Angesichts der vor einer Woche erzielten Vereinbarung wurde und wird überall über das iranische Atomprogramm und die stets damit gerechtfertigten Wirtschaftssanktionen gegen das Land diskutiert. Dabei geht es in Wirklichkeit um viel mehr als das: Wir erleben gerade die Neuordnung des ganzen Mittleren Ostens, wenn nicht der gesamten Welt. Die geopolitischen Implikationen des Abkommens werden jedoch vermutlich erst im Laufe der nächsten Jahre nach und nach offen zu Tage treten. Gemeinsam mit dem Minsker Abkommen vom Februar und einer hoffentlich kommenden Einigung in Südostasien könnte der Vertrag so etwas wie das "Tordesillas des 21. Jahrhunderts" werden.
Dass es beim fast überall hochgelobten Abkommen nicht in erster Linie um Nuklearfragen gehen soll, dürfte für die meisten erst einmal wenig überzeugend klingen. Denn natürlich handelt der Vertragstext rein inhaltlich vom "umstrittenen" Atomprogramm und den Sanktionen, und es wurde bekanntlich lang und breit über die Modalitäten gestritten, wie beides abgebaut und dies überwacht werden soll. Aber war denn das iranische Atomprogramm je mehr als ein Symbol für den scheinbar unversöhnlichen Antagonismus zwischen Teheran und Washington (und Jerusalem)? Zwei Staaten in der Region verfügen bereits über Atomwaffen. Selbst wenn der Iran auch solche entwickelte, würde das nur insofern einen praktischen Unterschied bedeuten, als das Land dann nicht mehr ohne Weiteres von den USA (und Israel) angegriffen werden könnte. Diese Drohung lag, wie immer ernst gemeint, in den letzten Jahren stets in der Luft und diente rechten PolitikerInnen als Wahlkampfthema, wie überhaupt der Konflikt den Charakter eines populistischen Totschlagarguments angenommen hatte - in allen beteiligten Staaten.
Das Ende des alten Mittleren Ostens
Daraus folgte eine klare Rollenverteilung in Mittelost: Saudi-Arabien, nach dem Niedergang des Irak die sunnitische Vormacht am Golf, und der Iran bildeten dort ein Gleichgewicht des Schreckens. Riad wurde von den USA bedingungslos unterstützt (und garantierte dafür die Rolle des Dollars als Leitwährung), ebenso wie Israel, Teheran hingegen mehr oder minder offen von Russland und China. Beide lieferten sich diplomatische und zunehmend auch militärische Stellvertreterkriege in der Region. Wenig überraschend war dabei die westliche Einäugigkeit: Nicht nur wurden dem weitaus liberaleren Iran dessen Menschenrechtsverletzungen stets zum Vorwurf gemacht, dem weit despotischeren Regime Saudi-Arabiens hingegen nachgesehen. Auch die ziemlich offene Unterstützung jihadistischer Sunni-Milizen durch die Saudis (und ihre Verbündeten) rief kaum Kritik hervor, während jeder auch nur diplomatische Beistand Teherans für regionale Milizen mit Wellen der Empörung beantwortet wurde.
Dieses Gleichgewicht hat in den letzten Jahren jedoch immer deutlichere Risse bekommen. Zum Einen steckt Saudi-Arabien tief im Sumpf zweier Regionalkriege, ohne Aussicht auf Erfolg und ohne gesichtswahrende Exitoptionen. Beide drohen auf das eigene Staatsgebiet überzugreifen, was die ohnehin enorme Unzufriedenheit der Menschen im Land zum Überkochen bringen dürfte. Trotz massiver Aufrüstung nach innen und außen sowie extrem teurer Sozialprogramme könnte die Uhr für das Haus Saud relativ bald ablaufen - die USA stünden dann plötzlich ohne starken Verbündeten in dieser Schlüsselregion da und liefen Gefahr, zwischen allen Stühlen zu sitzen.
