Die Welt nach dem #Irandeal

Geopolitik Eigentlich erstaunlich, dass stets vom "Atomabkommen" gesprochen wird. Es geht um so viel mehr: Der Deal könnte ein entscheidender Schritt zu einer neuen Weltordnung sein

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Angesichts der vor einer Woche erzielten Vereinbarung wurde und wird überall über das iranische Atomprogramm und die stets damit gerechtfertigten Wirtschaftssanktionen gegen das Land diskutiert. Dabei geht es in Wirklichkeit um viel mehr als das: Wir erleben gerade die Neuordnung des ganzen Mittleren Ostens, wenn nicht der gesamten Welt. Die geopolitischen Implikationen des Abkommens werden jedoch vermutlich erst im Laufe der nächsten Jahre nach und nach offen zu Tage treten. Gemeinsam mit dem Minsker Abkommen vom Februar und einer hoffentlich kommenden Einigung in Südostasien könnte der Vertrag so etwas wie das "Tordesillas des 21. Jahrhunderts" werden.

Dass es beim fast überall hochgelobten Abkommen nicht in erster Linie um Nuklearfragen gehen soll, dürfte für die meisten erst einmal wenig überzeugend klingen. Denn natürlich handelt der Vertragstext rein inhaltlich vom "umstrittenen" Atomprogramm und den Sanktionen, und es wurde bekanntlich lang und breit über die Modalitäten gestritten, wie beides abgebaut und dies überwacht werden soll. Aber war denn das iranische Atomprogramm je mehr als ein Symbol für den scheinbar unversöhnlichen Antagonismus zwischen Teheran und Washington (und Jerusalem)? Zwei Staaten in der Region verfügen bereits über Atomwaffen. Selbst wenn der Iran auch solche entwickelte, würde das nur insofern einen praktischen Unterschied bedeuten, als das Land dann nicht mehr ohne Weiteres von den USA (und Israel) angegriffen werden könnte. Diese Drohung lag, wie immer ernst gemeint, in den letzten Jahren stets in der Luft und diente rechten PolitikerInnen als Wahlkampfthema, wie überhaupt der Konflikt den Charakter eines populistischen Totschlagarguments angenommen hatte - in allen beteiligten Staaten.
Das Ende des alten Mittleren Ostens
Daraus folgte eine klare Rollenverteilung in Mittelost: Saudi-Arabien, nach dem Niedergang des Irak die sunnitische Vormacht am Golf, und der Iran bildeten dort ein Gleichgewicht des Schreckens. Riad wurde von den USA bedingungslos unterstützt (und garantierte dafür die Rolle des Dollars als Leitwährung), ebenso wie Israel, Teheran hingegen mehr oder minder offen von Russland und China. Beide lieferten sich diplomatische und zunehmend auch militärische Stellvertreterkriege in der Region. Wenig überraschend war dabei die westliche Einäugigkeit: Nicht nur wurden dem weitaus liberaleren Iran dessen Menschenrechtsverletzungen stets zum Vorwurf gemacht, dem weit despotischeren Regime Saudi-Arabiens hingegen nachgesehen. Auch die ziemlich offene Unterstützung jihadistischer Sunni-Milizen durch die Saudis (und ihre Verbündeten) rief kaum Kritik hervor, während jeder auch nur diplomatische Beistand Teherans für regionale Milizen mit Wellen der Empörung beantwortet wurde.
Dieses Gleichgewicht hat in den letzten Jahren jedoch immer deutlichere Risse bekommen. Zum Einen steckt Saudi-Arabien tief im Sumpf zweier Regionalkriege, ohne Aussicht auf Erfolg und ohne gesichtswahrende Exitoptionen. Beide drohen auf das eigene Staatsgebiet überzugreifen, was die ohnehin enorme Unzufriedenheit der Menschen im Land zum Überkochen bringen dürfte. Trotz massiver Aufrüstung nach innen und außen sowie extrem teurer Sozialprogramme könnte die Uhr für das Haus Saud relativ bald ablaufen - die USA stünden dann plötzlich ohne starken Verbündeten in dieser Schlüsselregion da und liefen Gefahr, zwischen allen Stühlen zu sitzen.
Zum Anderen wird die wirtschaftliche und politische Isolation Teherans global immer deutlicher in Frage gestellt. Die diplomatischen Beziehungen zu wichtigen Staaten sind gut, und zunehmend werden Handelsverträge auf Tausch- oder Nicht-Dollar-Basis abgeschlossen - und nicht zuletzt sind diverse Gaspipelines in Planung, nach Osten ebenso wie nach Westen. Auch ohne ein formales Ende der Sanktionen würden diese also mittelfristig in sich zusammenfallen. Sollte das jedoch ohne aktives Zutun der USA geschehen, bedeutete das für Washington einen enormen weltweiten Ansehensverlust.
Angesichts dessen standen die USA daher unter enormem Handlungs- und Zeitdruck: Für Kerry und Obama war es die letzte Chance, das Heft des Handels in Mittelost in der Hand zu behalten und ihre internationale Führungsrolle zu behaupten, bevor der US-Präsidentschaftswahlkampf jede derart delikate Diplomatie unmöglich machen würde. Sie scheinen sie genutzt zu haben.
