Der Krieg ist aus (eigentlich)

Ukraine Seit dem NATO-Gipfel ist der Krieg strategisch entschieden, das Scheitern der Gegenoffensive hat das nur bestätigt. Das Töten und Sterben dürfte jedoch leider noch längere Zeit weitergehen.

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Anfang Juli gab es in Vilnius endlich Klarheit: Die Ukraine wird nicht Mitglied des westlichen Bündnisses. Offenbar haben Washington und Berlin dafür gesorgt, dass offen ausgesprochen wurde, was eigentlich immer bekannt war. Zwar wird eine Aufnahme vage für die Zeit “nach Kriegsende” in Aussicht gestellt, aber das kann sehr lange dauern - siehe Korea. Falls es dann überhaupt noch ein Land namens ‘Ukraine’ gibt.

Die Uneinigkeit zwischen den Mitgliedern war beim Gipfel mit Händen zu greifen. Unmittelbar im Anschluss hielt Biden eine Rede, in der er die “Einigkeit” des Bündnisses betonte - was völlig unnötig wäre, wenn es diese tatsächlich gäbe. Mehr als ein Minimalkonsens (weitere Waffen - die schnell zerstört werden) war nicht drin; F16-Kampfjets kommen frühestens im Frühjahr 2024.

Über die Hintergründe der erfolgten Klarstellung lässt sich trefflich spekulieren. Einen Hinweis gibt die China-Reise von US-Finanzministerin Yellen in den Tagen zuvor: Wurde ihr dort mitgeteilt, unter welchen Bedingungen die Volksrepublik weiterhin bereit ist, den US-Anleihenmarkt zu stabilisieren? Beijing hat definitiv kein Interesse daran, dass sich der bisher regionale Ukraine-Krieg zum europäischen Flächenbrand ausweitet.

Zelenskys Frustration angesichts der Absage seiner “Partner” dürfte umso größer sein, als er bereits Ende März 2022 den Krieg hätte beenden können - also noch bevor dieser “richtig anfing”. Glaubte er ernsthaft, die NATO würde ihre eigenen Erweiterungs-Grundsätze ignorieren, die in der ‘Study on NATO enlargement’ von 1995 schriftlich fixiert sind? Oder wurde er vom Westen (in Person Boris Johnsons, der Kiew Anfang April besuchte) zum Weiterkämpfen gezwungen?

Zeit für Verhandlungen? Schön wär’s.

Klar ist, dass die Ukraine ohne direkte westliche Kriegsbeteiligung militärisch keine Chance hat. Die “Gegenoffensive” war schon aufgrund der russischen Artillerie- und Luftüberlegenheit zum Scheitern verurteilt. Kiews im Schnelldurchlauf ausgebildete Truppen trafen auf Verteidigungsanlagen, für deren Ausbau die Russen über ein Jahr Zeit hatten. Nach über 100 Tagen und geschätzten Verlusten von 75.000 Mann stehen die ukrainischen Einheiten nun vor der ersten von drei Verteidigunslinien - doch ihre Reserven sind aufgebraucht. Die russische Armee hatte offenbar mit “mehr” gerechnet.

Aus Sicht Kiews und seiner Unterstützer sollte jetzt der Zeitpunkt für Verhandlungen sein, bevor noch mehr Territorium verlorengeht. Der Westen ist angesichts ausbleibender Erfolge immer weniger bereit (oder in der Lage), Waffen zu schicken. In Washington richten sich alle Augen auf den beginnenden Vorwahlkampf, und die EU hat mit genug anderen Krisen zu kämpfen. Beide würden das Thema ‘Ukraine’ gerne von den Titelseiten verschwinden sehen.

Ein schneller Waffenstillstand nahe der aktuellen Frontlinie ist jedoch wenig wahrscheinlich. Zum Einen würden die (west-)ukrainischen Nazis das kaum akzeptieren, umso mehr als Kiew (anders als noch vor einem halben Jahr) aus einer Position der Schwäche verhandeln würde. Zum Anderen würde Moskau auf der Neutralität der Rest-Ukraine bestehen - jedoch ist unklar, wie glaubwürdige Garantien aussehen könnten. Da Russland relativ betrachtet militärisch stärker wird, hat es keine Eile und kann in Ruhe sein Minimalziel verfolgen, die Kontrolle des Donbas.