Zum Anderen wird die wirtschaftliche und politische Isolation Teherans global immer deutlicher in Frage gestellt. Die diplomatischen Beziehungen zu wichtigen Staaten sind gut, und zunehmend werden Handelsverträge auf Tausch- oder Nicht-Dollar-Basis abgeschlossen - und nicht zuletzt sind diverse Gaspipelines in Planung, nach Osten ebenso wie nach Westen. Auch ohne ein formales Ende der Sanktionen würden diese also mittelfristig in sich zusammenfallen. Sollte das jedoch ohne aktives Zutun der USA geschehen, bedeutete das für Washington einen enormen weltweiten Ansehensverlust.
Angesichts dessen standen die USA daher unter enormem Handlungs- und Zeitdruck: Für Kerry und Obama war es die letzte Chance, das Heft des Handels in Mittelost in der Hand zu behalten und ihre internationale Führungsrolle zu behaupten, bevor der US-Präsidentschaftswahlkampf jede derart delikate Diplomatie unmöglich machen würde. Sie scheinen sie genutzt zu haben.
Chance für einen regionalen Neubeginn
Für die Region bedeutet das einen Epochenbruch und eine weitgehende Öffnung der bisher starren Bündniskonstellation, und mittelfristig vermutlich eine Entspannung der regionalen Kriege und Konflikte, wenn auch ein tatsächlicher 'Frieden' noch eine Weile auf sich warten lassen dürfte.
Der Iran wird offiziell wieder Teil der "internationalen Gemeinschaft" mit sich normalisierenden Wirtschaftsbeziehungen in alle Welt, wobei angesichts der Geschichte nicht unbedingt davon auszugehen ist, dass vorrangig US-amerikanische Unternehmen davon profitieren werden. Das politisch und kulturell ohnehin starke Land erhält dadurch einen enormen Schub und wird seinen regionalen Einfluss ausbauen sowie seine bisherige Bündnis-Orientierung nach Osten ein Stück weit relativieren. Spannend wird dabei zu sehen, ob dennoch eine Vollmitgliedschaft in der SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit) angestrebt wird, oder ob das Land als klassische Mittelmacht um gute, gleichwertige Beziehungen in alle Richtungen bemüht sein wird, um die eigenen Optionen und damit auch die eigene Macht zu maximieren.
Saudi-Arabien bemüht sich derweil ebenfalls um eine Diversifizierung seiner Bündnisse, insbesondere durch Waffen-, Atom und Investitionsgeschäfte mit Russland. Aus den genannten Gründen und mangels kultureller und politischer Anziehungskraft ist es aber sehr zweifelhaft, ob es seine Stellung in der Region wird behaupten können. Vielmehr muss Riad vermutlich froh sein, wenn es sich halbwegs ehrenhaft aus den Kriegen der Region zurückziehen und auf die Stabilisierung und Modernisierung des eigenen Landes konzentrieren kann. Ein weitgehender Zusammenbruch ist jedoch ebenfalls nicht ganz auszuschließen, was in einer derart waffenstarrenden Region eine ziemlich düstere Aussicht sein sollte. Dies zu vermeiden könnte somit die nächste große Aufgabe der internationalen Mittelost-Diplomatie werden.
Interessant wird sein, wie sich die Türkei nun positioniert: Einerseits wäre der Iran ein guter Verbündeter Ankaras nicht zuletzt aufgrund seines Gasreichtums, und dass beide gute Beziehungen zu Russland unterhalten könnte eine Kooperation erleichtern. Andererseits vertreten sie im Syrien-Krieg gegensätzliche Positionen und kooperieren mit konkurrierenden kurdischen Gruppierungen, und auch an einer dann drohenden iranischen Vormacht in der Region hat Ankara sicherlich kein Interesse. Wenn Saudi-Arabien als regionale Macht bestehen bleibt, wäre das wahrscheinlichste Ergebnis wohl ein regionales 'Triopol' der drei Staaten, die auch drei unterschiedliche Spielarten des politischen Islam repräsentieren. Die Türkei könnte sich dabei ihren Kooperationspartner je nach Situation auswählen und damit die Balance zu ihren Gunsten beeinflussen.
