Slavoj Žižek liest Lea Ypi: Der Kampf um Freiheit endet nie
Gerechtigkeit Am Ende des europäischen Kommunismus gab es die weitverbreitete Hoffnung, dass Freiheit und Demokratie ein besseres Leben bringen würden. Doch diejenigen, die große soziale Projekte verfolgten, stellten Ideologie anstelle von Philosophie
Lea Ypi hat Philosophie und Literatur studiert und ist Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics. Ihr Buch „Frei: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ erschien 2022 auf Deutsch bei Suhrkamp
Foto: IMAGO/ TT
Lea Ypis Buch „Frei: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ wurde in ihrem Heimatland Albanien feindselig aufgenommen, und die Gründe dafür sind leicht zu verstehen. Ihre Selbstbeschreibung als „marxistische albanische Professorin für politische Theorie an der London School of Economics“ sagt alles.
Bei der Lektüre von Ypis Buch fielen mir die Parallelen auf zwischen ihrem Leben und dem von Wiktor Krawtschenko, dem sowjetischen Diplomaten, der sich bei einem Besuch in New York 1944 in die USA absetzte. Sein berühmter autobiografischer Bestseller I Chose Freedomwurde zum erstenbedeutenden Augenzeugenbericht über die Schrecken des Stalinismus, angefangen mit seiner detaillierten Beschreibung des Holodomor (Hungersnot) in der Ukraine An
I Chose Freedom wurde zum ersten bedeutenden Augenzeugenbericht über die Schrecken des Stalinismus, angefangen mit seiner detaillierten Beschreibung des Holodomor (Hungersnot) in der Ukraine Anfang der 1930er Jahre. Damals noch überzeugter Anhänger der sowjetischen Politik, war Krawtschenko an der Durchsetzung der Kollektivierung beteiligt gewesen und wusste also, wovon er sprach.Krawtschenkos öffentlich bekannte Geschichte endet 1949, als er in triumphaler Weise einen großen Verleumdungsprozess gegen eine französische kommunistische Zeitung gewann. Die Sowjets flogen zu dem Prozess in Paris seine Exfrau ein, damit diese ihn dort der Korruption, des Alkoholismus und häuslicher Gewalt bezichtigte. Das Gericht ließ sich davon nicht beeinflussen, doch die Menschen neigen dazu, zu vergessen, was dann geschah. Im Gefolge des Prozesses, während er weltweit als Held des Kalten Krieges gefeiert wurde, entwickelte Krawtschenko eine tiefe Besorgnis über die antikommunistischen Hexenjagden, die sich in den USA entfalteten. Den Stalinismus durch McCarthyismus zu bekämpfen, so warnte er, bedeute, sich auf das Niveau der Stalinisten zu erniedrigen.Die Reformation von Innen heraus Je länger er sich im Westen aufhielt, desto mehr wurden Krawtschenko dessen eigene Ungerechtigkeiten bewusst, und er wurde besessen davon, die westlichen Gesellschaften von innen heraus zu reformieren. Nachdem er ein weniger bekanntes Folgebuch zu I Chose Freedom mit dem Titel I Chose Justice geschrieben hatte, begann er einen Kreuzzug zur Entwicklung einer neuen, weniger ausbeuterischen Form wirtschaftlicher Produktion. Dieses Bemühen führte ihn nach Bolivien, wo er in einen erfolglosen Versuch investierte, die armen Bauern in neue Kollektive zu organisieren. Niedergeschmettert von diesem Scheitern, zog er sich ins Privatleben zurück und erschoss sich schließlich in seiner New Yorker Wohnung. Und nein: Dieser Selbstmord war keine Folge einer ruchlosen Erpressung vonseiten des KGB; er war Ausdruck seiner Verzweiflung und ein weiterer Beleg dafür, dass seine ursprüngliche Anprangerung der Sowjetunion immer ein echter Protest gegen die Ungerechtigkeit gewesen war.Ypis Frei tut in einem Band, was Krawtschenko in zweien tat. Als Albanien 1997 in den Bürgerkrieg abglitt, fiel ihre gesamte Welt in sich zusammen. Darauf beschränkt, sich in ihrer Wohnung zu verstecken und Tagebuch zu führen, während draußen die Kalaschnikows knatterten, traf sie eine außergewöhnliche Entscheidung: Sie würde Philosophie studieren. Doch noch außergewöhnlicher ist, dass ihre Auseinandersetzung mit der Philosophie sie zum Marxismus zurückführte. Ihre Geschichte ist ein Beleg für die Tatsache, dass die beißendsten Kritiker des Kommunismus häufig ehemalige Kommunisten sind, für die die Kritik am „real existierenden Sozialismus“ schlicht der einzige Weg war, ihren politischen Überzeugungen treu zu bleiben.Vom Aufstieg und Verlust der neugewonnenen