir unter Repräsentativität eine Stichprobe, die in ihren soziodemographischen Merkmalen der Grundgesamtheit entspricht. Unsere Parlamente sollten also soziodemographisch der Gesamtheit der Wähler entsprechen. Man dürfte erwarten, dass einem repräsentativen Parlament Studenten, Hausfrauen, Arbeitslose, Arbeiter, Angestellte, Rentner, alleinerziehende Mütter, Männer, Frauen, Homosexuelle, Heterosexuelle, LGBT und Behinderte angehören.
Das ist aber nicht der Fall. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Hausfrauen, alleinerziehende Mütter, Hartz IV Empfänger, Frauen, Rentner und Studenten in allen Parlamenten unterrepräsentiert sind. Politik wird in Deutschland von Männern, Beamten, Juristen und Lehren gemacht. Leute, die von Wirtschaft oder Gesellschaft wirklich etwas verstehen, gibt es im Bundestag de facto nicht. Unsere Parlamente sind repräsentativ für die besser gestellten Schichten, nicht aber für die Gesamtheit der Wahlberechtigten. Wen wundert es, dass der Unterschied zwischen Arm und Reich immer größer wird?
Der Grund für diese Verzerrung hinsichtlich der Repräsentativität dürfte der sein, dass unsere Demokratie systematisch Beamte, Juristen und Menschen aus der öffentlichen Verwaltung bevorzugt. Beamte haben einfach mehr Zeit, als eine alleinerziehende Mutter, politisch aktiv zu sein. Insofern (neben einer Vielzahl anderer Gründe) hat dann eben auch nicht jeder die gleiche Chance, in ein politisches Amt gewählt zu werden. Demokratisch ist das nicht.
Die Mehrheit der Bevölkerung wird damit systematisch benachteiligt und Wahlen werden zu einem aristokratischen Verfahren, welches nicht die Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungsfindungen sicher stellt, sonder im Gegenteil dafür sorgt, dass weite Teile der Bevölkerung ausgeschlossen werden. Das mag nach den Erfahrungen in der Weimarer Republik und dem Zweiten Weltkrieg vielleicht sinnvoll gewesen sein, aber wir leben jetzt im dritten Jahrtausend. Die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen sind andere, unser politisches System hat sich aber nicht angepasst.
Die AfD, die Front National, Donald Trump und all die anderen rechtsgerichteten Kräfte sind keine Ausrutscher. Sie alle sind Warnsignale, dass etwas grundlegendes mit unserer Demokratie nicht stimmt. Es wird nicht helfen, sich diesen Kräften inhaltlich anzunähern, um ihnen die Wähler streitig zu machen. Es wird auch nicht helfen, sie zu diffamieren und auszuschließen.
Wenn Parteien der Demokratie im Weg stehen und Wahlen und Abstimmungen aristokratische Mittel sind, die lediglich einer Minderheit der Bevölkerung Vorteile verschaffen, dann sollten wir unsere demokratischen Prozesse überdenken und nicht Populismus mit Populismus bekämpfen. Dann könnte ein radikaler Umbau unserer demokratischen Prozesse weitaus effektiver sein, als ein „Weiter so“.
Wir sollten die archaischen politischen Prozesse und Institutionen wie Wahlen und Parteien durch etwas besseres ersetzen. Damit sind wir wieder bei der Meinungsforschung. Wenn eine Stichprobe nur dann repräsentativ ist, wenn jedes Element der Grundgesamtheit die gleiche Chance hat, in die Stichprobe zu gelangen, dann sollten Parlamente eben auch so besetzt werden: per Losverfahren. Oder aber die Stimmen der Parlamentsabgeordneten sollten entsprechend ihrem Anteil in der Bevölkerung gewichtet werden. Es ist die Qual mit Wahl. Lasst sie uns abschaffen. Wir leben im 21. Jahrhundert, es gibt bessere Verfahren. Zumindest sollten wir uns bewußt sein, dass unsere Abstimmungsverfahren, unsere demokratische Prozesse nicht nur technische Prozesse sind, sondern das Ergebnis einer Abstimmung mitunter maßgeblich beeinflussen.
Kommentare 7
Der Brexit war der Beweis dafür, dass Wahlen und Volksabstimmungen undemokratisch sind und die Ergebnisse dieser Wahlen der schnellste Weg zur gesellschaftlichen Auflösung sind.
Wenn der Brexit überhaupt irgendetwas beweist, dann nur, dass die Beherrschten aka "das Volk" und die Herrscher aka "die demokratisch legitimierten Repräsentanten der Macht, die vom Volke ausgeht" in völlig verschiedenen Welten leben. Das ist recht einfach einzusehen, sobald man diese Fragen nicht ideologisch betrachtet. Unideologisch betrachtet gibt es nämlich kein apriori-Wissen darüber, wie die Dinge zu sein haben, damit sie zum Besten aller Wesen sind. Dann gibt es nur noch die altbekannten Interessen- und Perspektivenkonflikte, deren einzige Ausgleichmöglichkeit im Kompromiss besteht.
Es lassen sich nach Stand der Dinge zwei Fragen stellen: zum einen, wer die Befugnis hat oder haben sollte, der Menschheit oder signifikanten Untergruppen davon vorzuschreiben, wie die die Dinge zu sehen und zu handhaben haben, und zum andern, ob die Mehrheit der Schafe nicht tatsächlich mit starken Schäfern und Hütehunden besser dran wäre, auf ihrem Weg zur Schlachtbank. Verwertet werden ohnehin alle.