Die USA würden wohl tendenziell weiterhin auf Seiten Saudi-Arabiens stehen, wobei die neugewonnene Pluralität der regionalen Bündnisoptionen ihren Einfluss schmälern dürfte. Zumindest müssten sie jedoch (vereinbarungsgemäß) einen Zerfall des Landes verhindern, wenn sie dieses weiterhin als Garant für den Wert des Petrodollars ansehen - was nicht sicher ist, da das Monopol des Dollars im Öl- und Gasgeschäft ohnehin nur noch bedingt existiert. Es könnte somit sogar sein, dass Washington tatsächlich ein neutraleres Interesse an Stabilität im Mittleren Osten entwickeln muss, um dessen Rolle als globale "Tankstelle" nicht zu gefährden und selbst als globale Ordnungsmacht Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.
Und Israel?
Israel hat bei dieser Entwicklung nur eines zu verlieren: Ein liebgewonnenes Feindbild. Für die israelische Rechte bedeutet dies, dass sie sich dem entweder thematisch anpassen und mit realen Problemen des Landes beschäftigen kann, oder sie wird absehbar ihre Mehrheiten verlieren. In beiden Fällen bedeutet es eine Rückbesinnung der Politik weg von imaginierten Bedrohungen und hin zu den tatsächlichen Herausforderungen, namentlich Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik, der gesellschaftlichen Integration und der Besatzung Palästinas. Nicht nur wäre das eine absolut positive Entwicklung für Israel selbst, auch die Beziehungen zu den Nachbarstaaten könnten davon profitieren. Verlierer wären hingegen jene PolitikerInnen und Parteien, die ihre gesamte Karriere auf der Angst vor der "iranischen Gefahr" aufgebaut haben.
Soweit zu den regionalen Auswirkungen.
Was bedeutet das über den Mittleren Osten hinaus?
Auch global könnte sich mittelfristig ein ganz neues Bild ergeben. In den letzten 15 Jahren war auf der Welt eine sich zuspitzende neue Blockkonfrontation zu beobachten, die sich grob auf die Formel "NATO und Verbündete vs. SCO und Verbündete" bringen ließ. An der Nähten kam es dabei immer wieder zu Auseinandersetzungen, "Revolutionen", und (Bürger-)Kriegen. Diese drohten zunehmend, mehr als nur Scharmützel zwischen Stellvertretern zu sein, insbesondere in der Ukraine und in Syrien/Irak. Eine weitere Verschärfung dieses Antagonismus' hätte früher oder später unweigerlich die Großmächte in direkten militärischen Konflikt zueinander gebracht - aufgrund der damit verbundenen klassischen Eigendynamiken mit unkalkulierbaren Folgen.
Das ist nicht passiert, und es ist nicht mehr davon auszugehen, dass es noch kommen wird. Das "Atomstreit" mit dem Iran war das Symbol eines gordischen Knotens an Verwicklungen, und seine Auflösung signalisiert eine weitreichende Lockerung der zuvor erstarrenden globalen Bipolarität. Zumal gleichzeitig die ukrainische Regierung, ganz offensichtlich aufgrund westlichen Drucks, damit begonnen hat, schnell und konsequent das Minsker Abkommen umzusetzen: Das Land wird wie gefordert dezentralisiert, Waffen werden von der Front abgezogen und die unberechenbaren rechten Milizen werden auf Anordnung des Präsidenten entwaffnet. Für die Ukraine erleichtert das eine konstruktive Lösung des inneren Konflikts, für Russland bedeutet es hingegen eine Entspannung seines Verhältnisses zu Europa und das Ende der unmittelbaren Kriegsgefahr an seiner südlichen Grenze. Der Preis, den Russland dafür (an Deutschland oder die USA?) bezahlt, scheint die Nichtunterstützung Griechenlands in seinem Kampf mit den Eurozonen"partnern" zu sein. Außerdem dürfte dieser Tausch Moskau bewogen haben, seinen Einfluss auf den Iran geltend zu machen und auch selbst für das nun geschlossene Abkommen zu garantieren, was schon in der Vergangenheit für Teheran ein gewichtiges Argument war.