Freiheit Frei ging aus einer früheren Abhandlung darüber hervor, wie sozialistische und liberale Vorstellungen von Freiheit zusammenhängen, und es ist diese Perspektive, die dem Buch seine Struktur verleiht. Der erste Teil, der beschreibt, wie die Albaner „die Freiheit wählten“, umfasst überaus lesenswerte autobiografische Erinnerungen an Ypis Kindheit während des letzten Jahrzehnts kommunistischer Herrschaft in Albanien. Während er alle Schrecken des Alltags beschreibt – Lebensmittelknappheit, politische Denunziation, Kontrolle und Misstrauen, Folter und harte Strafen –, ist er auch mit komischen Momenten durchsetzt. Selbst unter derart harschen und desolaten Bedingungen fanden die Menschen Wege, sich ein gewisses Maß an Würde und Ehrlichkeit zu bewahren.Im zweiten Teil, der Albaniens postkommunistische Turbulenzen nach 1990 beschreibt, stellt Ypi dar, wie die von den Albanern gewählte – oder ihnen vielmehr aufgezwungene – Freiheit daran scheiterte, Gerechtigkeit hervorzubringen. Dieser Teil kulminiert in einem Kapitel über den Bürgerkrieg von 1997; an diesem Punkt bricht die Erzählung ab und wird durch Auszüge aus Ypis Tagebuch ersetzt. Die Stärkte von Ypis Arbeit ist, dass sie selbst hier die großen Fragen in Angriff nimmt und untersucht, wie ehrgeizige ideologische Projekte gewöhnlich nicht im Triumph enden, sondern in Verwirrung und Orientierungslosigkeit.In den 1990er Jahren wurde ein derartiges Projekt durch ein anderes ersetzt. Mit dem Sturz des Kommunismus wurden die albanischen Normalbürger einem „demokratischen Übergang“ und „Strukturreformen“ unterworfen, die darauf ausgelegt waren, sie stärker „wie Europa“ mit seinem „freien Markt“ zu machen. Es lohnt sich, Ypis bittere Schlussfolgerung im letzten Absatz des Buches in voller Länge zu zitieren:„Meine Welt ist von der Freiheit so weit entfernt wie die, der meine Eltern zu entfliehen suchten. Beide werden diesem Ideal nicht gerecht. Doch nahmen ihre Versäumnisse jeweils eigene Formen an, und wenn wir unfähig sind, diese zu verstehen, werden wir für immer gespalten bleiben. Ich habe meine Geschichte aufgeschrieben, um zu erklären, auszusöhnen und den Kampf fortzuführen.“Zuerst kommt Verständnis, dann Veränderung Dies ist eine ironische Zurückweisung von Marx’ 11. These über Feuerbach, in der Marx bekanntlich anmerkt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ Die Gegenposition ist, dass man die Welt nicht zum Besseren verändern kann, sofern man sie nicht zuerst versteht. Dies ist der Punkt, an dem die großen Initiatoren sowohl der kommunistischen als auch der liberalen Projekte zu kurz gesprungen sind.Die Schlussfolgerung freilich, die Ypi aus dieser Erkenntnis zieht, ist nicht die zynische Position, dass sinnvolle Veränderungen entweder unmöglich oder unausweichlich sind. Sie lautet vielmehr, dass der Kampf (um die Freiheit) weitergeht und nie endet. Ypi empfindet also eine Verpflichtung gegenüber „all den Menschen der Vergangenheit, die alles geopfert haben, weil sie nicht apathisch waren, nicht zynisch, und nicht glaubten, dass die Dinge sich von selbst regeln werden, wenn man sie einfach ihren Lauf nehmen lässt“. Hierin liegt unser globales Dilemma. Wenn wir glauben, dass die Dinge sich von selbst regeln, wenn man sie nur ihren Lauf nehmen lässt, sind die Folge zahlreiche Katastrophen – vom ökologischen Zusammenbruch und dem Aufstieg des Autoritarismus bis hin zu sozialem Chaos und Auflösung. Ypi kanalisiert, was der Philosoph Giorgio Agamben als „Mut der Hoffnungslosigkeit“ bezeichnet hat: seine Erkenntnis, dass passiver Optimismus ein Rezept für Selbstgefälligkeit und somit eine Hürde für sinnvolles Denken und Handeln ist.Am Ende des Kommunismus gab es eine weitverbreitete, euphorische Hoffnung, dass Freiheit und Demokratie ein besseres Leben hervorbringen würden; letztlich jedoch haben viele diese Hoffnung verloren. Dies ist der Punkt, an dem die wahre Arbeit beginnt. Ypi bietet letztlich keinen einfachen Ausweg an, und darin liegt die Stärke ihres Buches. Diese Zurückhaltung macht es zu einem philosophischen Werk. Es geht nicht darum, die Welt blind zu verändern; es geht zunächst und vor allem darum, sie wahrzunehmen und zu verstehen.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.