Wahlen sind undemokratisch
wohl als Ergänzung zu Mausfelds unsinnigem Geschwätz gedacht, Demokratie ginge nicht im Kapitalismus zsammen.
Die Sonne scheint prächtig und voll demokratisch auf dieses reiche kapitalistische Land, da muss man sich nicht mit jedem Unsinn auseinander setzen.
Nein, aber muss durchaus darüber nachdenken, wie sinnvoll oder effektiv unsere demokratischen Prozesse sind, wenn sie zunehmend zu undemokratischen Resultaten führen. Wer das nicht tut, darf gerne über die Sonne reden
>>Das demokratische System versagt...<<
Oder das System versagt nicht, aber der Begriff "Demokratie" ist falsch.
Der Brexit ist so einfach nicht der Beweis für's Undemokratische (sondern nur für eine Entscheidung, die hier vielen nicht passt - was aber etwas ganz anderes ist). Aber grundsätzlich kann man natürlich viel besser als per Volksabstimmung entscheiden, in dem eine kleine Gruppe ausgeloster Bürger ausführlich berät, und zwar ausschließlich als Gutachter von Meinungen und Expertiesen anderer. Siehe Notiz nebenan.
Es kommt freilich darauf an , was man unter Demokratie versteht. Ist es das Abgeben einer Stimme, die dann bis auf weiteres weg ist und gefälligst zu verstummen hat, oder ist es die selbstbewusste Entscheidungskraft des Bürgers, seine aktive Partizipation bei der gesellschaftspolitischen Entscheidungsfindung entsprechend der politisch mündigen Verantwortung des Einzelnen, die Demokratie prinzipiell einfordert?
Die hierarchisch konkurrenzielle Ausgrenzngsstruktur des Kapitalismus kann nicht eine Horizontalität garantieren , die dem demokratischen Anspruch eines für alle gleichwertigen Mitbestimmungsrechts entspricht. Sie kann nur die Hierarchie in die politische "Entscheidungskultur" tragen, was sie ergo auch tut. Die hierarchische Struktur einer preußischen Post als nachweisbares Vorbild für Staaten und weltweite wirtschaftliche Organisation, sprich deren Managment widerspricht jeder Demokratie.
Wieso sollte der Bürger sich auf die Verantwortung der Parteien- und Staats- udn Wirtschaftshierarchien verlassen, wenn diese offenslichtlich die Interessen des Durchnschnittsbürgers nicht (mehr) vertritt, sondern in einer ökonomischen Geiselnahme durch die Finanzwirtschaft und andere Multinationale übers Stöckchen springt?
Wer meint das aktuelle politische Chaos entspringe dem Willen der Wähler, die an sich in Frieden leben wollen, was man mit einiger Sicherheit annehmen darf, der macht sich zum Herold einer Willkürherrschaft, die sich als Demokratie maskiert, um eigentumsmonomoplistische, hierarchische Strukturen zu schützen und zu einem Wasserträger, der seinem annonymisierten Unterdrücker die Stiefel leckt.
Das ideologische Narrativ, der Mythos des Kapitalimus ist längst am Brunnen gewesen und dabei zerbrochen. Immer mehr Bürger sehen tagtäglich, das zwar jeder im kapitalistischen Spiel Gewinnen könnte, aber faktisch nicht alle gleichzeitig. So wird der Kapitalismus zum antisozialen Modell schelthin, begründet auf Hybris und ausgehalten durch Fremdenfeindlichkeit, Rassisimus, Kriege, Rubzüge , Ausschluss und also die Krise , den Untergang des anderen. Von Demokratie keine Spur, denn das alles ist weder von Mehrheiten entschieden worden., noch von Mehheiten gewollt. Gäbe es also Demokratie könnte es nicht Wirklichkeit sein.
Der "Brexit" war eine unter den "Eliten" des Vereinigten Königreichs gehandelte Option - und es war ein Gedanke, mit dem auch Opportunisten wie David Cameron vor und während ihrer Amtszeit "spielten". Ein großes Unglück muss daraus nicht werden; aber eine Revolution der Armen war er auch nicht.
Ich finde aber, die Art, wie dieses Plebiszit ablief, drückt zweierlei aus: Orientierungslosigkeit, der kein Abstimmungsverfahren abhelfen kann (und - der Vollständigkeit halber sei es erwähnt - auch keine Diktatur). Die repräsentative oder parlamentarische Demokratie als Methodensammlung hat nicht versagt; es sind ihre Anwender, die versagen.
Damit will ich nicht ausdrücken, unsere Werkzeugkästen könnten keine Modernisierung oder Evolution vertragen. Timo Rieg scheint es schon »gesagt zu haben.
Eine interessante Vorgehensweise - aber sie erfordert Bürger, die nicht unter oder über der Armutsgrenze im totalen Hamsterrad stecken - ist James Fishkins deliberative Demokratie - bis zur totalitären Restauration Chinas in den letzten ca. zwei Jahren wurden solche Ideen auf lokaler Ebene auch an manchen Orten in China erprobt.
Aber reden wir unser Wahlsystem nicht herunter. Es gibt, soweit ich sehe, weltweit nicht viele bessere - aber viele schlechtere.