Aufbruch zu neuer globaler Kooperation
Sicherlich bestehen die beiden großen Blöcke bis auf Weiteres fort, aber der Antagonismus zwischen ihnen hat sich deutlich abgeschwächt, da nun auch Allianzen von Staaten(-gruppen) über die Blockgrenzen hinweg denkbar geworden sind. Mittelfristig wird dieser duale, ja manichäische Gegensatz damit an Bedeutung verlieren, auch wenn er formal sicher noch eine Weile bestehen bleiben dürfte. Längerfristig ist es denkbar, dass die Blöcke einem System relativ eigenständiger Mächte Platz machen werden, die sich in einem gewissen Gleichgewicht befinden und situationsbedingt mehr oder minder dauerhafte Allianzen eingehen - mithin einer tatsächlich multipolaren Ordnung. Wenn das geschieht, und trotz aller Anzeichen gibt es selbstverständlich die Wahrscheinlichkeit unvorhergesehener Ereignisse, die dies verhindern, dann dürfte das Atomabkommen der "P5+1" mit dem Iran als Geburtsstunde dieser neuen Weltordnung in die Geschichte eingehen. Es würde damit zum wesentlichen Bestandteil eines "Vertrags von Tordesillas" des 21. Jahrhunderts.
Die noch bestehende große Herausforderung auf dem Weg dorthin ist eine kooperative Lösung der Rivalitäten in Ostasien, insbesondere des Territorialstreits im Südchinesischen Meer. Da jedoch der westliche Druck auf Russland stark nachlässt, wird dieses China nicht mehr bedingungslos unterstützen (müssen) und somit auch hier eine vermittelnde Position einnehmen können, was Beijing zu Zugeständnissen bewegen dürfte - vorausgesetzt, die USA halten sich halbwegs zurück, anstatt auch hier wieder den Konflikt zu suchen.
Sie täten gut daran: Denn bei alldem sollte nicht vergessen werden, dass das aktuelle Weltwirtschafts- und währungssystem einer heraufziehenden multipolaren Ordnung kaum angemessen wäre und dringend überarbeitet werden müsste, und hierbei ist Washington nicht zuletzt auf (wohlwollende) chinesische Kooperation angewiesen, wenn die USA ihre Rolle als globales Finanzzentrum nicht völlig verlieren sollen. Diese komplexe Problematik soll hier nicht genauer ausgeführt werden, aber unter der Annahme, dass ein Wirtschaftssystem lediglich bestehende Machtverhältnisse in eine bestimmte ökonomische Form überführt, würde sich bei einer so deutlichen Veränderung des globalen politischen Systems zwingend auch ein anderes ökonomisches und Finanzsystem herausbilden - was sicher genausowenig ohne Konflikte vonstatten ginge.
Kommentare 11
Entschuldigt die schlechte Lesbarkeit: Aufgrund eines Bugs war es leider nicht möglich, Leerzeilen einzufügen...Webmaster?
Anmerkung: Die Türkei hat sich offenbar ziemlich schnell entschieden, auf wessen Seite sie bis auf Weiteres steht :-)
Gern gelesen, stimme mit Ihnen größtenteils auch überein. Einzig die von Ihnen Russland zugesproche Rolle gegeüber China kann ich nicht teilen.
Ich werde versuchen, die nächsten Tage noch einen, an Ihren Artikel anknüpfenden, zwecks der Situationswechsel im Jemen und der Türkei (gegenüber Daesh) Text zu verfassen.
Vielen Dank - ich freue mich selbstverständlich auch über konstruktive Kritik! Russland hat kein Interesse an einem zu deutlichen Erstarken Chinas: 1. um eine neue Hegemonie zu verhindern, 2. aus kultureller Abneigung und 3. weil es die Übernahme Sibiriens (und seiner Rohstoffe) befürchtet. Viel lieber wäre Moskau ein Bündnis mit Europa, dem sich die Russen auch kulturell viel näher fühlen. Insofern wird Russland in Zukunft noch deutlicher als bisher die Macht sein, die das Völkerrecht verteidigt und für ein Machtgleichgewicht eintritt, ähnlich wie damals Metternich. Da die USA und die Türkei jetzt gegen den IS kämpfen, wird dieser in Kürze in sich zusammenbrechen - einen Kurdenstaat wird es dennoch nicht geben, außer wenn die Türkei in eine schwere Krise stürzen sollte. Wie es im Jemen weitergeht, weiß ich nicht, hier würde mich Ihre Meinung ganz besonders interessieren: Wenn die Saudis weiterbomben, wird der Krieg m.E. auf ihr Land übergreifen, was die Monarchie nicht überleben dürfte...oder? Ich verstehe Riads Strategie nach wie vor nicht wirklich, es kann eigentlich nur verlieren.