Chance für einen regionalen Neubeginn
Für die Region bedeutet das einen Epochenbruch und eine weitgehende Öffnung der bisher starren Bündniskonstellation, und mittelfristig vermutlich eine Entspannung der regionalen Kriege und Konflikte, wenn auch ein tatsächlicher 'Frieden' noch eine Weile auf sich warten lassen dürfte.
Der Iran wird offiziell wieder Teil der "internationalen Gemeinschaft" mit sich normalisierenden Wirtschaftsbeziehungen in alle Welt, wobei angesichts der Geschichte nicht unbedingt davon auszugehen ist, dass vorrangig US-amerikanische Unternehmen davon profitieren werden. Das politisch und kulturell ohnehin starke Land erhält dadurch einen enormen Schub und wird seinen regionalen Einfluss ausbauen sowie seine bisherige Bündnis-Orientierung nach Osten ein Stück weit relativieren. Spannend wird dabei zu sehen, ob dennoch eine Vollmitgliedschaft in der SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit) angestrebt wird, oder ob das Land als klassische Mittelmacht um gute, gleichwertige Beziehungen in alle Richtungen bemüht sein wird, um die eigenen Optionen und damit auch die eigene Macht zu maximieren.
Saudi-Arabien bemüht sich derweil ebenfalls um eine Diversifizierung seiner Bündnisse, insbesondere durch Waffen-, Atom und Investitionsgeschäfte mit Russland. Aus den genannten Gründen und mangels kultureller und politischer Anziehungskraft ist es aber sehr zweifelhaft, ob es seine Stellung in der Region wird behaupten können. Vielmehr muss Riad vermutlich froh sein, wenn es sich halbwegs ehrenhaft aus den Kriegen der Region zurückziehen und auf die Stabilisierung und Modernisierung des eigenen Landes konzentrieren kann. Ein weitgehender Zusammenbruch ist jedoch ebenfalls nicht ganz auszuschließen, was in einer derart waffenstarrenden Region eine ziemlich düstere Aussicht sein sollte. Dies zu vermeiden könnte somit die nächste große Aufgabe der internationalen Mittelost-Diplomatie werden.
Interessant wird sein, wie sich die Türkei nun positioniert: Einerseits wäre der Iran ein guter Verbündeter Ankaras nicht zuletzt aufgrund seines Gasreichtums, und dass beide gute Beziehungen zu Russland unterhalten könnte eine Kooperation erleichtern. Andererseits vertreten sie im Syrien-Krieg gegensätzliche Positionen und kooperieren mit konkurrierenden kurdischen Gruppierungen, und auch an einer dann drohenden iranischen Vormacht in der Region hat Ankara sicherlich kein Interesse. Wenn Saudi-Arabien als regionale Macht bestehen bleibt, wäre das wahrscheinlichste Ergebnis wohl ein regionales 'Triopol' der drei Staaten, die auch drei unterschiedliche Spielarten des politischen Islam repräsentieren. Die Türkei könnte sich dabei ihren Kooperationspartner je nach Situation auswählen und damit die Balance zu ihren Gunsten beeinflussen.
Die USA würden wohl tendenziell weiterhin auf Seiten Saudi-Arabiens stehen, wobei die neugewonnene Pluralität der regionalen Bündnisoptionen ihren Einfluss schmälern dürfte. Zumindest müssten sie jedoch (vereinbarungsgemäß) einen Zerfall des Landes verhindern, wenn sie dieses weiterhin als Garant für den Wert des Petrodollars ansehen - was nicht sicher ist, da das Monopol des Dollars im Öl- und Gasgeschäft ohnehin nur noch bedingt existiert. Es könnte somit sogar sein, dass Washington tatsächlich ein neutraleres Interesse an Stabilität im Mittleren Osten entwickeln muss, um dessen Rolle als globale "Tankstelle" nicht zu gefährden und selbst als globale Ordnungsmacht Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.
Und Israel?
Israel hat bei dieser Entwicklung nur eines zu verlieren: Ein liebgewonnenes Feindbild. Für die israelische Rechte bedeutet dies, dass sie sich dem entweder thematisch anpassen und mit realen Problemen des Landes beschäftigen kann, oder sie wird absehbar ihre Mehrheiten verlieren. In beiden Fällen bedeutet es eine Rückbesinnung der Politik weg von imaginierten Bedrohungen und hin zu den tatsächlichen Herausforderungen, namentlich Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik, der gesellschaftlichen Integration und der Besatzung Palästinas. Nicht nur wäre das eine absolut positive Entwicklung für Israel selbst, auch die Beziehungen zu den Nachbarstaaten könnten davon profitieren. Verlierer wären hingegen jene PolitikerInnen und Parteien, die ihre gesamte Karriere auf der Angst vor der "iranischen Gefahr" aufgebaut haben.
Soweit zu den regionalen Auswirkungen.
Was bedeutet das über den Mittleren Osten hinaus?
