Zweiter Akt - folgt das Finale?

Berg-Karabach Die “Republik Artsach” ist nach dem zweiten Krieg innerhalb von drei Jahren Geschichte. Der eigentliche Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan könnte aber noch bevorstehen.

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Der zweite Teil der Rückeroberung Berg-Karabachs dauerte nur 24 Stunden. Zum Glück. Nach armenischen Angaben starben etwa 200 Menschen, bis die Streitkräfte der selbsterklärten Republik sich am 20. September ergaben. Die offizielle armenische Armee griff nicht in die Kämpfe ein, wie schon im Herbst 2020, und auch Aserbaidschan zeigte keinerlei Interesse an einer Ausweitung.

Fast die Hälfte der Bewohner:innen ist inzwischen nach Armenien geflohen; heute wurde bekannt, dass die “Republik Artsach” (Berg-Karabach) sich zum 1. Januar 2024 selbst auflöst. Nach gut 30 Jahren endet damit dieses Kapitel der armenischen Geschichte, das einmal der erste Schritt zur Wiederherstellung des antiken “Groß-Armenien” sein sollte.

Nüchtern betrachtet war es nur eine Frage der Zeit, bis Baku auch den Rest der autonomen Region unter seine Kontrolle bringen würde. Die im November 2020 ausgehandelte Waffenruhe beendete zwar die Kämpfe, führte aber zu einer labilen Situation, die auf Dauer nicht tragfähig war. Welcher Staat würde die Existenz einer zweiten Streitmacht auf seinem Gebiet tolerieren? Völkerrechtlich ist die Bewertung ohnehin unstrittig, wie in Medienberichten halb verschämt eingeräumt wird - und im Oktober 2022 auch offiziell von Jerevan bestätigt wurde.

Die endgültige “Wiedereingliederung” war absehbar

Die vereinbarte “zwei-Korridore-Lösung” wurde nie umgesetzt: Während Aserbaidschan die Anbindung Karabachs über den Lachin-Korridor ermöglichte, brachten Gespräche über die Öffnung eines Transportkorridors durch Südarmenien zur aserbaidschanischen Exklave Nachchivan kein Ergebnis. Daraufhin entschloss sich Baku im Dezember 2022 zur Blockade der Lachin-Verbindung, was zu Versorgungsengpässen in Karabach führte.

Vielerorts wird nun beklagt, dass Armeniens traditioneller Verbündeter Russland nichts zum Schutz der Karabach-Armenier unternommen habe. Angesichts der Untätigkeit der armenischen Armee und der völkerrechtlichen Situation ist jedoch unklar, was Moskau hätte tun sollen - und mit welcher Legitimation: Beistandspflichten im Rahmen bilateraler Verträge oder der CSTO beziehen sich nur auf das Staatsgebiet Armeniens. Seit Herbst 2020 marschierte die iranische Armee mehrmals an der Grenze auf, um klarzustellen, dass Teheran einen aserbaidschanischen Einmarsch nicht hinnehmen würde. Baku verstand diese Botschaft sehr genau.

Von westlicher Seite ist höchstens lauwarme Kritik am Vorgehen Aserbaidschans zu hören. Das liegt nicht nur daran, dass dieses (völker-)rechtlich kaum zu beanstanden ist. Wichtiger dürfte sein, dass die gewaltsame “Wiedereingliederung” Karabachs dem Westen durchaus gelegen kommt: In Armenien wächst der Unmut über die “Schutzmacht” Russland, was mittelfristig zu einer Annäherung oder gar einem Beitritt zur NATO führen könnte.

Gleichzeitig vertiefen sich die Differenzen zwischen Moskau und Ankara. Folgerichtig erfährt der Konflikt in hiesigen Medien zwar breite Aufmerksamkeit und wird der Exodus der Karabach-Armenier:innen beklagt (selbstredend ohne die ethnischen Säuberungen der 1990er zu erwähnen) - von praktischer Unterstützung jedoch keine Spur.

Frieden - oder Ruhe vor dem (großen) Sturm?

Mit der “Republik Artsach” verliert Jerevan eine faktische Extension des eigenen Machtbereichs und damit strategische Tiefe. Baku dagegen festigt zwar seine territoriale Integrität, verliert aber ein wichtiges Druckmittel in künftigen Verhandlungen. Der jahrzehntelange Territorialstreit ist geklärt, wenn auch auf militärischem Weg. Dem Völkerrecht ist damit Genüge getan. Eigentlich könnten Armenien und Aserbaidschan nun auf ruhigere Zeiten hoffen.