Ganz wunderbar informativ und alles zusammen. Ich danke Ihnen.
Das "Atomstreit" mit dem Iran war das Symbol eines gordischen Knotens an Verwicklungen, und seine Auflösung signalisiert eine weitreichende Lockerung der zuvor erstarrenden globalen Bipolarität. Zumal gleichzeitig die ukrainische Regierung, ganz offensichtlich aufgrund westlichen Drucks, damit begonnen hat, schnell und konsequent das Minsker Abkommen umzusetzen: Das Land wird wie gefordert dezentralisiert, Waffen werden von der Front abgezogen und die unberechenbaren rechten Milizen werden auf Anordnung des Präsidenten entwaffnet. Für die Ukraine erleichtert das eine konstruktive Lösung des inneren Konflikts, für Russland bedeutet es hingegen eine Entspannung seines Verhältnisses zu Europa und das Ende der unmittelbaren Kriegsgefahr an seiner südlichen Grenze. Der Preis, den Russland dafür (an Deutschland oder die USA?) bezahlt, scheint die Nichtunterstützung Griechenlands in seinem Kampf mit den Eurozonen"partnern" zu sein.
Sie sind sehr optimistisch, was die globale Kooperation angeht, aber ich hoffe, Sie haben recht. Die USA - Obama hat wieder Gestaltungsmacht - scheinen sich auch neu zu positionieren. Aber die Normandie-Gruppe, Europa ist jetzt erstmal draußen bei den Verhandlungen. Es war aber , wie ich denke - sowas wie eine Brücke, die den Kontakt offenhielt. Und das Abkommen wird ja jetzt umgesetzt.
Nachdem ich jetzt die Zusätze gelesen habe, ist es eigentlich nur noch eine Kleinigkeit bezüglich Russland. Da die "neue Seidenstraße" ja bereits im Raum steht, um eine Alternativwährung zum Dollar bieten zu können, hatte ich in letzter Zeit den Eindruck, dass Russland größtenteils selbstsicher, und somit mMn entschieden agiert. Die Entscheidung seitens Russland, lieber starker Vasall Chinas, als eventueller Partner der EU/NATO zu sein, könnte also schon gefallen sein.
Sonst stimme ich voll zu.
Ich habe mich spontan dazu entschlossen, meine Einschätzung zu Yemen und dem (für mich verwirrenden) Türkei-Daesh-Wandel in diesem Kommentarfeld zu posten.
Durch das 5+1 Abkommen besteht möglicherweise keine dringende Notwendigkeit für Daesh im Nahen Osten mehr. Iran ist nun wieder etwas weniger böse, auch Assad ist ja schon lange nicht mehr lauthals verschrien. Selbstverständlich ist die Türkei nicht an einem erstarkenden Iran/Syrien interessiert, jedoch wäre der Bürgerkrieg wohl auch ohne Daesh noch dazu imstande, dies, zumindest im Falle Syriens, zu verhindern.
Seit Sept. verganenen Jahres werden hauptsächlich nordafrikanische Offiziere Daeshs entfernt und durch Kaukasier ersetzt. Teilweise wird Funkkontakt inzwischen auf Russisch geführt. Ich vermute also, dass Daesh eher verlagert werden soll, um Russland (und damit früher doer später auch China), wirtschaftlich und gesellschaftlich zu destabilisieren. BBC (Link am Ende) hat Ende Juni von einem möglichen IS-Kalifat im Kaukasus geschrieben. Leidtragende auf dem Weg wären die Kurden und eventuell auch der Iran, außer diese ließe Daesh (wie die sagenumwobenen Khorasan) gewähren, was aber nicht unbedingt logisch wäre.
Seit dem 5+1 Abkommen haben sich die Huthis, je nach Ansicht des Betrachters, aus Aden zurückgezogen bzw. wurden zurückgedrängt. Unter Luftangriffen seitens Saudi Arabien und Israel durfte am Dienstag nun auch erstmals wieder ein Hilfsschiff des WFP in Aden einlaufen.