Auch global könnte sich mittelfristig ein ganz neues Bild ergeben. In den letzten 15 Jahren war auf der Welt eine sich zuspitzende neue Blockkonfrontation zu beobachten, die sich grob auf die Formel "NATO und Verbündete vs. SCO und Verbündete" bringen ließ. An der Nähten kam es dabei immer wieder zu Auseinandersetzungen, "Revolutionen", und (Bürger-)Kriegen. Diese drohten zunehmend, mehr als nur Scharmützel zwischen Stellvertretern zu sein, insbesondere in der Ukraine und in Syrien/Irak. Eine weitere Verschärfung dieses Antagonismus' hätte früher oder später unweigerlich die Großmächte in direkten militärischen Konflikt zueinander gebracht - aufgrund der damit verbundenen klassischen Eigendynamiken mit unkalkulierbaren Folgen.
Das ist nicht passiert, und es ist nicht mehr davon auszugehen, dass es noch kommen wird. Das "Atomstreit" mit dem Iran war das Symbol eines gordischen Knotens an Verwicklungen, und seine Auflösung signalisiert eine weitreichende Lockerung der zuvor erstarrenden globalen Bipolarität. Zumal gleichzeitig die ukrainische Regierung, ganz offensichtlich aufgrund westlichen Drucks, damit begonnen hat, schnell und konsequent das Minsker Abkommen umzusetzen: Das Land wird wie gefordert dezentralisiert, Waffen werden von der Front abgezogen und die unberechenbaren rechten Milizen werden auf Anordnung des Präsidenten entwaffnet. Für die Ukraine erleichtert das eine konstruktive Lösung des inneren Konflikts, für Russland bedeutet es hingegen eine Entspannung seines Verhältnisses zu Europa und das Ende der unmittelbaren Kriegsgefahr an seiner südlichen Grenze. Der Preis, den Russland dafür (an Deutschland oder die USA?) bezahlt, scheint die Nichtunterstützung Griechenlands in seinem Kampf mit den Eurozonen"partnern" zu sein. Außerdem dürfte dieser Tausch Moskau bewogen haben, seinen Einfluss auf den Iran geltend zu machen und auch selbst für das nun geschlossene Abkommen zu garantieren, was schon in der Vergangenheit für Teheran ein gewichtiges Argument war.
Aufbruch zu neuer globaler Kooperation
Sicherlich bestehen die beiden großen Blöcke bis auf Weiteres fort, aber der Antagonismus zwischen ihnen hat sich deutlich abgeschwächt, da nun auch Allianzen von Staaten(-gruppen) über die Blockgrenzen hinweg denkbar geworden sind. Mittelfristig wird dieser duale, ja manichäische Gegensatz damit an Bedeutung verlieren, auch wenn er formal sicher noch eine Weile bestehen bleiben dürfte. Längerfristig ist es denkbar, dass die Blöcke einem System relativ eigenständiger Mächte Platz machen werden, die sich in einem gewissen Gleichgewicht befinden und situationsbedingt mehr oder minder dauerhafte Allianzen eingehen - mithin einer tatsächlich multipolaren Ordnung. Wenn das geschieht, und trotz aller Anzeichen gibt es selbstverständlich die Wahrscheinlichkeit unvorhergesehener Ereignisse, die dies verhindern, dann dürfte das Atomabkommen der "P5+1" mit dem Iran als Geburtsstunde dieser neuen Weltordnung in die Geschichte eingehen. Es würde damit zum wesentlichen Bestandteil eines "Vertrags von Tordesillas" des 21. Jahrhunderts.
Die noch bestehende große Herausforderung auf dem Weg dorthin ist eine kooperative Lösung der Rivalitäten in Ostasien, insbesondere des Territorialstreits im Südchinesischen Meer. Da jedoch der westliche Druck auf Russland stark nachlässt, wird dieses China nicht mehr bedingungslos unterstützen (müssen) und somit auch hier eine vermittelnde Position einnehmen können, was Beijing zu Zugeständnissen bewegen dürfte - vorausgesetzt, die USA halten sich halbwegs zurück, anstatt auch hier wieder den Konflikt zu suchen.

Sie täten gut daran: Denn bei alldem sollte nicht vergessen werden, dass das aktuelle Weltwirtschafts- und währungssystem einer heraufziehenden multipolaren Ordnung kaum angemessen wäre und dringend überarbeitet werden müsste, und hierbei ist Washington nicht zuletzt auf (wohlwollende) chinesische Kooperation angewiesen, wenn die USA ihre Rolle als globales Finanzzentrum nicht völlig verlieren sollen. Diese komplexe Problematik soll hier nicht genauer ausgeführt werden, aber unter der Annahme, dass ein Wirtschaftssystem lediglich bestehende Machtverhältnisse in eine bestimmte ökonomische Form überführt, würde sich bei einer so deutlichen Veränderung des globalen politischen Systems zwingend auch ein anderes ökonomisches und Finanzsystem herausbilden - was sicher genausowenig ohne Konflikte vonstatten ginge.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

smukster

Ich lese und schreibe ab und zu was.Meine Themenschwerpunkte: Geopolitik, globale Wirtschaftsfragen, Europa, Klima und Energie - twitter: smukster

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