Doch davon ist leider nicht auszugehen - denn Baku hat sein wichtigstes Ziel nicht erreicht. Während Berg-Kabarach gerade für die armenische Seite eine hohe symbolische Bedeutung hat, ist die Bergregion bei Lichte betrachtet wirtschaftlich wie strategisch kaum relevant. Viel wichtiger, und das weit über die beiden Staaten hinaus, ist etwas Anderes: Die südarmenische Region Syunik, auf aserbaidschanisch bekannt als “Zangezur”.

Der von Baku angestrebte “Zangezur-Korridor” würde die südwestlich von Armenien gelegene Exklave Nachchivan mit dem Rest Aserbaidschans verbinden. Zu Sowjetzeiten verlief hier eine Bahnlinie, die Jerevan an das Schienennetz anschloss und aufgrund der Nähe der Grenze zum Iran eine hohe strategische Bedeutung hatte.

Die Wiederherstellung dieser Route wäre nicht nur für die wirtschaftliche Entwicklung der Exklave bedeutsam. Es ergäbe sich damit auch eine Landverbindung von Aserbaidschan zum großen Verbündeten Türkei. Und damit potentiell ein türkisch kontrollierter Riegel vom Mittelmeer bis zum Kaspischen Meer, der Ankaras geostrategische Position enorm aufwerten würde.

Syunik als geopolitischer Knotenpunkt

Jerevan hat zwar im November 2020 zugesagt, den Korridor zu öffnen. Allerdings möchte es auf dessen Kontrolle nicht völlig verzichten - mutmaßlich im Hinblick auf ungewollte militärische Transporte. Etwaige Kontrollpunkte könnten aber nicht nur zu Verzögerungen führen, sondern böten Armenien auch die Möglichkeit, die Route aufgrund (tatsächlicher oder angeblicher) Verstöße jederzeit wieder zu sperren. Angesichts der weiterhin spannungsreichen Beziehungen dürfte das eher früher als später geschehen.

Um den “Zangezur-Korridor” dauerhaft und verlässlich (und auch militärisch) nutzen zu können, müsste Aserbaidschan die Region also selbst kontrollieren. Wie auch im Fall Karabachs kursieren Karten, die zeigen sollen, dass die Region historisch “irgendwann einmal aserbaidschanisch” war. Solcherart Propaganda ist zwar politisch-rechtlich belanglos, genügt aber meist, um eine tendenziell nationalistische Bevölkerung zu überzeugen.

Hier liegt der Kern des Konflikts, der sich nicht einvernehmlich lösen lässt. Die Region Syunik kann geostrategisch entweder Teil einer russisch-iranischen Nord-Süd-Achse sein - oder einer türkischen West-Ost-Achse. Beides gleichzeitig ist, spätestens in Krisenzeiten oder wenn es um militärische Belange geht, nicht möglich. Dass Moskau und Teheran die territoriale Integrität Armeniens garantieren, ist wesentlich ihrem Interesse an einer Landverbindung geschuldet, die nicht von Ankara kontrolliert wird.

Ein Krieg um Syunik ist daher absolut denkbar. Es wäre der finale dritte Akt im Kampf um die regionale Neuordnung; die armenische Armee stünde dabei auf verlorenem Posten. Zumindest allein. Aber wer käme ihr zu Hilfe? Die NATO-Staaten würden Krokodilstränen vergießen, sich aber insgeheim über diesen ‘Keil’ zwischen Russland und dem Iran freuen.

Teheran könnte zwar eingreifen, wie schon beim letzten Krieg angedroht - aber was, wenn Jerevan bei einem aserbaidschanischen Einmarsch gar nicht um Unterstützung bitten würde? Armeniens Premierminister Pashinyan strebt seit Langem eine Ablösung von Russland und Hinwendung zur NATO an. Nicht auszuschließen, dass er diese geostrategische 'Mission' über die territoriale Unversehrtheit seines Landes stellen würde.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

smukster

Ich lese und schreibe ab und zu was.Meine Themenschwerpunkte: Geopolitik, globale Wirtschaftsfragen, Europa, Klima und Energie - twitter: smukster

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