Wird der Iran also mit einer Art Amnestie in die geopolitische Unwichtigkeit im Nahen Osten überführt? Waren u.a. der Rückzug im Yemen und möglicherweise eine zukünftige Neutralität gegenüber Russland (für gewisse westliche Technik und Waffen im Gegentausch) Teilpunkte des Vertrages?
Ich bin sehr verhalten optimistisch. Natürlich kann ich mir auch einen extrem negativen Fortgang vorstellen, aber es gibt durchaus auch Anzeichen für eine Besserung auf vielen Gebieten - und das sehen viele Menschen nicht, weshalb ich diese umso deutlicher herausstellen möchte.
Die USA waren gezwungen, ein Stück zurückzurudern, da die bisherige Strategie in eine völlige Sackgasse geführt hatte und niemand ihnen auf diesem Weg noch folgen wollte. Europa hat die Verhandlungen in die richtige Richtung gelenkt, und nach 10 Monaten haben sich die USA dem endlich angeschlossen. Die zerstörte Ukraine wird Russland dann wieder aufbauen und alimentieren müssen...
Vielen Dank für die Anregungen, ein paar Worte noch dazu:
Bzgl. Russland denke ich nicht, dass Moskau eine Hegemonie gegen eine andere eintauschen möchte. Gerade die Frage der (Leit-)Währung dürfte dabei eine entscheidende Streitfrage sein, und im Dreieck mit der EU und China wäre der eigene Einfluss maximiert.
Die Informationen zu Daesh sind interessant - aus verlässlicher Quelle? Und würde nicht auch der Krieg in Libyen den Abzug der Nordafrikaner erklären? Angesichts der jüngst verstärkten Präsenz der russischen Armee im Süden des Landes halte ich hier eine Intervention eigentlich für unwahrscheinlich - eher denke ich aufgrund verschiedener Nachrichtenschnipsel, dass in Zentralasien etwas bevorstehen könnte.
Jemen - das sehe ich deutlich anders. Unabhängig von den eigenen künftigen Aktivitäten stärkt das Abkommen Teherans Ansehen und Stellung in der Region, und wer sollte sonst profitieren, wenn der Iran "unwichtig" würde? Einen Rückzug der H. im Jemen (worauf Teheran m.E. wenig Einfluss hat) sehe ich nicht, und eine Neutralität gegenüber dem wichtigsten Verbündeten Russland wäre unglaublich dumm - und undankbar angesichts der letzten Jahre. Der einzige wirkliche Akteur im Jemen ist derzeit Saudi-Arabien, der Rest ist Reaktion.
Dass sich die türkische Politik so schnell ändern würde, hatte ich nicht erwartet, obwohl mir natürlich bewusst war, dass Ankaras Hauptziel die Verhinderung eines syrischen Kurdenstaats ist. Wenn Daesh nun tatsächlich zurückgedrängt (aber wohl nicht zerstört) werden soll, stimmt die Türkei dem nur unter einer Bedingung zu.
Danke auch Ihnen wieder für die Anmerkungen.
Leider finde ich zum angesprochenen Funkkontakt gerade nur Thierry Meyssan als Quelle (ich sollte meine wohl eindeutig besser sortieren; ich suchte weiter und reiche nach), zu weiteren Indizien für Daesh im/nach Kaukasus hätte ich z.B. http://www.understandingwar.org/backgrounder/isis-declares-governorate-russia%E2%80%99s-north-caucasus-region , http://www.thedailybeast.com/articles/2015/07/10/isis-comes-to-russia.html oder http://english.alarabiya.net/en/News/middle-east/2015/06/24/Russia-s-Caucasus-Islamists-pledge-allegiance-to-ISIS-.html . Der Krieg in Lybien könnte, da haben Sie sicher Recht, zumindest zum Teil ein Verschwinden nordafrikanischer Offiziere erklären, jedoch sitzen führende Daesh Leute wie Abdelhakim Belhadj nicht erst seit gestern in Lybien mit den Fäden in der Hand.
Ich denke, dass Russland auf lange Sicht nur verlieren kann. Daher kann, wie ich bereits erwähnt hatte, nur eine baldige Entscheidung erfolgen. Russland ist für beide Seiten verzichtbar, jedoch möglicherweise weniger für China, da Russlands klassisches Veto im UN-Sicherheitsrat gebraucht wird. Die NATO ist ja, wie man momentan in der Ukraine sehen kann, durchaus in der Lage, auch gegen Russlands Willen, die Dinge zu bekommen, die sie will.