Es ist daher anzunehmen, dass die Kämpfe noch länger andauern werden. Die russische Armee scheint sich auf eine Offensive vorzubereiten, mit neuen (auch nordkoreanischen?) Waffen und den vor einem Jahr mobilisierten 300.000 Soldaten. Diese könnte im November starten, sobald die Böden gefroren sind, oder erst im März/ April, unmittelbar nach den Präsidentschaftswahlen. Gut möglich, dass Putin in deren Vorfeld kein Risiko eingehen will.

Der Kriegsausgang, der von vornherein feststand

Die militärische Entscheidung könnte also im nächsten Sommer fallen, vor der US-Wahl, wenn Biden und die Demokraten keine Eskalation riskieren können. Denkbar ist, dass es vorher ein Angebot für Verhandlungen gibt - freilich zu Moskaus Bedingungen, denn Stand heute hätte die Ukraine einer größeren Offensive (an einer neuen Front) nichts entgegenzusetzen.

Bei Lichte betrachtet war der Ausgang des Krieges (der aus russischer Sicht keiner ist, wofür es durchaus Argumente gibt) immer klar: Die Ukraine wird geteilt, der Konflikt auf unbestimmte Zeit eingefroren - das “Modell Korea”. Die offene Frage war und ist nur, wie lange die Kämpfe andauern, wieviele Menschen sterben und Städte zerstört werden - und wo genau die Demarkationslinie verläuft. Der Dniepr drängt sich als natürliche de-fakto-Grenze geradezu auf, mit einem Sonderstatus für Kiew ähnlich dem Berlins nach 1945.

Russland hätte seine Kernziele erreicht mit dem minimal nötigen Einsatz militärischer Mittel. Insbesondere hat es aus Afghanistan und Tschetschenien gelernt und ist nicht in die ihm bereitete Falle getappt: Die NATO - und besonders London - hätte es nur zu gern gesehen, dass die russische Armee den Großteil der Ukraine besetzt, um sich dann in einem zermürbenden Guerillakrieg wiederzufinden. Bereits vor dem russischen Einmarsch und in den ersten Wochen danach wurden der Ukraine entsprechende hochmobile Waffensysteme geliefert.

Weitreichende Folgen für die Ukraine - und für EUropa

Bei einer Teilung entlang des Dniepr hätte die verbleibende Rumpf-Ukraine höchstens noch 15 Millionen Einwohner - auf über 300.000 km². Sie würde sich zwar politisch dem Westen zuordnen, könnte aufgrund der ungeklärten Territorialfragen aber nicht NATO-Mitglied werden; auch US-Raketenstellungen wären wohl tabu. Dafür böte sich das völlig verarmte, dünn besiedelte Land als ideale Spielwiese für westliche Agrarkonzerne an. Seit das Moratorium für Landverkäufe an Ausländer 2020 aufgehoben wurde, gehen Cargill, DuPont, Monsanto & Co. auf Einkaufstour. Nach Kriegsende dürfte sich das noch erheblich beschleunigen, da die Ukraine zur Bedienung ihrer Schulden auf Einnahmen angewiesen sein wird.

Der größte politisch-strategische Verlierer des Krieges ist die EU. Sie verliert einen wichtigen Handelspartner und gerät dadurch wirtschaftlich, aber auch geostrategisch in eine einseitige Abhängigkeit - aus der sie sich in den letzten Jahrzehnten gerade erst mühsam freigeschwommen hatte. Die Folgen des Krieges werden Europe noch lange beschäftigen: Millionen Geflüchtete, zig-Milliarden an Wiederaufbauhilfe - und nicht zuletzt viele tausend zutiefst frustrierte, traumatisierte heimkehrende Kämpfer als “neue ISIS-Rückkehrer”. Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass zeitweise auch eine direkte Kriegsbeteiligung denkbar schien. Es hätte also für Europa noch sehr viel schlimmer kommen können.

Die USA werden sich diskret zurückziehen und zum Wiederaufbau nicht nennenswert beitragen. Sollte Trump wieder Präsident werden, wird er alle Schuld auf Biden schieben: “Told you so!”. Großbritannien wird sich schon mangels wirtschaftlicher Mittel nicht beteiligen. Sein Kernziel, einen Keil zwischen die EU und Russland zu treiben, hat London erreicht. Ob es ihm auch gelungen ist, den “Continent” so weit zu schwächen, dass er sich seinen (wirtschafts-)politischen Forderungen beugt, bleibt abzuwarten.

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Geschrieben von

smukster

Ich lese und schreibe ab und zu was.Meine Themenschwerpunkte: Geopolitik, globale Wirtschaftsfragen, Europa, Klima und Energie - twitter: smukster

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