Richtig, würde der Iran unwichtiger werden, wer sollte profitieren? Selbstverständlich Saudi-Arabien, welches aus seinem aktuellen Tief entkommen könnte. Mmn ist es einfach zu unglaubwürdig, dass die Huthis nach drei Monaten Aden innerhalb ein bis zwei Tagen komplett verlieren ( https://www.washingtonpost.com/world/yemeni-militants-appear-to-be-driving-houthi-rebels-out-of-aden/2015/07/16/6f7a215a-2ba1-11e5-a250-42bd812efc09_story.html ) - und anschließend Hilfskonvois interntionaler Hilfsorganisationen unbeschadet landen können.
Westliche Saktionen treffen den Iran hart und auch die iranische Regierung (und Geistlichkeit) weiß, was viele, gerade der jungen Iraner, wollen. Diese Art westlichen Lebensstils und westlicher Güter kann Ihnen auch Russland nicht bieten, daher scheint es mir durchaus möglich, dass der Iran, unter eigenen Versicherungen natürlich, auch das Verhältnis zu Russland riskieren würde.
Die türkische Politik scheint weiter undurchsichtig. Möglicherweise hat Erdogan bemerkt, dass sich seine Spielchen früher oder später gegen die Türkei selbst richten könnten. Unter dem Deckmantel der Luftangriffe auf Daesh in Nordsyrien greift die Türkei die PKK in Nordirak massiv an.
Dies ist Mmn ein Zeichen einerseits an Daesh, sich wieder auf seine Kernziele zu konzentrieren und (stillschweigende) Unterstützter vorerst zu verschonen. Daesh hat vorerst einen starken Rückzugs- und Mobilisierungsort verloren, sowie die amerikanische Luftwaffe direkt vor die Haustüre bekommen (Luftwaffenstützpunkt Incirlik).
Möglicherweise sollen die Luftangriffe auf Daesh in Nordsyrien diese motivieren, weiter gen (Nord)Irak zu drücken, um so die PKK stärker unter Druck setzen zu können. Außerdem wäre die von mir angesprochene Option des Einsickerns in den Kaukasus für Daesh wohl über Nordirk deutlich leichter, als über Syrien und die komplette Türkei.
Klar ist, und da sind wir uns denke ich einig, dass Erdogan mit aller Macht einen Kurdenstaat verhindern will.
Keine sonderlich glaubwürdige Quelle aus meiner Sicht - und die anderen sprechen von etwas völlig Anderem, nämlich der erklärten IS-Zugehörigkeit regionaler Islamistengruppen. Das gibt es in vielen Ländern, weil es Aufmerksamkeit bringt, bedeutet aber noch lange keine Verlagerung des Schwerpunkts der Daesh-Aktivitäten (die auch vermutlich nicht durch mühsames "Einsickern" vonstatten ginge, sondern durch airlifts).
Die Situation in der Ukraine ist heute eine ganz andere als vor einem Jahr, und daher und dank geschickter Diplomatie hat auch Russland heute mehr Optionen. Dass ich eine Stärkung Saudi-Arabiens nicht sehe, eher das Gegenteil, hatte ich im Artikel geschrieben - und der Iran tut wie jede Mittelmacht gut daran, nach allen Seiten gute Kontakte zu haben und sich nicht zu sehr festzulegen. Das ist ja derzeit das Spannende: Alles ist im Fluss.
In der Tat, Erdogan will einen Kurdenstaat verhindern, alles Andere ist nebensächlich für Ankara. Da sie davon ausgeht, dass Daesh geschwächt wird und zusammenbrechen könnte, wollte die türkische Regierung als erste agieren in der wohl unvermeidlichen Konfrontation, um eine vorteilhafte Ausgangsposition zu haben. Solange die Türkei relativ stark ist, kann es keinen Kurdenstaat geben, und wenn es dennoch versucht wird, hat das leider furchtbare Folgen. Die einzige Chance wäre eine massive (Wirtschafts-)krise in der Türkei.